Kolumne: Das Altpapier am 26. April 2023 "He was worse because he was smarter"
Hauptinhalt
26. April 2023, 13:32 Uhr
Fox News wird ein Propagandasender bleiben, auch wenn er seinen schlimmsten Moderator gefeuert hat. Die "Berliner Zeitung" macht sich lächerlich. Disney+ zeigt eine überfällige Serie über einen Schwarzen ostdeutschen Polizisten. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
- Jesus, Stalin, letzte Generation
- Der Mann ohne Gewissen
- Eine der Stimmen der alten BRD
- Die Disney+-Serie, die die Öffentlich-Rechtlichen hätten machen müssen
- Altpapierkorb (Jemen-Berichterstattung, Interview zur Finanzbedarfsanmeldung, die PR-Podcasts der Bundesministerien, "Irgendwas mit Medien", Döpfners Erben)
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Jesus, Stalin, letzte Generation
Darf man eigentlich über die "Berliner Zeitung" lachen? Oder ist der Schaden, den sie zum Beispiel mit ihren "impfskeptischen" Texten angerichtet haben dürfte, so groß, dass sich unernste Reaktionen grundsätzlich verbieten? Ich bin da, ehrlich gesagt, unsicher. Gegen die eine oder andere Lachträne konnte ich mich beim Lesen dieses Textes über das "Stilbewusstsein" der Letzten Generation jedenfalls nicht wehren. Die Redakteurin Sabine Röthig schreibt:
"Was die deutsche Klima-Armee offenbar noch nicht verstanden hat: Keine Revolution lässt sich ohne Stil anzetteln. Man denke nur an die Rote-Armee-Fraktion, deren Anführer für ihren Style bis heute in der Popkultur gefeiert werden und die sogar ein Logo hatten. Die Geschichte zeigt, dass erfolgreiche Revoluzzer entweder sehr gut aussahen oder zumindest top gekleidet waren. Jesus, Stalin, Castro – alles charismatische Persönlichkeiten, die zu ihrer Zeit eine Menge Fans hatten und zum Teil bis heute haben (vor allem Jesus)."
Der letzte Satz klingt ein bisschen nach "Titanic", finde ich. Was auch auffällt: Es gibt ja Content-Management-Systeme von Medienhäusern nutzende Menschen, die der Letzten Generation vorwerfen, dass sie wie die RAF agiere, hier klingt dagegen der Vorwurf an, dass die RAF mehr drauf hatte. Und nicht zuletzt: Die Letzte Generation will ja gar keine "Revolution anzetteln", sie fordert von der Politik nur, dass sie bestehende Beschlüsse umsetzt und verfassungsgemäß handelt.
Spoiler: Im weiteren Verlauf dieses Altpapiers wird die "Berliner Zeitung" an einer Stelle durchaus wohlwollend zitiert.
Der Mann ohne Gewissen
Zur Debatte um Benjamin von Stuckrad-Barres "Noch wach?" gibt es meiner Wahrnehmung nach heute nicht allzu viel zu ergänzen, außer vielleicht die Bemerkung, dass der Roman durch das Ende von Tucker Carlson bei Fox News (das am Dienstag bereits kurz erwähnt war im Altpapier) ein kleines Bisschen an Aktualität gewonnen hat. Wieso das denn? Zumindest insofern, als Carlson in dem Roman vorkommt. Über den Chefredakteur der deutschen "Global-Player-Klapse", die im Roman bekanntlich ein Fernsehsender ist, heißt es:
"In Tonlage, Infamie und Dauerhetze ahmte er überdeutlich den amerikanischen Lügenprediger Tucker Carlson nach, SENDERINTERN nannte man ihn, wenn er gerade nicht in der Nähe war: Tucker Carlson für geistig NOCH Ärmere."
In vielen Texten zur Fox-News-Entscheidung, Carson zu feuern, ist die Rede davon, dass er "privat" zwar zum Ausdruck brachte, dass er Donald Trump "hasst", im Fernsehen aber dessen "Wahlbetrug"-Unsinn und anderen "Verschwörungsstuss" (Michael Streck/stern.de) verbreitete.
Streck kommentiert dies so:
"Er konnte vermutlich nur deshalb noch in den Spiegel schauen, weil auf ihn der Aphorismus des polnischen Schriftstellers Stanislaw Jerzy Lec zutraf: "'Sein Gewissen war rein. Er benutzte es nie.'"
Die von der taz zitierte Organisation Media Matters for America, "the Nation's premier progressive media watchdog", betont:
"Auch ohne Tucker Carlson ist Fox News noch immer Fox News. Der Sender ist weiterhin das zentrale Propagandaorgan der Republikanischen Partei."
Dass Carlsons Entlassung "unbedeutend" sei "oder nichts ändern" werde, könne man aber nicht sagen, ließe sich hier mit Jon Allsop ("Columbia Journalism Review") anschließen. "Selbst für Fox-Verhältnisse" sei Carlsons Sendung "extrem" gewesen, schreibt er und bezieht sich dabei auf die "New York Times"-Formulierung "the most racist show in the history of cable news”. Allsop weiter (Übersetzung: deepL):
"(Die Sendung) trug dazu bei, die aufkommende Ideologie der amerikanischen Rechten auf eine Art und Weise zu formen, die zumindest etwas ausgeprägter war als die plumpe Pro-Trump-Hagiographie einiger seiner Kollegen (…) Derjenige, der Carlsons Nachfolge antritt, könnte auch durch die schiere Kraft der Einschaltquoten diese letzte Funktion erfüllen. Wer weiß, vielleicht lenkt er die amerikanische Rechte auch in eine beängstigende neue Richtung."
Der eher konservative US-Journalist Charlie Sykes stellt bei thebulwark.com heraus:
"While the other Fox News hosts are hardly ornaments of American journalism, Tucker was a uniquely malign and toxic figure. He was worse because he was smarter. He was more dangerous because he knew what he was doing. He had an extraordinary aptitude for lying with malicious glee."
Dass Kremlpropagandist Wladimir Solowjow dem Gefeuerten einen Job angeboten hat, kommentiert Michael Hanfeld für die FAZ mit den Worten, dass das für Carlson "bestens passen" würde. Apropos Russland: Auch dessen Außenminister Sergei Lawrow hat sich zum Rausschmiss des von ihm geschätzten Carlson geäußert, und während der "Kölner Stadt-Anzeiger" dazu die passende Headline liefert ("Skurriler Lawrow-Auftritt bei Pressekonferenz in New York") wählt die dpa (siehe "Der Standard", "Handelsblatt") eine Überschrift, die selbst schon wieder skurril ist.
Eine der Stimmen der alten BRD
Am Montag ist der, ja, hier darf man das mal schreiben: legendäre Fußball-Kommentator und "Sportschau"-Moderator Ernst Huberty im Alter von 96 Jahren verstorbenen. Holger Gertz leitet seinen Nachruf für die "Süddeutsche" mit einem Blick in die Gegenwart ein:
"Manchmal ertappt man sich bei (…) einer Sky-Bundesliga-Konferenz (…) bei dem Gedanken, wie irre das eigentlich ist, sich ankaspern lassen zu müssen von Nervensägen, die originell und witzig sein wollen, stattdessen aber penetrant und albern sind. Sie regeln alles zum Spiel des Jahrhunderts hoch, auch ein 3:3 von Stuttgart gegen Dortmund. Und sie lassen alles, was außergewöhnlich ist, im heizdeckenverkäuferartig vorgebrachten Schlachtruf 'Wahnsinn' stranden, damit wird ein frühes Führungstor beschrieben, ein später Ausgleich, auch ein plötzlich einsetzender Regenguss."
Huberty tat, und darauf läuft der Text natürlich hinaus, all das nicht, er war das größtmögliche Gegenteil der Heizdeckenverkäufer, die bei Sky beschäftigt sind. Georg Diez vergleicht in seinem Nachruf auf "eine der Stimmen der alten BRD" für Zeit Online ebenfalls Vergangenheit und Gegenwart, allerdings in einer etwas anderen Tonalität:
"Es ist vor allem die Stimme Ernst Hubertys, die im Gedächtnis bleibt, eine sonore Stimme, wie man damals gesagt hätte, die der Hektik des Geschehens widersprach – und natürlich auch jeglicher Hektik heutiger Kommentatoren, was hier nicht bewertet werden soll, weil ich finde, dass jede Zeit, im Ranke'schen Sinn und damit auch im Fußballsinn, unmittelbar zu Gott ist, also sich aus seiner eigenen Logik heraus erklären lässt."
Durch Hubertys Tod, so Diez weiter, sei
"der Blick auf den Sport, den Fußball, ist durch diesen Moment so vielfältig gebrochen, dass man der Gegenwart noch mal beim Entstehen zusehen kann: von Hubertys immer etwas zu aufgekratztem Sportschau-Nachfolger Heribert Faßbender über die Huberty-Zöglinge Reinhold Beckmann, Johannes B. Kerner, Oliver Welke und Monica Lierhaus, die den Übergang vom fußballerischen Mittelstandskapitalismus zum erst globalisierten und dann autokratisch finanzierten Maximalkapitalismus markierten, bis heute, wo dann Kommentatoren Bücher schreiben, die 'Am Ende kackt die Ente' heißen."
Dass von Huberty auch eine rassistische Bemerkung über die Fußballerin Beverly Ranger in Erinnerung bleibt, erwähnen Gertz und Diez nicht - dafür aber Martin Böttger in seinem Blog "Beueler Extradienst".
Die Disney+-Serie, die die Öffentlich-Rechtlichen hätten machen müssen
Sehr viel Aufmerksamkeit bekommt die heute startende Serie "Sam - Ein Sachse", die die auf wahren Ereignissen basierende Geschichte des ersten Schwarzen Polizisten der DDR erzählt - und "seinen Aufstieg zum Medienstar" sowie "seinen Abstieg in die Kriminalität" (Redaktionsnetzwerk Deutschland).
Patrick Heidmann schreibt in der taz über die in der Berichterstattung oft als "erste deutsche Disney+-Serie" gelabelte Produktion:
"Nicht nur im Kontext des offenen Briefes, in dem der Verband Schwarzer Filmschaffender gerade mit Blick auf das Programm der Berlinale mehr Repräsentanz fordert, ist es überfällig, eine deutsche Produktion wie diese zu sehen, mit einem Protagonisten, der nicht nur Opfer, sondern auch Held seiner eigenen Geschichte ist, mit-erzählt von Schwarzen Verantwortlichen wie Ricketts oder Regisseurin Sarah Blaßkiewitz. Und gerade die dritte Folge, in der ein Auftritt der Schwarzen Lyrikerin und Aktivistin May Amin im Zentrum steht, ist mit ihren auf engsten Raum komprimierten Einblicken in die unterschiedlichsten Schwarzen Erfahrungen und Identitäten in Deutschland letztlich ein Meilenstein deutscher TV- und Serien-Geschichte."
Claudia Reinhard ("Berliner Zeitung") meint:
"Gerade für das deutsche Publikum war eine Geschichte aus nicht-weißer Perspektive über die Nachwendezeit in Ostdeutschland überfällig – und legt nun hoffentlich den Grundstein für viele weitere."
Im Interview mit MDR Kultur sagt Hauptdarsteller Malick Bauer:
"Aus meiner Sicht als Schauspieler ist die Serie eine perfekte Story über unsere Ausklammerung des Schwarzseins in der Zugehörigkeit zu Deutschland. Wir verleugnen immer unsere Kolonialgeschichte in Deutschland. Ich habe schon so oft zu hören bekommen, dass wir noch nicht so weit sind, deutsche Schwarze Geschichten zu erzählen. Auch diese Serie haben die Macher Tyron Rickets, Jörg Winger und Chris Silver schon mal versucht zu drehen – 2005. Aber alle Sender haben ihnen eine Abfuhr erteilt. Schwarzer Protagonist, da sind wir noch nicht. Dann Fast Forward ins Jahr 2019 und – wichtig – noch vor Black Lives Matter wurde ich gecastet und man wollte das unbedingt machen."
Man? Einige indes wollten wohl nicht. Denn:
"Der öffentlich-rechtliche Rundfunk (…) hätte mit diesem Stoff seinem Auftrag mehr als gerecht werden können, soll aber, wie zu hören ist, mehrfach abgelehnt haben",
weiß jedenfalls Stefan Locke, der die Serie für die FAZ besprochen hat. Im vergangenen Herbst hat der Drehbuchautor Orkun Ertener ("KDD", "Neuland") in einem "Übermedien"-Interview gesagt, er habe" im öffentlich-rechtlichen Fernsehen noch nie so viel Spaß am Radikaleren, Überraschenderen, Differenzierteren angetroffen wie im Moment", und am Freitag hat er das in Marl anlässlich der Verleihung des Grimme-Preises für "Neuland" noch einmal sinngemäß wiederholt. Aber möglicherweise stimmt Erteners Eindruck nicht.
Altpapierkorb (Jemen-Berichterstattung, Interview zur Finanzbedarfsanmeldung, die PR-Podcasts der Bundesministerien, "Irgendwas mit Medien", Döpfners Erben)
+++ In einem Artikel fürs Europäische Journalismus-Observatorium befasst sich Ali Al-Dailami mit der Lage der Medien in Jemen, kritisiert aber auch die internationale (Nicht-)Berichterstattung über das Kriegsland: "Trotz des Ernstes der Lage ist der Jemen nach wie vor ein wichtiger Transitpunkt für eine der verkehrsreichsten und gefährlichsten Migrationsrouten der Welt. Dennoch wird in den internationalen Medien nur selten darüber berichtet, da sich die internationale Medienberichterstattung den verflochtenen Interessen der ölreichen Länder, die die Koalition anführen, und der globalen Großmächte, die die von Saudi-Arabien geführte Militärintervention im Jemen unterstützen, anpasst."
+++ Die SZ interviewt ausführlich Martin Detzel, den Vorsitzenden der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF). Anlass: Bis Freitag müssen die Sender bei der KEF anmelden, "wie viel Geld sie ihrer Meinung nach für die Jahre 2025 bis 2028 brauchen, um ihren Auftrag zu erfüllen". Siehe auch Altpapier von Dienstag.
+++ Sündhaft teuer, öde, erfolglos, ergo überflüssig - so lässt sich das "Übermedien"-Urteil über PR-Podcasts diverser Bundesministerien zusammenfassen.
+++ Unlustig findet die SZ die MDR-Mockumentary-Serie "Irgendwas mit Medien".
+++ Die vom Präsidium des BDZV der am 22. Mai tagenden Delegiertenversammlung als "gleichberechtigte Vorsitzende" und damit als Nachfolger von Mathias Döpfner zur Wahl vorgeschlagenen Verleger Matthias Ditzen-Blanke (Nordsee-Zeitung) und Stefan Hilscher (u.a. Die Harke) stellt die taz Nord vor.
Das Altpapier am Donnerstag schreibt Ralf Heimann.