Kolumne: Das Altpapier am 11. Mai 2023 Wie viele Krimis braucht das Land?
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11. Mai 2023, 11:09 Uhr
In der "Zeit" streitet sich die ARD-Programmchefin mit Reiner "Der Beitrag darf nicht steigen" Haseloff über die öffentlich-rechtliche Krimi-Quote. Cliffhanger: Einer von beiden outet sich als Silbereisen-Fan. Die Medienthemen des Tages kommentiert Annika Schneider.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
First things first
Die Themenreihenfolge dieses Altpapiers entspricht nicht unbedingt der Gewichtung auf den Medien(web)seiten, aber es gibt aus meiner Sicht gute Gründe dafür.
- Ganz wichtig: Ein 32-jähriger Kriegsberichterstatter ist bei seiner Arbeit ermordet worden, ein weiterer Journalistentod harrt der Aufklärung.
- Auch wichtig: Ein Medienpolitiker und eine öffentlich-rechtliche Programmmacherin diskutieren darüber, wie es mit dem Rundfunkbeitrag weitergeht.
- Ebenfalls wichtig: Ein journalistisches Projekt beschreitet neue Wege, um Einblicke in die Welt deutscher Rechtsradikaler zu geben.
- Und dann erscheint heute auch noch das Buch von Ex-"Bild"-Chef Kai Diekmann.
Arman Soldin getötet
In der Nähe von Bachmut ist am Dienstag ein französischer Videojournalist von russischen Raketen getroffen und getötet worden. Arman Soldin war Kriegsberichterstatter für AFP und ist der achte getötete Journalist in der Ukraine, wie RND unter Berufung auf Reporter ohne Grenzen schreibt – die taz nennt ihn unter Berufung auf die gleiche Quelle den elften getöteten Medienschaffenden, für die FAZ ist es der zehnte.
Er sei einer der ersten Reporter gewesen, die sich nach dem russischen Angriff auf die Ukraine gemeldet hätten, schreibt Anna Vollmer in der FAZ. Im taz-Text von Barbara Oertel erfahren wir mehr über Arman Soldin:
"Kollegen zufolge, die die französische Zeitung Le Monde zitiert, habe es Soldin wie kaum ein anderer vermocht, vom Leben ganz gewöhnlicher Menschen zu erzählen, die vom Krieg betroffen gewesen seien und verzweifelt versucht hätten, in dem Chaos zu überleben. Anfang Mai erregte Soldin mit einer Geschichte der besonderen Art Aufsehen: In einem Graben fand er einen verletzten Igel, nahm ihn an sich und pflegte ihn gesund."
Viele Fragen zu Shirin Abu Aklehs Tod
Anderes Land, anderer Journalistenmord: Heute jährt sich der Tod der Al-Jazeera-Ikone Shirin Abu Akleh, die 2022 in Palästina erschossen wurde. Über die schleppende Aufarbeitung schreiben Lucca Pizzato in der taz und Peter Münch in der SZ. Die Titel der beiden Texte fassen den aktuellen Stand gut zusammen. "Keine Konsequenzen" heißt es in der SZ, während die taz fragt: "Kreuzfeuer oder gezielte Tötung?" Peter Münch schreibt:
"Im zurückliegenden Jahr seit ihrem Tod haben sich auf zwei Seiten zwei Narrative verfestigt: Abu Aklehs Familie, ihr Arbeitgeber Al Jazeera sowie die palästinensische Autonomiebehörde sprechen von einem kaltblütigen Mord und berufen sich dabei auf Zeugenaussagen sowie etwa auf den US-Fernsehsender CNN, dessen Nachforschungen nahelegen, sie sei gezielt von einem israelischen Militärangehörigen erschossen worden. Israels Armee dagegen legte einen ziemlich langen und kurvenreichen Weg zurück bis zum Eingeständnis im vorigen September, dass die tödliche Kugel 'mit hoher Wahrscheinlichkeit', aber in jedem Fall 'unabsichtlich' von einem Soldaten abgefeuert wurde."
Haseloff und Strobl streiten über die ARD-Mordrate
In der aktuellen Ausgabe der "Zeit" zu finden ist ein Streitgespräch zwischen dem Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff (siehe unter anderem dieses Altpapier), und der ARD-Programmdirektorin Christine Strobl. "Der Beitrag darf nicht steigen", fordert der CDU-Politiker Haseloff darin erneut und beruft sich gleich zu Beginn des Gesprächs auf die vielen Rundfunkbeitragsgeplagten, die er hinter sich wähnt:
"Allein in Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen gibt es rund 350.000 säumige Beitragszahler, darunter viele Verweigerer. Wir müssen aufpassen, dass diese Stimmungslage gegen die Anstalten irgendwann nicht mehr beherrschbar ist."
Was er später im Gespräch sagt, klingt dann weniger nach Appell als nach unverhohlener Drohung:
"Wenn jetzt höhere Beiträge gefordert werden, werden die Parlamente das nicht mittragen. Am Ende landen wir wieder vorm Verfassungsgericht."
Christine Strobl bleibt die Aufgabe, mehr oder weniger dezent auf das gesetzlich festgelegte Verfahren zu verweisen, also auf die Arbeit der Beitragskommission KEF:
"Sie kann am besten beurteilen, was wir geschafft haben, was fehlt und ob unser Wunsch angemessen ist. Ich bin Fan von unabhängigen Gutachtern."
Haseloff wiederum outet sich im Gespräch als Fan von Florian Silbereisen. Er wünscht sich von den Sendern aber trotzdem, dass sie vor allem an der Unterhaltung sparen und nicht versuchen, mit den großen US-Streamingdiensten zu konkurrieren – die Christine Strobl schon allein deshalb als Konkurrenz sieht, weil sich Menschen in Deutschland eben jeden Abend wieder zwischen Netflix und der ARD-Mediathek entscheiden müssen.
Schön ist die Idee der Interviewer, Anne Hähnig und Martin Machowecz, die beiden Streitenden mit dem ARD-Programm des Tages zu konfrontieren. Wenn doch die Rundfunkdebatte öfter so konkret werden würde!
Anonymisierung im Gaming-Look
Brutale Gewalt – aber die echte, nicht die aus Krimis – ist auch das Thema eines ZDF-Projekts, das generell hochrelevant, an dieser Stelle aber vor allem wegen seiner innovativen Optik Thema ist. Die dreiteilige Doku "Geständnisse eines Neonazis" bietet alarmierende Einblicke in die Welt deutscher Rechtsradikaler – wie sie Kinder in Zeltlagern indoktrinieren und Jugendliche zu Gewalt erziehen, wie sie Waffen sammeln und über Grenzen schmuggeln, wie sie schießen üben und sich auf die Machtübernahme vorbereiten. Quelle ist ein anonymer Informant, der in der Szene aufgewachsen ist und ihr nach mehr als 20 Jahren aktiver Unterstützung nun den Rücken gekehrt haben will.
Der Grund, warum ich diese Dokureihe hier erwähne, ist aber nicht das Thema, sondern die Art, wie der Protagonist anonymisiert wird. Anstatt ihn hinter einen Wandschirm oder in einen dunklen Raum zu setzen und seine Stimme zu verzerren, haben die Filmemacher einen Avatar geschaffen, der optisch einem Gaming-Charakter ähnelt. In der Pressemitteilung heißt es dazu:
"Mithilfe einer Gaming-Engine, die sonst nur aus Hollywoodfilmen und Videospielen bekannt ist, wird die Quelle in einen Avatar verwandelt und dank Motion-Tracking-Technik zum Leben erweckt – ein notwendiger Schritt, um die Quelle bestmöglich vor Vergeltung aus der rechtsterroristischen Szene zu schützen, denn Aussteiger landen häufig auf Todeslisten. Ein Schauspieler leiht dem Avatar seine Mimik, ein Synchronsprecher seine Stimme. Das Ergebnis: Der animierte Insider kann in einem nachgestellten Interviewsetting befragt werden und führt virtuell an die nachempfundenen Orte seiner Erlebnisse."
Interessant ist das auch deshalb, weil herkömmliche Formen der Unkenntlichmachung heute womöglich nicht mehr ausreichen, wenn Verzerrungen und Verpixelungen von Hochleistungssoftware zurückgerechnet werden können. Und ganz nebenbei sind animierte Szenen auch fesselnder als die Schilderungen einer anonymen Silhouette.
Wer sich für die Inhalte der Recherche interessiert, aber für Dokus zu wenig Zeit hat: Für die aktuelle "Zeit", die an der Recherche beteiligt war, hat Filmautor Dennis Leiffels zusammen mit seinen Kollegen David Speier und Michael Trammer die ganze Geschichte im Ressort "Verbrechen" aufgeschrieben.
Diekmann packt aus: Es ist ein… Buch!
Die Vorabdrucke von Kai Diekmanns Buch "Ich war BILD" samt Kritik an deren Wahrheitsgehalt waren am Dienstag schon Thema im Altpapier, heute nun ist das Werk erschienen. Um Mitternacht lief die Sperrfrist aus. Joachim Huber hat das komplette Buch im "Tagesspiegel" zusammengefasst und rezensiert und schreibt unter anderem:
"Was überrascht und zugleich enttäuscht: 'Ich war Bild' bietet keinen Anschauungsunterricht über die Arbeit einer Boulevard-Redaktion, keine Reflexion über diesen Journalismus. Auch in der Ära Diekmann sammelte sein Blatt beim Deutschen Presserat Beschwerden und Rügen in großer Menge ein. […] Der Heldentenor schweigt zu den derartigen Grenzüberschreitungen."
Zur Causa Reichelt gibt es in dem Buch Huber zufolge ebenfalls wenig zu lesen. Wer mehr wissen möchte, findet vermutlich heute im Laufe des Tages mehr Zusammenfassungen, Tweets und Tröts; ein paar Interviews mit Diekmann erscheinen heute auch (unter anderem in der "Rheinischen Post" und der "Berliner Zeitung"). Und damit zum…
Altpapierkorb
+++ Auf die geplante EU-Verordnung zu Künstlicher Intelligenz blicken Daniel Leisegang, Chris Köver und Sebastian Meineck bei Netzpolitik.org. Sie sehen bei dem Entwurf sechs grundsätzliche Probleme, die unter anderem mit Massenüberwachung und "militärischer KI-Aufrüstung" zu tun haben.
+++ Mit einem "Nachruf auf das vielleicht aufregendste Medienunternehmen des vergangenen Jahrzehnts" blickt Götz Hamann in der "Zeit" auf das US-Portal "Vice", das kurz vor der Pleite steht.
+++ Die geplanten Sparmaßnahmen bei der Deutschen Welle (Altpapier) sind heute bei der SZ noch einmal Thema, nachdem Beschäftigte gestern in Berlin gegen die Kürzungen protestiert haben.
+++ Warum Filmproduktionsverbände in einer gemeinsamen Erklärung eine Neuregelung der Filmförderung fordern, erklärt Helmut Hartung im Aufmacher-Text auf der FAZ-Medienseite. Das von den Verbänden geforderte "stärkere Engagement" auch der öffentlich-rechtlichen Sender kollidiert allerdings wohl mit den oben erwähnten Vorstellungen von Haseloff.
+++ "Klassische Medien sind nicht mehr nötig für Erfolg." So beginnt ein Text von Johannes Drosdowski in der heutigen taz über Tucker Carlson. Der gefeuerte Fox-News-Moderator will seine Abendshow demnächst auf Twitter ausstrahlen. Der Artikel ist eine kluge Analyse von Carlsons Erfolg und beinhaltet auch einen Vergleich mit Ex-Bild-Chef Julian Reichelt.
+++ Den Rechtepoker rund um die anstehende Fußball-WM kommentiert Gerhard Pfeil bei "Spiegel online". Er sieht die Verantwortung vor allem bei den öffentlich-rechtlichen Sendern.
+++ Ein offener Brief, den unter anderem die Akademie der Künste mitinitiiert hat, warnt die ARD davor, ihre Hörspiel-Redaktionen zu beschädigen. Details schildert Stefan Fischer auf der heutigen SZ-Medienseite.
Das nächste Altpapier kommt am Freitag von Ralf Heimann.