Kolumne: Das Altpapier am 9. Mai 2023 Major Pferd und General Hospital
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09. Mai 2023, 10:12 Uhr
Lippenleser:innen lesen royales Genuschel. Und Drehbuchautor:innen sind teurer als KI. Heute kommentiert Jenni Zylka die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Tiere im Dienst
Ein letztes royales Obsessiönchen sei bitte gestattet. Denn sie war medial schlichtweg zu groß, die Krönung, als dass man sie heute, am Dienstag danach, bereits ad acta legen könnte. Zu viele Dinge in der Berichterstattung wollen noch genauer betrachtet werden. Die Sache mit den Pferden im Rang eines Majors beispielsweise, die die BBC hier reportiert, dabei sticht besonders ein aus Eglwyswrw, Pembrokeshire stammendes "Zermonien-Trommel-Pferd" namens "Major Apollo", formerly known as "Ed" heraus, ein edler Fuchs von 1,73 Meter Risthöhe. Und die Informationen über die Offiziersschindmähre sind Monty Python pur:
"Major Apollo's royal links stretch back to July 2018, when Camilla, the Queen Consort, visited the farm along with the King, who was then Prince of Wales. She took the reins as Ed pulled her around the farm on a carriage ride. Huw Murphy helps run the farm with his family, and he has been to London to watch Major Apollo's preparations for the big day. He said: 'They are the highest ranking animals in the British Army. I was down there last week and it is a joy to see how they look after these horses.'”
Ob es in der britischen Armee wirklich keine Tiere mit höherem Dienstgrad gibt? Und wenn einem Field Marshall jetzt von einem Kanarienvogel namens Bonnie das Leben gerettet wird, weil der beispielsweise irgendwo Gas riecht, das können die ja? Müsste der Kanarie dann nicht befördert werden, zum Dienstgrad "General Bonnie"? Und wäre er dann nicht der Vorgesetzte von Major Apollo…? Und würde Major Apollo auf General Bonnies Befehle pfeifen? Oder umgekehrt? Kicher. Beziehungsweise: Wieher.
Erstaunlich zudem, mit welchem königlichem Ernst Bunte, Focus und diverse andere Magazine jene kleine Meldung aus dem Online-Bereich der Daily Mail nachdruckten:
"Lip-reader reveals Charles' fears about time-keeping and Camilla's problem with her cloak.”
Trauer schlägt Krönung
Eine Lippenleserin namens Jacqui Press hat nämlich anscheinend im Auftrag der "FEMAIL", der Daily-Mail-Abteilung für "news for women” (genauer gesagt "tips on fashion, style, beauty, diets, health, relationships and more”) die Krönung beobachtet und das monarchische Genuschel in und um Westminster Abbey und die "Gold State Coach" entziffert. Viel mehr als "Thank you", "It looks wonderful" und "it‘s been longer this time" (bezüglich einer möglichen Verspätung) ist dem Königspaar aber anscheinend nicht über die Lippen gegangen, was Jacqui Press irgendwie zu einer recht fantasielosen Trickbetrügerin macht. Nun ja. (Die BILD hat die Lippenleserin übrigens ganz anders interpretiert und behauptet, dass König Charles "in der Kutsche ausgeflippt" sei. Aber irgendwie verwundert das nicht.)
Inwieweit deutsche und britische Fernsehzuschauer:innen an diesem ganzen Schmu interessiert waren, hat sich jedenfalls der Tagesspiegel hier angeschaut; festgestellt, dass eine tote Königin (26,5 Millionen britische Zuschauer:innen) besser zieht als ein frisch gekrönter König (20,4 Millionen britische Zuschauer:innen); aber sich über etwas ganz anderes gewundert:
"Bemerkenswert daran ist weniger, dass die TV-Quoten bei den Beisetzungsfeierlichkeiten höher ausfielen. Aus deutscher Sicht bleibt immer wieder verblüffend, wie groß die Sehnsucht nach einer Institution wie der Monarchie sein muss, wenn so viele Menschen zumindest am Fernseher einem Ereignis beiwohnen wollen, das mit ihrem eigenen Leben so wenig zu tun hat."
Hiermit sei dem Tagesspiegel deutlich gesagt: Das Anschauen einer solchen Veranstaltung hat in den seltensten Fällen etwas mit angeblicher "Sehnsucht nach einer Institution wie der Monarchie" zu tun. Im Gegenteil, Dingen, die mit dem eigenen Leben wenig zu tun haben, wird besonders gern beigewohnt, man nennt das Eskapismus. Und wenn dann auch noch Lippenleserinnen und militaristisch geehrte Klepper auftauchen, dann ist das schon ein ziemlich steiles Programm, selbst für Anti-Royalist:innen.
Das wäre das. Wie das Coronation Concert am Sonntagabend gelaufen ist, soll sich gefälligst jeder selbst durchlesen, Katy Perry trug jedenfalls eine goldene Robe und sah darin aus wie Allerleirauh in ihrem "Kleid, das glänzt wie die Sonne", und wer jetzt noch nicht versteht, wie tief die royalen Legenden in unser aller kultureller DNA verwurzelt sind, der ist ein:e Ignorant:in.
Kirchenmausarme Autor:innen
Noch schnell zu einem zweiten, fast ebenso schönen Thema, das bereits im gestrigen Altpapierkorb angeteast wurde: Dem Drehbuchautor:innenstreit in Hollywood und seinen Folgen (hier ein Übersichtsartikel für Thema-Einsteiger:innen). Ziemlich interessant ist, was Adam Conover, Vorstandsmitglied bei der Gewerkschaft "Writers‘ Guild of America", in diesem Zeit-Interview erzählt:
"Wir sind mächtig, aber das gilt auch für unsere Gegner. Während des sogenannten Golden Age of Televison, also während der letzten 15 bis 20 Jahre, sind die Gehälter der Studiobosse stark angestiegen. David Zaslav, der CEO von Warner Bros. Discovery, hat 2022 40 Millionen US-Dollar verdient. Im Jahr davor waren es wegen diverser Boni sogar knapp 250 Millionen. Das ist mehr, als 10.000 durchschnittliche Autoren zusammen verdienen. Auch Ted Sarandos, Co-CEO von Netflix, könnte dieses Jahr 40 Millionen verdienen. Und doch behaupten diese Leute, dass kein Geld mehr da sei? Es gibt Autoren, die ganze Serien für Warner und Netflix erfunden und die erwähnten CEO noch reicher gemacht haben – aber trotzdem kaum ihre eigene Miete zahlen können."
Das kennt man alles aus dem Kulturbereich: Gehälter und Honorare und Boni steigen und fallen für verschiedene Menschen unterschiedlich. Dazu kommt die Taktik, die Gewerkschaften und die allgemeine Solidarität zwischen den Kulturschaffenden zu schwächen, indem man nach individuellen Verhandlungen in Einzelfällen auch mal mehr bezahlt. Nach Jahrzehnten der Produktion von kulturellem Content (und dieses Wort "Content", das ja in Deutschland zuweilen auf Ablehnung stößt, weil es angeblich die kreative Leistung zu einem schnöden kalten Inhaltsbegriff zusammenfasst, passt hier tatsächlich am besten und ist überhaupt nicht negativ gemeint, sondern soll nur möglichst allgemein klingen) gelten Leistungen immer noch als stark verhandelbar – und werden, laut Conover, darüber hinaus durch den möglichen Einsatz von KI bedroht:
"Wir möchten festschreiben lassen, dass KI nicht für das Verfassen von Drehbüchern benutzt werden darf. Das ist schon deshalb nicht zu viel verlangt, weil bisherige Versuche in diese Richtung miserabel verlaufen sind. Eigentlich hätten wir in diesem Punkt auch keinen Dissens erwartet, aber selbst hier lehnen die Studios bislang ab."
Billiges Polieren
Dabei ist die Befürchtung nicht, dass ein Chat GPT-Besserwisser einem tatsächlich die originäre Drehbuchautor-oder Showrunnerarbeit wegschnappt, sondern dass man eine KI mit dem so genannten "Script Polishing" betreut, dem "Polieren" eines bestehenden Drehbuchs, das es natürlich besser machen, aber auch einfach "glätten" kann, indem es stärker dem Format untergeordnet wird, vermeintlich schwierige oder provokante Begriffe herausgestrichen werden und so weiter. Und für diese Tätigkeit, die in manchen Fällen ein besseres, in manchen Fällen ein schlechteres Drehbuch hervorbringt (ähnlich wie das redaktionelle Redigat), muss man einer KI natürlich nix zahlen! Wie praktisch für die Produktionsfirmen.
Interessant ist im Zusammenhang damit auch, dass manche Serien momentan anscheinend weiterarbeiten, auch ohne ihre Showrunner, weiß das Branchenblatt Variety:
"'The Lord of the Rings: The Rings of Power' is the latest marquee TV series to move forward with production amid the ongoing WGA strike, but the Amazon Prime Video show will be doing so without the services of executive producers J.D. Payne and Patrick McKay. The sweeping fantasy series has 19 days of filming remaining, sources confirm to Variety, but per WGA strike rules, Payne, McKay and any other writer-producers are barred from participating in any writing-based duties during production while the strike continues — including making creative decisions on set. Instead, the show’s non-writing executive producers (like Lindsey Weber), directors (Charlotte Brändström, Sanaa Hamri and Louise Hooper) and crew are overseeing production on the U.K.-based shoot.
Nun ist es ja so, dass Serien auch ohne Drehbuch-Streik mal auserzählt sein können, und ursprünglich vor Ideen strotzende Autor:innen bei ihrer Arbeit nur noch verzweifelt lahme Gäule (da sind sie wieder!) zu Tode reiten. Aber die Crux ist: Es lässt sich wahnsinnig schlecht definieren, was "gut" und was "schlecht" ist. Denn wir Fans, Nerds, Zuschauer:innen und Rezipient:innen sind zu unterschiedlich. Dieser große, nötige und wichtige Streik (der erste seit 15 Jahren!) kann also tatsächlich noch eine Weile dauern. Man sollte schonmal ein paar der alten guten Serien herausholen, und sie demütig nochmal bingen: Wie irre war das mit Michael Crichtons "Emergency Room", wo es für verschiedene Figuren verschiedene Autor:innen gab, die sich im Writer’s Room gegenseitig ihre Figurenentwicklungen pitchten und gemeinsam neue Handlungsstränge bekakelten… Hach, ich vermisse Dr. Carter.
Altpapierkorb (Springer spezial)
+++ Dass die Staatsanwaltschaft nun Ermittlungen gegen Julian Reichelt aufgenommen hat, berichtet unter anderem der Tagesspiegel: "Ein Sprecher der Behörde teilte am Montag auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur mit: Das Vorliegen eines Anfangsverdachts wegen Betruges wurde nun bejaht, die Ermittlungen werden aufgenommen." Hintergrund ist eine Strafanzeige des Medienkonzerns Axel Springer. Nähere Angaben zu den Vorwürfen machte die Staatsanwaltschaft nicht."
+++ Die Reschke-Sendung zu Julian Reichelt (hier schon ein Altpapier dazu) ist dann doch seit Mittwoch offline, wie die FAZ hier berichtet.
+++ Und vorgestern liefen die letzten beiden Teile des sehr erfolgreichen (Platz 1 der Spotify-Charts) von Jan Böhmermanns TRZ Media produzierten Podcasts "Boys Club" von Lena von Holt und Pia Stendera über die Reichelt-Affäre, mit der abschließenden Frage: "Kann sich die BILD, kann sich Springer noch ändern?" Hier ist ein Gespräch dazu bei Deutschlandfunk, mit dem Tenor, dass der Podcast zwar nichts wirklich Neues erzählte, auch nicht erzählen konnte, denn das Verhalten der BILD gegenüber Frauen ist seit Jahrzehnten bekannt, aber dass die Insights dann doch sehr eindringlich und eindrücklich sind. (Hier hatte der Freitag bereits letzte Woche geschwärmt.)
+++ Der Spiegel hat einen Vorabdruck aus den Memoiren des Ex-Bild-Chefredakteurs Kai Diekmann gedruckt. (Die SZ hat’s auch schon gelesen, in der BILD und der BamS wird’s eh beworben, no shit, Sherlock.) Kritisiert wird der Spiegel-Artikel von übermedien, die hier folgendes richtig anmerken:
"Vor zwei Wochen veröffentlichte der "Spiegel" einen Vorabdruck aus Benjamin von Stuckrad-Barres Buch "Noch wach?" – nicht ohne die Frage zu stellen, wie viel von dieser angeblichen Fiktion wohl eigentlich eine Tatsachenschilderung ist. In dieser Woche veröffentlicht der "Spiegel" einen Vorabdruck aus Kai Diekmanns Buch "Ich war BILD" – verzichtete aber vollständig darauf, die Frage zu stellen, wie viel von dieser vermeintlichen Tatsachenschilderung wohl bloße Fiktion ist."
Das nächste Altpapier kommt am Mittwoch von Christian Bartels.