Das Altpapier am 22. Mai 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 22. Mai 2023 Warum sind die Leitmedien unsozial?

22. Mai 2023, 11:45 Uhr

Wie Medien über Bildungsungleichheit und Armut berichten. Wie sich Kai Gniffke den Gesundheitsjournalismus in der ARD vorstellt. Wie die Macher der Dokuserie "Juan Carlos - Liebe, Geld, Verrat" unter Druck gerieten. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Das Desinteresse an den Armen

Die Qualität der Berichterstattung über Sozialpolitik und Bildungspolitik gehört nicht zu den Hauptfeldern der Medienkritik, insofern ist es erfreulich, dass sich aktuell gleich zwei Kollegen dem Thema widmen. Anlass ist die Vorstellung der aktuellen Internationalen Grundschullese-Untersuchung (IGLU) in der vergangenen Woche. Caspar Shaller schreibt in der wochentaz:

"(Die IGLU-Studie) (…) hat festgestellt, dass mehr als ein Viertel der Viertklässler in Deutschland nicht auf einem ihrem Alter gerechten Niveau lesen können. Die Meldung schaffte es an dritte Stelle in der 'Tagesschau'. Die Zahl ist seit 2016 rapide gestiegen, von 18,9 Prozent auf 25,4 Prozent (…)"

Die Formulierung "an dritter Stelle" bezieht sich übrigens auf die 20-Uhr-Ausgabe am Tag der Vorstellung des Berichts. Die "Tagesschau", so Shaller, habe, "wie viele andere deutsche Medien", einen sehr einfachen "Erklärungsansatz" präsentiert:

"Die Klassen würden immer 'internationaler', heißt es euphemistisch, man gibt der Migration die Schuld am schlechten Abschneiden. Das Thema Klasse – oder neudeutsch 'soziale Herkunft' – erwähnt die 'Tagesschau' nur am Rande. 'Bildungsfern' lautet da der Euphemismus. Auch hier wird suggeriert: hauptsächlich ein Problem der Ausländer. Aber in anderen westeuropäischen Ländern, etwa den Niederlanden oder dem Vereinigten Königreich, hat ein viel größerer Anteil der Bevölkerung Migrationshintergrund. Trotzdem schneiden sie in der Studie viel besser ab."

Diese Mischung aus bildungsbürgerlichem Dünkel und latentem Rassismus, die Shaller hier kritisiert, habe ich bei dem genannten "Tagesschau"-Beitrag auch als besonders unangenehm empfunden.

Andrej Reisin benennt bei "Übermedien" weitere Schwächen in der Berichterstattung über den IGLU-Bericht:

"Ein zentrales Ergebnis der Studie, das sowohl in der Überschrift als auch der ersten Seite der Pressemitteilung seinen Niederschlag findet, lautet: 'Keine Verbesserung der Bildungsungleichheit in Deutschland'. Nur: Darüber berichten die meisten Medien vergleichsweise wenig – und zum Teil gar nicht. Vor allem die nach wie vor bestehende und trotz aller Sonntagsreden seit zwanzig Jahren unveränderte Diskriminierung von sogenannten 'Arbeiterkindern', worunter in Deutschland zu nicht unerheblichen Anteilen auch solche mit Migrationshintergrund fallen, interessiert deutsche Leitmedien maximal am Rande.

Gut weg kommt in Reisins Text zum Beispiel die Berichterstattung der "Berliner Morgenpost", schlecht dagegen der Beitrag von dpa:

"Im letzten von immerhin zwölf Absätzen zur Studie heißt es lapidar: 'Der altbekannte Befund aus anderen Studien wird auch in dieser Untersuchung bestätigt: Kinder aus privilegierten Elternhäusern haben größere Chancen auf Bildungserfolg als andere Kinder.' Dies entspricht nun gerade nicht dem Studienergebnis, das diese Tatsache keinesfalls als unabänderlich ansieht, sondern explizit auf andere Länder verweist, die es deutlich besser machen. Zudem signalisiert dpa-Korrespondent Jörg Ratzsch seinen medialen Kunden bereits mit der Positionierung und seiner Einordnung 'altbekannt', dass dies eher nicht der relevante Teil der Ergebnisse zu sein scheint. Diese en-passant-Wertung wird dann auch weitgehend übernommen.

taz-Redakteur Caspar Shaller greift in seinem Text noch einen vergleichbaren, weil auf einer ähnlichen Haltung basierenden Berichterstattungsmangel auf:

"Eine Meldung von Dienstag schaffte es nicht in die 'Tagesschau', sie schaffte es auf kaum eine Titelseite: Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden hat errechnet, dass mehr als jede fünfte Person in Deutschland von Armut betroffen ist oder droht, in sie abzurutschen. Stellen Sie sich vor: 20,9 Prozent der Bevölkerung Deutschlands, das sind mehr als 17 Millionen Menschen, fast so viele, wie in ganz Nordrhein-Westfalen leben (…) Was wir gerade erleben, ist ein Erbeben der Armut. Und wir schweigen."

Ein Grund dafür, dass "wir" schweigen: Die meisten Leute, die im Politikjournalismus etwas zu melden haben, fühlen sich jener gesellschaftlichen Gruppe nahe, die man früher mal "herrschende Klasse" genannt hat und die ja letztlich verantwortlich für das aktuelle "Erdbeben" ist. Außerdem sind Arme keine (potenziellen) Abo-Kunden.

Fusion bedeutet Verlust

"ARD-Reform" lautet der diesmonatige Themenschwerpunkt der Altpapier-Dachredaktion MEDIEN360G, und für einen Text für dieses Special hat mein Kollege Klaus Raab unter anderem Äußerungen von Kai Gniffke sowie von Hubert Krech, dem Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Redakteursausschüsse (AGRA), aufgegriffen:

"Ein zentraler Vorschlag des ARD-Vorsitzenden Kai Gniffke ist, dass die neun Landesrundfunkanstalten stärker zusammenarbeiten. Es gibt zum Beispiel mehrere öffentlich-rechtliche Gesundheitsmagazine, die unabhängig voneinander produziert werden, etwa beim SWR, beim NDR und beim MDR. Gniffke sagt, Kniebeschwerden seien 'in Kiel genauso unangenehm wie in Konstanz', in diesem Bereich gebe es kaum klare regionale Bezüge. Er argumentiert für Gemeinschaftsredaktionen an einem zentralen Standort, wo ein Magazin für alle ARD-Anstalten produziert wird."

Hubert Krech nennt Gemeinschaftsredaktionen dagegen als Beispiel dafür, wie man nicht reformieren sollte. Klaus dazu:

"Krech (…), sagt, (diese) würden einen Kern der Landesrundfunkanstalten bedrohen. Die ARD habe große Verantwortung im Regionalen. Auch für seine Perspektive gibt es gute Argumente. Wenn sich etwa ein Podcast des MDR mit der Frage befasst, woher ein schwarzes Loch kommt, dann ist das Thema zwar ganz und gar nicht regional. Ob die Antwort aber von einem Wissenschaftler aus Magdeburg oder aus Köln kommt, kann selbst in einem solchen Fall ein Unterschied sein, weil jede Forschungseinrichtung verschiedene Perspektiven auch auf überregionale Sachverhalte vertreten kann."

Mit der schnoddrigen Formulierung, Kniebeschwerden seien "in Kiel genauso unangenehm wie in Konstanz", kann Kai Gniffke bestimmt für fünf Minuten die eine oder andere Landtagsauschuss-Sitzung rocken, aber mir scheint Gesundheitsjournalismus ein eher schlechtes Beispiel dafür zu sein, dass sich eine Gemeinschaftsredaktion aufdrängt: Jemand, der Kniebeschwerden hat, will möglicherweise wissen, welche Kliniken neue Behandlungsmethoden anbieten, welche Kliniken zu überflüssigen Operationen neigen und Ähnliches. Und da ein kniekranker Kieler für eine Behandlung vermutlich nicht nach Konstanz reisen will, ist hier eine regionaljournalistische Herangehensweise gefragt.

True-Crime-Geschichten sollten die Opfer in den Fokus nehmen

Was darf True Crime? - dieser Frage widmet sich Isabella Caldart in einem Essay für "54 books". Sie schreibt:

"Die meisten True-Crime-Formate interessieren sich primär für Verbrechen an weißen, gut situierten jungen Frauen, die perfekten Opfer sozusagen. Das wirft unweigerlich eine Frage auf: Kann True Crime überhaupt ethisch sein?"

Die Antwort nennen wir hier jetzt nicht - wir wollen ja nicht spoilern -, aber dafür ein paar generelle Regeln, die Caldart formuliert:

"Ob als Dokumentation oder fiktionalisiert in Film und Serie, wird deutlich: Will man auf ethische Weise wahre Verbrechen beschreiben, könnte man als ersten Grundsatz festlegen, dies nicht reißerisch zu tun – dem folgt etwa 'Dahmer'. Aber eine nüchternere Erzählweise ist nicht genug. Relevant ist, das oder die Opfer in den Fokus zu nehmen, um dem Publikum zu verdeutlichen, welche Auswirkungen die Verbrechen für die Hinterbliebenen (und Überlebenden, wenn es sie gibt) haben. Sprich: Die Geschichte sollte nicht aus der Sicht des Täters erzählt werden, was dazu einlädt, sich mit ihm zu identifizieren und oft auch mit ihm zu sympathisieren. Und um angemessen von den Konsequenzen der Taten zu berichten, ist es auch unerlässlich, die Opfer selbst in den Entstehungsprozess des Werkes einzubinden."

Juan Carlos - die Doku hinter der Doku

Zu der am Freitag hier schon erwähnten Politthriller-Dokuserie "Juan Carlos - Liebe, Geld, Verrat" über das fragwürdige Finanzgebaren des spanischen Ex-Königs sind weitere Texte erschienen. "Fesselnder Flow" und "gleitet nicht in royalen Kitsch ab" lauten zwei Einschätzungen des "Tagesspiegel", und "Spiegel"-Rezensentin Anja Rützel meint:

"Die 'House of Cards'-mäßige Aufmachung, der Titelvorspann, in dem sich ein Löwe gemächlich die Tatzen schleckt, bevor Goldbarren, Pistolen und brennende Geldscheine ins Bild gerückt werden, aalt sich in der epischen Dimension des schwer durchdringlichen königlichen Skandalbatzens aus Schmiergeldzahlungen, Steuerhinterziehungs-Vorwürfen und undurchsichtigen Offshore-Konstrukten."

Da die Macher darauf verzichten, die Äußerungen der mehr als zwei Dutzend in der Serie zu Wort kommenden Gesprächspartner in Textform zu kommentieren, muss der Zuschauende "am Ende für sich selbst entscheiden (…), aus welchen der rapportierten Elemente man am Ende seine eigene Geschichte zusammenbauen möchte", schreibt Rützel, und das sei, "trotz zweifellos schillernder Charaktere und interessanter Interview-Interieurs, oft mühsam." Dass den Zuschauenden dieser Serie Entscheidungen überlassen werden, halte ich ja eher für eine ihrer großen Stärken.

Zu kurz kommen mir bisher noch jene Aspekte, die sich mit dem Schlagwort "Doku hinter der Doku" zusammenfassen ließen. Produzent und Co-Autor Christian Beetz berichtet von Drohanrufen bereits in der Frühphase der Dreharbeiten. Er habe das zunächst "gar nicht ernst genommen", aber das änderte sich, als die Website der Produktionsfirma "aus dem Netz gehackt", Mails ausgelesen und "Rechnungen verändert" wurden. Man habe während der weiteren Arbeit an der Serie die Kommunikation dann auf Proton, also verschlüsselte Mails, und Signal umgestellt, und "wir haben uns mit Sky nur noch ohne Handys getroffen".

Die Website der Firma, so Beetz, sei "immer noch nicht wieder vollständig, da ist nur eine Auswahl an Filmen drauf. Wir haben gar nicht die Kraft und die Ressourcen, das nebenbei wieder aufzubauen".

Die wohl krasseste Erfahrung beschreibt Beetz so:

"Ich bin über LinkedIn von einer luxemburgischen Investmentfirma kontaktiert worden, die laut Website über 100 Angestellte hatte und in Medien investieren wollte. Wir haben zig-mal telefoniert. Die Summe, die sie investieren wollten, wuchs ständig und wurde irgendwann so abstrus, dass wir wussten, dass da etwas faul ist. Hinzu kam, dass sie uns nie in unserem Büro in Berlin oder in Luxemburg treffen wollten, sondern an einem belgisch-luxemburgischen Grenzbahnhof oder an ähnlich ungewöhnlichen Orten."

Von Sicherheitsleuten habe man dann erfahren, "dass die Website zwei Wochen, bevor sie mich kontaktiert haben, aufgesetzt und für ein Social-Media-Profil zum Beispiel das Foto eines Frankfurter CDU-Politikers genutzt worden war". Es sei in so einer Situation natürlich "psychisch belastend", nicht zu wissen, mit wem genau man es da zu tun habe.

Was könnte eine Erklärung dafür sein, dass die Firma während der Dreharbeiten unter Druck geriet? Es gebe, so Beetz, "eine Verflechtung zwischen Wirtschaft, Politik und Königshaus in Spanien", und von der Vetternwirtschaft hätten "mächtige Leute" profitiert, die nun "viel verlieren können".


Altpapierkorb (die "Hitler-Tagebücher" und die Motivation der Verlagsmanager, Freispruch im Mordfall Kuciak, Berichterstattungs-Behinderung durch OLG Frankfurt)

+++ Zweifel an der von Magnus Brechtken, dem stellvertretenden Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, vertretenen These, dass der Ankauf und die Veröffentlichung der "Hitler-Tagebücher" vor 40 Jahren bei G+J und Bertelsmann "nicht ideologisch motiviert" war, hatte Thomas Schuler bereits bei "Übermedien" und in der aktuellen Ausgabe des "Medium Magazins" artikuliert. Gemeinsam mit Steffen Grimberg tut er es nun auch in der wochentaz.

+++ Freispruch für, den als Auftraggeber des Mordes an Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírovár angeklagten, Marian Kočner: Dem "Spezialgericht im westslowakischen Pezinok" hätten, so die taz, zwar Threema-Nachrichten vorgelegen, "aus denen zwar einiges über die mafiösen Verstrickungen Kočners hervor (ging), die bis nach ganz oben reichten: Wegen seiner Verbindungen zu Kočner mussten Ministerpräsident Robert Fico und Innenminister Robert Kaliňak schon wenige Wochen nach dem Kuciak-Mord zurücktreten. Auch lieferten die Nachrichten Anzeichen für einen leichten Größenwahn Kočners, der sich an dem Journalisten Kuciak festgebissen hatte. Allein im Jahr vor seiner Ermordung hatte Kuciak mehrere schmutzige Geschäfte Kočners aufgedeckt, darunter Steuerhinterziehung, Korruption und Dokumentenfälschung. Einen klaren Beweis, dass Kočner den Mord tatsächlich in Auftrag gegeben hatte, konnte die Anklage aber bis heute nicht liefern." Das ND meint: "Das Urteil zugunsten von Kočner ist (…) noch nicht rechtskräftig. (Die) Richterin (…) erklärte, es 'sei dem Angeklagten nicht zweifelsfrei nachgewiesen worden, dass er die Taten in Auftrag gegeben hatte'. Man kann dies durchaus als Freispruch zweiter Klasse bewerten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Nebenklage und die Staatsanwaltschaft erneut vor dem Obersten Gericht Einspruch erheben werden." Der Dokumentarfilm "Tödliche Recherchen: Der Mord an Ján Kuciak" steht übrigens weiterhin in der ARD-Mediathek.

+++ Inwiefern das Oberlandesgericht Frankfurt/Main die Arbeit von Journalisten behindert, beschreibt Jochen Zenthöfer auf der Medienseite der Samstags-FAZ: "Bei mindestens 147 Entscheidungen der letzten Jahre wird Journalisten zwar das Aktenzeichen des Oberlandesgerichts mitgeteilt, aber nicht das Aktenzeichen der Vorinstanz. Dies betrifft vor allem Verfahren aus dem Familienrecht und dem Strafrecht (…) Bei bislang mindestens 60 Entscheidungen wird sogar der Ort des erst­instanzlichen Gerichts verschwiegen."

Das Altpapier am Dienstag kommt vom Autor der heutigen Kolumne.

Mehr vom Altpapier

Kontakt