Das Altpapier am 26. Januar 2018 Aktenkundig und abgeheftet
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Was wusste der Saarländische Rundfunk? Warum arbeitet er erst jetzt die Vorwürfe gegen Dieter Wedel auf? Was spielte sich an anderen Sets des Regisseurs, bei ZDF und NDR, ab? Sind sexuelle Übergriffe dieser Art auch heute noch denkbar, üblich, möglich? Darf man bei dieser Einschätzung dem Bauchgefühl eines weißhaarigen Mannes vertrauen? Und wie geht es jetzt weiter? Ein Altpapier von Juliane Wiedemeier, auch mit weiteren Themen wie Facebook, Deutscher Fernsehpreis und korrupten Journalisten.
Wir müssen weiter über Dieter Wedel sprechen. Und wer glaubt, das sei in einer Intensität, wie gerade praktiziert, nicht gerechtfertigt, der lese den Kommentar von Heribert Prantl heute auf der Meinungsseite der SZ:
"Verjährung kann kein Grund sein, Ungeheuerlichkeiten auf sich beruhen zu lassen. (…) Unschuldsvermutung? Das heißt nicht, dass die Opfer nicht reden dürfen. Unschuldsvermutung heißt auch nicht, dass die Zeugen nicht aussagen dürfen."
Ausgerechnet "Bretter, die die Welt bedeuten" hieß die achtteilige Serie, bei deren Produktion Wedel zwei Darstellerinnen belästigt, gedemütigt, verletzt haben soll. Untertitel, oh Ironie, laut Fernsehlexikon: "Erfahrungen einer jungen Schauspielerin". (Die Inhaltsangabe "Nachdem sie reichlich tragische Geschichten von ehemaligen und verhinderten Stars erlebt hat, verlässt Andrea das Theater für eine Schallplattenkarriere. Ob ihr Talent dazu ausreicht, ist fraglich, aber wenigstens sieht sie klasse aus" verdient, by the way, jetzt auch nicht gerade Feministinnenpreise).
Warum wurde fast 40 Jahre geschwiegen? Diese Frage müssen sich wahrlich nicht die Betroffenen gefallen lassen, sondern die, unter deren Obhut die sexuellen Übergriffe (nein, das war kein Sex) geschahen: die vor Jahren über einen anderen Skandal gestrauchelte Produktionsfirma Telefilm Saar und deren Auftraggeber, der Saarländische Rundfunk.
"Die Auftraggeber haben es toleriert, dass Wedel seine Opfer der Lüge bezichtigte; sie haben die Indizien für die Glaubwürdigkeit der Opfer vom Tisch gewischt und abgeheftet",
meint dazu Prantl.
"Die ARD wird einige Aufklärungsarbeit zu leisten haben. Alle, so steht es in dem ZEIT-Dossier, wussten Bescheid, auch davon, dass Frau Gemschs Nachfolgerin in der Rolle, Ute Christensen, ganz ähnliche Erfahrungen mit Wedel machte. Alle hielten den Mund – die einen, weil sie weiterarbeiten wollten; die anderen, weil es um ihr Geld ging; alle, weil sie offenbar der Meinung waren, Schweinereien gehörten dazu, wenn Männer beruflich Frauen etwas zu sagen haben. "Der Streit ist zunächst eine persönliche Angelegenheit zwischen Herrn Wedel und Frau Christensen" – so liest sich das in einem Schreiben des SR",
formuliert es Verena Lueken im Feuilleton der FAZ (Blendle-Link).
Von wann dieses zitierte Schreiben ist, steht leider nicht dabei. Gestern nutzte der aktuelle Intendant des SR, Thomas Kleist, gleich zwei Gelegenheiten, sich öffentlich der Aufklärung zu verschreiben. Sowohl Spiegel Online als auch @mediasres gab er dazu ein Interview. Da der Inhalt identisch ist, sich aufgrund der Redigatur bei Ersteren aber besser nachlesen lässt, sei nun ausführlich daraus zitiert.
Vor 40 Jahren erschien eine Vergewaltigung wohl als Privatsache
Zum Ersten zur Frage, warum diese Vorwürfe an Wedel damals durchaus aktenkundig wurden (fun fact: nicht etwa, weil es sexuelle Übergriffe gab, sondern weil sich in deren Folge die Produktion verzögerte und die Kosten erhöhten), aber, wie Prantl schreibt, zu nicht mehr führten, als Abheften:
Kleist: "Da gibt es für uns eigentlich nur die Überlegung: Entweder die beiden Betroffenen haben ausdrücklich darum gebeten - nur bitte keine Öffentlichkeit, nur bitte keine Polizei oder Staatsanwaltschaft, sonst ist unsere Karriere kaputt. Wäre ja schlimm genug, wenn es so war. Oder aber es herrschte ein Klima damals, vor fast 40 Jahren, das man sagte: Okay, das ist ja deren Privatsache, da gucken wir als SR oder als Produktionstochter Telefilm Saar mal schnell weg."
Vergewaltigung als Privatsache. Man stelle sich vor, so würde in diesem Land jede andere Straftat, sagen wir ein Autodiebstahl abgetan. Da wäre aber was los.
Zum Zweiten geht es darum, wie sich der SR heute an der Aufarbeitung beteiligt. Dazu zählt Kleist das Öffnen der Akten für die Kollegen von der Wochenzeitung Die Zeit bei gleichzeitiger Aufnahme von Recherchen durch das eigene Haus sowie die Suche nach Zeitzeugen und die Kontaktaufnahme zu den Betroffenen.
"Aber es geht mir nicht so sehr um Schuld und Sühne. Wegen Verjährung würde es nicht zur Strafverfolgung kommen. Doch das macht ja die Geschehnisse nicht ungeschehen. Deshalb müssen wir fragen: Welche Verantwortung hat man damals gesehen? War das Verhalten in Ordnung? Und was können wir für heute daraus lernen?"
"Mein Bauch sagt mir: Das ist heute nicht mehr so. Ich zitiere da immer gerne Martin Walser, der mal gesagt hat: 'Macht ist in dem Maße gefährlich, wie sie unkontrollierbar ist. Egal, wer sie ausübt.' Es ist nicht mehr so, dass einer alles in der Hand hat - weil das ja Missbrauch Tür und Tor öffnet. Wir haben heute in allen Häusern Frauenbeauftragte, Ombudsstellen. Ich glaube, wir haben jetzt ein anderes Klima, das nicht mehr erlaubt, wegzuschauen, zu bagatellisieren, zu sagen: Das ist Privatsache."
Frauenbeauftragte, schön und gut. Aber wenn ich mich auf etwas nicht verlassen möchte, was die Beurteilung von Sexismus angeht, dann ist es das Bauchgefühl eines - Entschuldigung - grauhaarigen, weißen Mannes.
Unter diesem Gesichtspunkt war es sicher auch nicht hilfreich, dass an den verantwortlichen Stellen vor 40 Jahren nur Männer saßen. Unter "Regie" führt das Fernsehlexikon neben Wedel noch Tom Toelle, Harald Clemens und Clois Hawlik, und auch der Intendant des SR war damals ein Mann.
"Auf die Frage, ob der damalige Intendant Hubert Rohde über die Vorwürfe gegen Wedel informiert war, heißt es von Seiten des SR: 'Auch das wissen wir nicht mit endgültiger Sicherheit. Aber wir müssen davon ausgehen, da es einen Revisionsbericht gab. Die Revision wird im Auftrag des Intendanten tätig. Spätestens mit dem Revisionsbericht vom 1. Dezember 1981 hatte der damalige Intendant positive Kenntnis'",
so Stefan Winterbauer dazu bei Meedia.
"Positive Kenntnis" - wenn das mal kein schöner Euphemismus für Mitwisserschaft ist.
ZDF sieht sich nicht betroffen, der NDR prüft das noch
Womit wir nun auf die Tatsache umschwenken können, dass Wedel als umtriebiger Regisseur nicht nur im Auftrag des Saarländischen Rundfunks agierte.
"Das ZDF sieht sich nicht betroffen: 'Das ZDF hat die geschilderten Vorfälle, die mit ZDF-Produktionen in Zusammenhang gebracht werden, überprüft', teilte der Sender mit. 'Dabei wurden keine Hinweise oder Unterlagen gefunden.' (…)
Auch der Norddeutsche Rundfunk (NDR) prüft nach eigenen Angaben derzeit, ob sich in den Produktionsunterlagen Hinweise auf entsprechende Vorkommnisse im Zusammenhang mit Wedel-Produktionen finden. "Von dem konkreten Vorwurf im Zusammenhang mit einer Produktion aus dem Jahr 1975 haben wir erst aus der ZEIT erfahren", erklärte ein Sprecher. Nun gehe es um 'größtmögliche Aufklärung'."
steht im bearbeiteten dpa-Bericht bei faz.net.
In der taz zitiert Peter Weissenburger in diesem Zusammenhang noch ZDF-Intendant Thomas Bellut (Bellut: "Ich habe an alle Beschäftigen appelliert, Fehlverhalten nicht zu ignorieren, sondern zu benennen") sowie ARD-Chef Ulrich Wilhelm ("nennt Anlaufstellen, die es schon seit Langem in allen Landesrundfunkanstalten gebe") und kommt zu dem Schluss:
Strukturen zu schaffen, an die sich Opfer von Belästigungen und Übergriffen wenden können, ist das eine und zudem echt einfach. Eine Atmosphäre zu schaffen, in der es zu derartigen Vorfällen gar nicht kommt, dagegen schwer. Ohne jetzt tiefen Einblick in die Filmbranche zu haben, wage ich als Frau zu behaupten, dass sich vielleicht in den vergangenen 40 Jahren manches gewandelt hat. Machtmissbrauch und Sexismus als Probleme verschwunden sind derweil aber nicht.
"Die Gleichgültigkeit von Produktionsfirmen, Rundfunk- und Fernsehanstalten den Opfern gegenüber kann man Beihilfe zum sexuellen Missbrauch nennen. Die Auftraggeber haben den Mann weitermachen lassen, haben ihm Aufträge erteilt. Sie haben seine Übergriffigkeiten, sein demütigendes Treiben und seine aggressive Geilheit als Ausdruck des Wedelschen Ingeniums toleriert.
Wenn Wedels Taten verjährt sind, ist auch die Beihilfe dazu verjährt. Aber Anstalten, die sich über öffentliche Beiträge finanzieren und die dem Gemeinwohl verpflichtet sind, können sich nicht hinter der Verjährung verkriechen. Und die Unschuldsvermutung verbietet nicht Diskussion und Aufklärung",
schreibt dazu Heribert Prantl in seinem Kommentar in der SZ. Er empfiehlt die Einsetzung eines unabhängigen Untersuchungsbeauftragten, um Vergangenes wirklich umfassend aufzuarbeiten.
Und die Gegenwart? Und die Zukunft?
(Das lasse ich hier jetzt einfach mal so stehen.)
Altpapierkorb (Facebook-Klage, Journalistenpreise-Scouts, im Kreis fahrende Autos)
+++ Der Europäische Gerichtshof hat gestern geurteilt, dass Datenschützer Max Schrems zwar in Österreich gegen Facebooks Sammelleidenschaft klagen darf, aber nicht gesammelt im Auftrag tausender Nutzer. Dazu verlinkt sei hier das Urteil im Wortlaut, eine hübsch aufbereitete Stellungnahme Schrems, Zusammenfassungen des Falls bei Spiegel Online und Futurezone.at, ein Schrems-Porträt von Simon Hurtz in der SZ ("Als 23-Jähriger habe sich Schrems gedacht: 'Wenn ich Facebook nicht verklage, dann tut's ja niemand.'") sowie ein Blick ins aktuelle Union-SPD-Sondierungspapier von Alexander Fanta für Netzpolitik.org zur Frage möglicher Sammelklagen nach deutschem Recht.
+++ Der Deutsche Fernsehpreis in der Kategorie Information geht an Dunja Hayali. Oder Caren Miosga. Oder Marietta Slomka. Das Tagesspiegel-Triumvirat Joachim Huber, Markus Ehrenberg und Kurt Sagatz testet die Preiswürdigkeit der Kandidatinnen für heute Abend schon mal jetzt.
+++ Im Vorfeld war der Preis in die Mangel genommen worden, weil die Veranstalter nicht in der Lage waren, ausreichend Stühle für die Autoren im Saal zu platzieren (Altpapier). Das nimmt Ex-Altpapier-Autor Matthias Dell nun zum Anlass, um bei @mediasres folgenden verrückten Vorschlag zu unterbreiten: "Schon deshalb wäre es aufregender, sich für die Leute zu interessieren, die waghalsige Arbeit wirklich machen. Die guten Filme, die spannenden Artikel. Letzteres könnte dadurch gelingen, dass man sich um einen Preis nicht bewerben muss, dass also Autoren oder eben die großen Redaktionssekretariate Texte einsenden, aus denen dann ausgesucht wird. Sondern dass statt Vorjurys lesefreudige Scouts eingesetzt werden, die breit und tief Veröffentlichungen verfolgen und die Texte vorauswählen, die ihnen preiswürdig erscheinen."
+++ Falls Sie akut eine Zeitung bestechen möchten, versuchen Sie es doch am besten beim Beauty- oder Autoressort. Oder gehen gleich zum privaten Hörfunk, die sind für unlautere Angebote besonders offen. Das entnimmt Ulrike Simon für ihre Spiegel-Daily-Kolumne einer Studie zur Korruption im Journalismus.
+++ Vorm Münchner Landgericht begann gestern der Prozess gegen den Patentanwalt des Institut für Rundfunktechnik (IRT) (Altpapier). Vor Ort war, natürlich, für die SZ Klaus Ott. "Der betagte Patentexperte sagte, er würde sich 'lieber heute als morgen' mit dem Institut vergleichen", ist eine Info, die er von dort mitgebracht hat.
+++ Selbst wenn die No-Billag-Initiative in der Schweiz Erfolg haben sollte, bedeutete das nicht zwangsläufig das Ende der SRG: "Das 'No Billag'-Komitee sieht das anders. Nach dem Schweizerischen Gewerbeverband präsentiert es nun seinerseits Szenarien, wie eine privatisierte SRG weiterhin finanzierbar wäre. Die Umstellung sei zwar keine einfache Aufgabe, aber machbar, sagen sie', schreibt Rainer Stadler in der NZZ.
+++ Das Privatfernsehen ist tot, es lebe das Privatfernsehen! Zumindest in Form von Vox, dem Kai-Hinrich Renner im Hamburger Abendblatt zum 25. Geburtstag nicht nur die beste Form, sondern mit Bernd Reichart auch den besten Chef aller Zeiten attestiert. Den Golden Boy selbst hat für DWDL Thomas Lückerath interviewt ("Und eine Übung besteht sicherlich darin, dass Wohlfühlen und Nähe weiter Markenkern von Vox bleiben, aber wir darüber hinaus etwas aufdrehen. Vox muss frecher werden").
+++ "Malvina, Diaa und die Liebe", warum die Debatte um die Kika-Doku eskalierte, und was man daraus lernen kann, das sind die Themen sowohl von Christian Bartels bei evangelisch.de als auch von Tilmann Gangloff im aktuellen epd medien (derzeit nicht online).
+++ Dort zudem, ebenfalls nicht frei verfügbar: Ein Interview mit Regisseur und Autor Franz Xaver Bogner, aktuell mit der Serie "Über Land" im ZDF vertreten, und mit seiner Branche durchaus nicht zufrieden: "Und die Arbeitsbedingungen werden unter dem enormen Druck, den die Sender an die Produzenten abgeben und die Produzenten wiederum weitergeben, so eng und so brutal, dass für Details in der Inszenierung so gut wie kein Platz mehr ist".
+++ Die Hitliste der "Tagesthemen"-Kommentare analysiert in ihrer aktuellen Ausgabe in verlässlicher Präzision die Medienkorrespondenz. "Es gab 31 Frauen und 44 Männer, die kommentierten (Gesamtzahl also: 75). Im Jahr 2016 steuerten 30 Frauen Kommentare bei, 2017 stieg die Zahl also leicht um eins. (…) Der Anteil der von Frauen gesprochenen Kommentare belief sich damit 2017 auf 37,6 Prozent – was bedeutet, dass dieser Wert gegenüber 2016 gesunken ist, als er bei 38,8 Prozent lag, dem bis dahin und nun weiterhin höchsten prozentualen Wert."
+++ Weiteres MK-Thema: Die geplante Übernahme von Fox durch Disney und die Folgen, auch für andere: "Und wo bleiben in Zukunft die vielen Medienunternehmen, die bisher schon Mühe hatten, mit Kolossen wie Disney mitzuhalten? Sie alle sind in heller Aufregung, so viel ist klar. Und sie werden nicht zögern, sich ebenfalls nach Partnern umzusehen oder mögliche Akquisitionen in den Blick zu nehmen, um ihr wirtschaftliches Überleben zu sichern."
+++ Die Hamburger Morgenpost ist gerelauncht, doch geholfen hat es nicht. "Er (Chefredakteur Frank Niggemeier, Amn. AP) machte aus einem lupenreinen Boulevardtitel ein optisch attraktiv aufgemachtes Meinungs- und Debattenblatt. Bei den Lesern zeigt der Heftumbau bisher nur begrenzte Wirkung", so Gregory Lipinski bei Meedia.
+++ Der Standard aus Österreich testet, ob Menschen, die keine Werbung sehen wollten und einen AdBlocker zu diesem Zweck einsetzen, bereit sind, sechs Euro pro Monat zu zahlen, um im Gegenzug nicht nur die Zeitung lesen zu können, sondern das auch ganz Tracking-befreit.
+++ Wie die hier so beliebten Netflix-Eigenproduktionen es mittlerweile sogar (in Form von "Mudbound") zu Oscar-Kandidatenschaffen, ist Andrea Dieners Thema auf der FAZ-Medienseite (Blendle-Link).
+++ Für alle, die sich gerne Autos anschauen, die im Kreis herumfahren: Bei Sky gibt es für Sie nichts mehr zu sehen. Es berichten (u.a.) Tagsspiegel, HAZ und DWDL.
+++ Wer hingegen Bastian Pastewkas "Pastewka" vermisst hat, wird nicht wie bisher bei Sat1, sondern bei Amazon Prime fündig. '(N)ach längerer Pause schließt "Pastewka" inhaltlich zwar dort an, wo Staffel 7 aufhörte. Zugleich merkt man aber bereits der Auftaktfolge die neuen Freiheiten an, die Ensemble und Autoren – losgelöst von bisherigen Sendeschemazwängen – beim neuen Auftraggeber genießen', rezensiert Peer Schader bei DWDL.
Das nächste Altpapier erscheint am Montag. Schönes Wochenende!