Das Altpapier am 16. Mai 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 16. Mai 2023 Kompliziert und spannend

16. Mai 2023, 10:43 Uhr

Der Presserat schaltet sich in die Auseinandersetzungen rund um Springer ein. Die Presseverlage und die Öffentlich-Rechtlichen streiten wieder wie anno 2018. Die wichtigste deutsche Medienpolitikerin hält Deutschlands Medienpolitik für vorbildlich (und die EU für einen "Kompetenzstaubsauger"). Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Springer, Reichelt, Presserat, "Zeit"

Ja, ist das "Handelsblatt" eigentlich das Gerichts- oder Anwälteblatt? Zumindest werden Juristen ganz schön hofiert. Von den "wohl bekanntesten deutschen Strafrechtlern" ist da etwa die Rede, von einer "Topkanzlei", einer "Ikone der Anwaltsszene", einer "Größe im deutschen Strafrecht"... In dem Artikel geht es um die Klage-Lage in den gerade erst anlaufenden arbeits-, straf- und zivilrechtlichen Auseinandersetzungen zwischen dem Springer-Konzern und Julian Reichelt, seinem ehemals führenden journalistischen Mitarbeiter.

Die von Springer beauftragte "Ikone" erzielte bereits einen strafrechtlichen Erfolg: Die von ihr formulierte Anzeige gegen Reichelt überzeugte die Staatsanwaltschaft Berlin von einem Anfangsverdacht. "Die Ermittlungen werden mindestens ein Vierteljahr in Anspruch nehmen", zitiert das "Handelsblatt". Heißt: Bis tief in den Sommer bleibt Medienmedien-Entertainment garantiert. Die gegnerische Reichelt-Seite kündigt einstweilen nochmals wieder "rechtliche Schritte" "auch in den USA" (wo es vor Gericht ja noch heißer und teurer zugeht als hierzulande) an. Und verschickt weiterhin Post etwa an den "Spiegel" und den "Stern"-Preis mit Durchschlag etwa an die "FAZ", die heute auf ihrer prallvollen Medienseite die Ansicht unterbringt, dass einem preisgekrönten "Spiegel"-Artikel zur Reichelt-Sache eine "unwahre Aussage", die "auch gar nicht zu den Akten der Compliance-Untersuchung" des Springer-Verlags gegen Reichelt 2021 genommen wurde, zugrundeliege.

Wer in einer nicht unüberraschenden Volte außerdem noch in die komplizierte Gemengelage einzusteigen ankündigt: der Deutsche Presserat. Dieser Rat ist bekanntlich kein Gericht. Er kann nichts anderes aussprechen als Rügen, die Gerügte theoretisch in ihren Medien veröffentlichen müssen, was sie aber auch bleiben lassen können. Wobei interessierte Ungerügte die Rügen ebenfalls veröffentlichen können, also Berichterstattungs-Stoff erhalten. Der Presserat kündigte die Einleitung eines Beschwerdeverfahrens gegen "Die Zeit" ein, und zwar wegen deren teilweiser Veröffentlichung von "geleakten Chats von Springer-Chef Döpfner". Also um die in der Branche bereits andiskutierte Frage geht es, ob solche privat verschickten Nachrichten überhaupt veröffentlicht werden dürfen. Als eine Quelle der vor gut einem Monat (Altpapier) in der "Zeit" teilweise veröffentlichten Mitteilungen wird Julian Reichelt vermutet. Dass dieser Medien privates Material anbietet, kann geradezu als gesichert gelten, seitdem der "Berliner Zeitungs"-Verleger Holger Friedrich öffentlich machte, dass Reichelt auch ihm und seiner Zeitung solches Material anbot. Friedrichs Schritt, einen Informanten, der sämtlichen Gepflogenheit zufolge Schutz verdiente, zu verpfeifen, wurde fast noch mehr diskutiert (Altpapier). Dieses Thema will der Presserat in derselben Sitzung am 15. Juni auch behandeln.

Das wird spannend, und es wird kompliziert, erst recht für die Mehrheit in den Medien, die ungefähr alle von den Genannten zu den Bösen zählt.

Verlage gegen Anstalten im Internet

Wow, ein "historischer Moment in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland". Mit dieser Aussage aus dem Jahre 2018 zitiert Volker Nünning bei medieninsider.com Sachsen-Anhalts Ministerpräsidenten Haseloff. Da lag Haseloff falsch, lässt sich inzwischen sagen. Was er vor fünf Jahren damit meinte: die von der Medienpolitik, also den Bundesländer-Ministerpräsidenten, angetriebene Einigung zwischen ARD und ZDF und Presseverlagen, "was die öffentlich-rechtlichen Sender zukünftig im Internet dürfen" ("SZ" 2018).

Die Einigung scheint passé. Fast überall in Deutschland liegen regionale Presseverlage mit den jeweiligen ARD-Anstalten wieder im Streit, zeigt Nünnings Überblick. Nach Ansicht der Verlage bringen die Internetauftritte der Sender doch wieder mehr Text als sie sollten und dürfen. In Hamburg etwa taten sich die grundverschiedenen Lokalrivalen "Hamburger Abendblatt" und "Hamburger Morgenpost" mit Springers "Welt" (die auch noch eine Hamburg-Ausgabe hat) zusammen, um Vorwürfe gegen den NDR zu erheben. "Mopo"-Verleger Arist von Harpe argumentiert, "dass der NDR seine Beiträge selbst als 'meistgelesene Artikel' bezeichnet" (was sich tagesaktuell auf ndr.de nicht finden lässt). "Existenzgefährdend wird es für uns dadurch, dass der NDR offenbar zunehmend Inhalte für Google optimiert", argumentiert Christian Siebert vom "Abendblatt". Wenn in der ARD-Rhetorik einerseits inzwischen, zurecht (freilich auch, um zusätzlichen Finanzbedarf bewilligt zu bekommen), das Ideal der Unabhängigkeit von internationalen Medienplattformen ausgerufen wird, andererseits aber Rundfunkbeitrags-Einnahmen für Google-Optimierung, also für noch erhöhte Datenkraken-Abhängigkeit eingesetzt werden, wäre das in der Tat ein Aufreger.

Ähnliche Streitigkeiten herrschen auch bei Radio Bremen, BR und SWR sowie unserem MDR. Z.B. fürchtet Marco Fehrecke von der Mediengruppe Magdeburg (bei der es sich um eine Tochter des Bauer-Verlags handelt, dem die meisten Lokalzeitungen in Haseloffs Bundesland gehören), dass die Politik an der Einigung von 2018 gar nicht mehr sehr interessiert sei: "Vielmehr wollen die Länder von den öffentlich-rechtlichen Sendern, dass sie bei ihrem Digitalumbau ihre 'Regionalität, Pluralität und journalistisch-publizistische Qualität' erhöhen". Was aus Beitragszahlersicht ja auch schön, bloß für Verlage doof wäre.

Auch bei diesem Thema schwingt vieles mit. Medieninsider.com erwähnt "steigende Papier- und Zustellkosten", den "Kampf im Werbemarkt" vor allem gegen die übermächtigen Google und Facebook sowie die Inflation. Fast überall im Medien-Bereich sinken die Einnahmen, die überall (außer beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk) nötig sind, um Inhalte zu finanzieren. Aktuelle Beispiele beschreibt dwdl.de etwa aus dem "Haus der selbst verordneten Fröhlichkeit", dem Disney-Konzern. Da die Abonnentenzahl des Streamingdiensts "um vier Millionen gesunken ist " und die Idee, mit immer noch mehr Aufblähungen von "Star Wars"- und Marvel-Ideen global zahlendes Publikum zu gewinnen, ihren Höhepunkt vielleicht schon überschritten hat, wird entlassen (Personal) und eingestellt (Projekte). Beim werbefinanzierten Fernsehen wiederum liegt in Deutschland das Minus viel höher als in anderen Ländern. Heißt jeweils auch: Die Öffentlich-Rechtlichen müssen sich sehr genau überlegen und möglichst transparent erklären, wofür (und damit: gegen welche Konkurrenten um die Aufmerksamkeit desselben Publikums) sie ihre sehr sicheren Einnahmen einsetzen, und wofür nicht.

Digitalradio bleibt egal

Falls Sie statt solcher Kinkerlitzchen wirklich komplexen Stoff in schriftlichen Texten, die für fast jede gedruckte Zeitung zu lang wären, bevorzugen: Noch komplizierter als bislang schon geht's natürlich auch. Damit zu Fragen der Radio-Digitalisierung. Dazu schrieb nochmals Autor Nünnung, nun frei online bei "epd medien"

Verkürzt zusammengefasst, gibt es derzeit drei unterschiedliche Wege, Radio zu empfangen: erstens via Internet per Streaming (was digital funktioniert und in jedem Fall mehr Energie verbraucht als über Antennen Gesendetes zu hören). Zweitens echtes Digitalradio; da heißt der Standard derzeit DAB+/DABplus. Drittens über UKW; da handelt es sich um die letzte nicht-digitale Verbreitungsform eines elektronischen Massenmediums. Wie die Anteile sich verteilen, liegt im Auge der Betrachter:

"Als 'Erfolgsgeschichte' bezeichnen die Landesmedienanstalten die Entwicklung des DABplus-Standards, der 2011 eingeführt wurde und die seit 1995 existierende DAB-Technik ersetzte. In den 'Audio Trends 2022' heißt es: 'In nur zehn Jahren hat sich die Zahl der Haushalte mit DABplus-Empfängern versiebenfacht. 12,6 Mio Haushalte verfügen mittlerweile über mindestens ein DAB-Radiogerät, das entspricht knapp einem Drittel der Haushalte in Deutschland.' Man könnte aber auch andersherum fragen, warum es nach zehn Jahren erst 30,8 Prozent der Haushalte sind, die Zugang zu DABplus haben",

zumal der Vorgänger-Standard in anderthalb Jahrzehnten zuvor ja auch schon durch die Luft waberte.

Dazu haben viele Akteure und Interessenvertretungen unterschiedliche Ansichten und jeweils ihre Gründe. Die Öffentlich-Rechtlichen, die allein für die Jahre 2020 bis 2024 über 400 Millionen Euro zur gleichzeitigen Verbreitung ihrer Programme über alle Wege bewilligt bekamen, äußern das nice "Anliegen, unseren Hörerinnen und Hörern, Nutzerinnen und Nutzern ihre Angebote auf dem von ihnen primär genutzten Weg zur Verfügung zu stellen". Heißt: Ist ihnen egal, solange ihre Einnahmen fließen. Das ärgert natürlich die Privatsender, die ihre Kosten für Digitalverbreitung selber einspielen müssten und jeden Marktanteils-Verlust fürchten. Manche verlangen weiterhin, dass die Medienpolitik ein Datum festlegt, zu dem UKW abgeschaltet wird, um die digitale Alternative durchzusetzen. Andere fürchten, das "wäre ... eher ein Booster für Alexa", also für den Datenkraken Amazon, als fürs Digitalradio. Hier also könnte die Medienpolitik wirklich Weichen stellen, durch direkte Entscheidungen sowie indirekt (durch ihren Einfluss in den öffentlich-rechtlichen Anstalten). Zur Frage, was sie denn plant, schreibt Nünning:

"Einen konkreten Plan aller Beteiligten dazu, zu welchen Zeitpunkten welche Maßnahmen greifen, um die Digitalisierung im Hörfunk voranzubringen, scheint es derzeit nicht zu geben. Wenn es ihn geben sollte, ist er zumindest nicht öffentlich bekannt. Die zuständigen Bundesländer scheinen bei ihrer Medienpolitik dem Radio insgesamt schon seit längerem keine Priorität mehr beizumessen."

Bundesländer-Medienpolitik vs. EU-Medienpolitik

Ja, hat die Medienpolitik denn überhaupt Prioritäten (außer natürlich, den jeweiligen Ministerpräsidenten und -präsidentinnen möglichst die Wiederwahl zu sichern)? Doch, schon, zeigt sich heute auf der "FAZ"-Medienseite. Zumindest schrieb dafür Heike Raab von der SPD, die als u.v.a. für Medien zuständige Staatssekretärin von Rheinland-Pfalz die wohl wichtigste deutsche Medienpolitikerin ist, einen vergleichsweise kraftvollen Gastbeitrag.

Sie beklagt "europaweite Desinformation zu den angeblichen Motiven und Zielen Deutschlands in der Medienpolitik". Da geht es um Kritik an der deutschen Kritik am umstrittenen Europäischen Medienfreiheitsgesetz, das unter seiner englischsprachigen Abkürzung EMFA hier schon öfters vorkam.

"Wir wollen ein besseres Europäisches Medienfreiheitsgesetz", lautet die Überschrift. Raab kritisiert also die bislang zirkulierenden Entwürfe. Recht deutlich nennt sie Deutschland als medienpolitisches Vorbild, als "Garant für Vielfalt und Pluralismus", und kritisiert die EU als "Kompetenzstaubsauger" in Bereichen, die eigentlich in die Zuständigkeit der EU-Mitgliedsstaaten fallen ("Medien sind eben kein allein dem Binnenmarkt unterworfenes Wirtschaftsgut.")

Das sind zumindest mal kraftvollere Worte als Raab sie sonst wählt, wenn sie die zähflüssigen Kleinste-Nenner-Bemühungen der Medienpolitik vor diesen und jenen Publika schönredet. Und tatsächlich: Ob die hardcore-föderalistische EU der von der Leyen-Ära, die zwar jede Menge oft schöne Ambitionen formuliert, aber bislang noch keinen Beweis dafür erbrachte, dass sie welche davon auf Dauer umsetzen kann, in der Lage ist, weniger schlechte Medienpolitik zu betreiben als die genauso föderalistischen deutschen Bundesländer, deren medienpolitische Ideen immerhin seit Jahrzehnten organisch verkrusten – das wird durchaus spannend.


Altpapierkorb (Böhmermann/Schönbohm, NDR/ESC, Diekmann/Wallraf,  Computerspielpreis)

+++ Vom multiplen Entertainer und Grimme-Preisträger Jan Böhmermann war gestern hier die Rede, weil er sich am Rande des ESC-Musikwettbewerbs engagiert hatte. Was auch Erwähnung verdient: dass die öffentlichkeitswirksam in einer Böhmermann-Show im vorigen Herbst (Altpapier) erhobenen Vorwürfe gegen den damaligen Chef des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik, Arne Schönbohm, nicht zutrafen. Das teilte das Bundesinnenministerium, das Schönbohm daraufhin bald freistellte, nach einem halben Jahr Prüfung "Business Insider" mit. Naja, Schönbohm bekam einen anderen, hochdotierten Posten, und dem ZDF wird es kaum schaden, Innenministerin Faeser, deren Parteifreundin Malu Dreyer ja dem ZDF-Verwaltungsrat vorsitzt, einen Gefallen getan zu haben. +++

+++ Konsequenz kann eine Tugend sein. Wenn Aurelie von Blazekovic auf der "SZ"-Medienseite aber schreibt "Seit 27 Jahren wirtschaftet der NDR den ESC konsequent herunter", ist das aber nicht lobend gemeint. Da es der ARD offensichtlich nicht gelingt, dem NDR die Zuständigkeit für den Schlager-Wettbewerb zu entreißen, müssten sich vielleicht mal die Ministerpräsidenten-Konferenz des Themas annehmen. +++

+++ Leonhard Dobusch zählt zu den nicht aus der Politik nominierten Mitgliedern im ZDF-Verwaltungsrat. Nun befragt er für seine netzpolitik.org-Reihe Lorenz Tripp, der für seine Abschlussarbeit an der Uni Graz internationale "Social-Media-Guidelines von öffentlich-rechtlichen Medien", nämlich von WDR, ORF, SRG und BBC, verglichen hat. +++

+++ "Wer es noch nicht wusste, erkennt hier: [Günter] Wallraff und Diekmann sind sich in ihrem manischen Enthüllungsdrang sehr ähnlich" und "Was früher 'Bild' war, sind heute 'Spiegel', Böhmermann und Reschke": So lauten zwei wunderliche Sätze aus Michael Hanfelds Besprechung des Kai-Diekmann-Buchs "Ich war Bild". Sie steht heute auf der Seite 2 des "FAZ"-Feuilletons, weil auf der wie gesagt prallvollen Medienseite dann noch Jürg Altwegg recht insiderisch-schweizerisch das von Roger Schawinski im Selbstverlag veröffentlichte Buch "Anuschka und Finn" als "Schnellschuss" verreißt. +++

+++ "Die wichtigste Nachricht vom Deutschen Computerspielpreis: Katrin Bauerfeind und Uke Bosse haben gut moderiert" und sich dadurch von Allzweckwaffe Barbara Schöneberger und ARD-Talent Ina Müller, die den Job in Vorjahren übernommen hatten, unterschieden. So beginnt die lesenswerte "FAS"-Besprechung der Veranstaltung, die ein weiteres medienökonomisch schwieriges Feld beackert ("Ein Preis für die besten deutschen Spiele kann sich nur aus den Veröffentlichungen bedienen, die da sind"). Ein Staatssekretär aus Robert Habecks Wirtschaftsministerium taucht auch noch darin auf... +++

Das nächste Altpapier erscheint am Mittwoch vom selben Autor.

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