Kolumne: Das Altpapier am 31. März 2023 Ein Sender ist keine Marmeladenfabrik
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31. März 2023, 13:35 Uhr
ARD-Mitarbeiter agieren quasi als verdeckte Ermittler gegen einen Doping-Dealer. Der NDR könnte eine neue Führung gebrauchen. Die geplante, in der ÖRR-Reformdebatte bisher kaum hinterfragte "Konzentrierung von Aufgaben auf einzelne Anstalten" könnte auf Kosten der Vielfalt gehen, befürchtet der FDP-Politiker Gerhart Baum. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Investigatives in Hülle und Fülle
Wer investigativen Journalismus hoch schätzt, wird am Wochenende keine Langeweile haben. Frisch im Angebot sind gerade: neue internationale Großrecherchen aus jener Liga, bei denen in den Projektnamen in der Regel ein "Files" oder "Papers" auftaucht (der aktuelle lautet "Vulkan Files", es geht um Russlands "Cyberkrieg"); eine "Kontraste"-Doku u.a. über den AfD-nahen russischen BND-Maulwurf, der vor einigen Monaten enttarnt wurde; ein neuer Film aus der ARD-Reihe "Geheimsache Doping", in dem es nicht um Betrug im Sport geht, sondern um die Organisierte Kriminalität im Bereich Dopingmittelhandel.
Erst einmal ein paar Koordinaten zu den "Vulkan Files": "Mehr als ein Jahr Arbeit" (Bastian Obermayer) stecken drin, elf Medienhäuser sind beteiligt, unter anderem der "Spiegel", der für seinen Haupttext gleich 20 Autorinnen und Autoren an den Start bringt. Einen Überblick zu den Recherchen liefert der ebenfalls beteiligte "Standard":
"Die Vulkan-Files sind Dokumente aus dem Inneren der russischen Cyberkriegsführung und Überwachung. Mehr als 50 Journalistinnen und Journalisten aus acht Ländern haben die Daten monatelang ausgewertet (…) Worum geht es bei den Vulkan-Files-Recherchen? (…) Bei den Vulkan-Files handelt es sich um geheime Daten aus dem Innersten der russischen Softwarefirma NTC Vulkan – einer Art Tech-Zulieferer der russischen Geheimdienste. Die Dokumente zeigen, wie die Moskauer Firma für Russlands Militär und Geheimdienste Infrastruktur für Cyberangriffe und großangelegte Desinformationskampagnen entwickelt hat. Es ist das erste Mal, dass die Öffentlichkeit einen tiefen Einblick bekommt, wie der russische Staat mithilfe privater Firmen versucht, weltweite Hackingoperationen zu planen und durchzuführen. Über technisch detaillierte Dokumente lässt sich mitunter Schritt für Schritt verfolgen, wie solche Angriffe militärisch abzulaufen haben."
Die "Kontraste"-Doku basiert ebenfalls auf einer Recherchekooperation, allerdings auf einen vergleichsweise kleinen. Beteiligt war hier "Die Zeit", die ihren Beitrag schon Anfang März lieferte.
Und was leistet "Geheimsache Doping: Dealer" (seit gestern Abend in der Mediathek, am 4. April linear)? Den Autoren Hajo Seppelt, Peter Wozny, Jörg Winterfeldt und Wigbert Löer gelingt durchaus ein Coup - indem sie mit Hilfe eines Lockvogels und unter Einsatz einer versteckten Kamera Beweise dafür liefern, dass der 2019 verurteilte, aber vorzeitig aus der Haft entlassene Großdealer Jacob Sporon-Fiedler weiterhin illegalen Geschäften nachgeht, und zwar nunmehr in Mumbai.
Das Autorenteam beschreibt das, etwa bei tagesschau.de, folgendermaßen:
"Nachdem das Reporterteam seine Adresse in Mumbai herausgefunden hatte, stattete ihm eine Mitarbeiterin der ARD-Dopingredaktion unangemeldet einen Besuch mit versteckter Kamera ab. Der erste Kontakt war damit gemacht, und in der Folge bestellten Journalisten Dopingmittel. Die Mitarbeiterin in Mumbai gab sich als Vertreterin eines Beraters deutscher Sportler aus, sagte, ihr Chef benötige für seine Athleten Dopingmittel im großen Stil. Jacob Sporon-Fiedler telefonierte sogar mit dem Berater, der in Wirklichkeit Hajo Seppelt war."
Das ist natürlich keine kleine Leistung, aber der entsprechende Teil des 45-minütigen Films ist nur rund sieben Minuten lang. Vorher verzetteln sich die Autoren in teilweise Nebensächlichem. Und an in "Wir können auch Netflix"-Gestus präsentierten True-Crime-Girlanden herrscht leider kein Mangel.
Ist Knuth noch gut?
Zum vom Sender unabhängigen Team erstellten Betriebsklimabericht, den der NDR gerade in eigener Sache veröffentlicht hat (siehe Altpapier von Mittwoch) und der unter anderem die Erkenntnis beinhaltet, dass dort die Besetzung von Führungspositionen "in den allermeisten Fällen (…) nach individuellen Präferenzen und machtstrategischen Logiken" erfolgt (siehe "Business Insider"), interviewt die SZ den früheren NDR-Intendanten Jobst Plog.
Angesichts dessen, dass der "Klimabericht" der Führung des Vier-Länder-Senders "ein verheerendes Zeugnis" ausstellt, fragt Claudia Tieschky: "Hat die aktuelle Geschäftsführung um Intendant Joachim Knuth überhaupt eine Chance, sich glaubhaft zur Spitze eines Neuanfangs zu erklären?" Plog dazu:
"Exakt das ist die Frage. Führungskräfte sagen ja immer, dass sie Führungskräfte sind, weil sie bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Aber das muss sich dann auch mal in Realität umsetzen. Und ich weiß nicht, wie das hier geschehen soll, wenn dieselben Leute, denen gestern noch eklatante Mängel bescheinigt wurden, morgen anfangen sollen, an der Beseitigung dieser Mängel zu arbeiten."
Die Frage, ob die NDR-Spitze nun nicht eigentlich zurücktreten müsste, wirft Tieschky dann auch noch auf. Plog findet:
"Das müssen sich Geschäftsführung und Aufsichtsgremien zumindest fragen und wenn sie zu einem anderen Ergebnis kommt, muss sie das, glaube ich, gut begründen."
Die eklatanten Mängel, um eine Plog-Formulierung aufzugreifen, personifiziert nach meinem Dafürhalten unter anderem der Kieler Funkhausdirektor Volker Thormählen. Der ist unter anderem aufgrund seiner Wankelmütigkeit kaum noch tragbar. Über letztere habe ich Anfang März für das „Medium Magazin“ geschrieben (Zusammenfassung siehe newsroom.de), einige Tage später widmete sich auch „Die Welt“ dem Thema.
Die Zeitung verwies in dem Zusammenhang auch auf den ihr „aus Politikkreisen exklusiv zugespielten“ Report der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte, die im Auftrag des Landesrundfunkrats Schleswig-Holstein die Verhältnisse beim NDR in Kiel untersucht hatte. Öffentlich zugänglich ist der komplette Report meines Wissens immer noch nicht, und gerade jetzt, als Ergänzung zum Klimabericht, könnte die Lektüre aufschlussreich sein. Also: Mach mal hinne, Landesrundfunkrat!
"Anbiederung durch Verflachung ist eine Beleidigung mündiger Bürger"
Von den Zusammenlegungen auf struktureller Ebene, über die in der ÖRR-Reformdebatte derzeit ungefähr viele, viele Stakeholder reden, hält der FDP-Politiker Gerhart Baum nicht viel.
"Entscheidend für das Gedeihen der Demokratie ist Vielfalt – thematische, journalistische und kulturelle Vielfalt. Wenn die geplanten Kompetenzzentren und die Konzentrierung von Aufgaben auf einzelne Anstalten auf Kosten der Vielfalt erfolgen sollten, dann ist Widerstand geboten",
schreibt Baum, der auch Vorsitzender des Kulturrates NRW ist, in "Politik & Kultur", der Zeitung des Deutschen Kulturrates.
Ich befürchte, da redet bzw. schreibt Baum gegen eine Wand.
Wie auch immer: Warum ist "Widerstand geboten"?
"Die simple Forderung 'Einer macht etwas für alle' kann hier nicht greifen. Das kann man in Wirtschaftsbetrieben machen oder bei Fahrbereitschaften, aber nicht mit dem Programm. Ein Sender ist keine Marmeladenfabrik. Er erfüllt einen öffentlichen Auftrag, einen Verfassungsauftrag!"
Ein weiteres Fass, das Baum aufmacht:
"Die Erfüllung des Programmauftrages kann auch nicht darin bestehen, dass man lediglich erfasst, was denn die Nutzer hören und sehen wollen. Nein, man muss sich in den Sendern auch fragen: 'Was müssen sie denn erfahren, was müssen sie wissen, welche unterschiedlichen Meinungen müssen sie kennenlernen?’ Anbiederung durch Verflachung ist eine Beleidigung mündiger Bürger."
Das Problem besteht aber darin, dass die Fraktion, die für "Anbiederung durch Verflachung" steht, in den Führungsebenen nicht gerade unterrepräsentiert ist, um es vorsichtig zu formulieren.
Nicht jeder, der von einem Ministerium ein Honorar bekam, ist regierungsfreundlich
Im Zusammenhang mit den "Zahlungen von Bundesministerien an Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und privatrechtlicher Medien", die in den vergangenen Wochen mehrmals Thema waren an dieser Stelle, mahnte Volker Lilienthal neulich Differenzierung an (siehe dieses Altpapier):
"Rechtfertigt denn die sogenannte Geheimliste den Hashtag #GekaufteJournalisten? Rechtfertigen die dokumentierten Honorarzahlungen den Generalverdacht, die Begünstigten hätten ihre journalistische Distanz im Verhältnis zum Staat aufgegeben? Sie seien zu Hofberichterstattern in Diensten von Merkel oder Scholz mutiert? Das alles stimmt ganz sicher nicht. Schon gar nicht, wenn vorgetragen als Pauschalverdacht, der alle Unterschiede verwischt."
Wie wichtig es ist, sich die einzelnen "Fälle" genau anzuschauen, macht nun, nicht zuletzt aus eigenem Interesse, netzpolitik.org-Redakteur Ingo Dachwitz in einem Mastodon-Thread deutlich. Er ist nämlich "Journalist 141" auf der Liste, aber "gekauft" wurde er, wie er darlegen kann, eher nicht:
"Der damalige Beauftragte der Bundesregierung für Religions- & Weltanschauungsfreiheit, MdB Markus Grübel (CDU), hat 2021 einen Fachaustausch veranstaltet: 'Religions- und Weltanschauungsfreiheit im Internet: Zwischen Freiheit, Hass und Zensur.' Anlass war die VÖ des 2. Berichts der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit. Mehrere Expert:innen haben kurze Vorträge gehalten und dann diskutiert, so auch ich. Ich sprach u.a. über die Verantwortung westlicher Regierungen für die Kommunikationsfreiheit weltweit, habe mit Kritik am damaligen Innenminister (CSU) nicht gespart (…) Ich habe bei der Veranstaltung keine neutrale oder gar regierungsfreundliche Rolle gehabt. Ich war da, um Expertise beizusteuern. Das darf & sollte bezahlt werden, finde ich. Gerade für zivilgesellschaftliche Expertise (…) Ich habe 500 € bekommen & meine Inhalte mit niemandem abgestimmt."
In der Auflistung der Bundesregierung wiederum wird seine Tätigkeit als "Moderation" geführt. Was man ja getrost als Irreführung bezeichnen kann.
Angst seit 2019
Vor rund einer Woche meldeten wir hier unter Bezugnahme auf das Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF), dass es im vergangenem Jahr in Deutschland weniger Angriffe auf Journalisten als 2021 gab. Aber:
"Besonders gefährdet seien (…) Lokaljournalistinnen und -journalisten, die nicht 'in die Anonymität abtauchen können.'"
Der Braunschweiger Rechtsextremismusexperte David Janzen gehört zu jenen, die nicht "in die Anonymität abtauchen" können, weil Nazis wissen, wo er wohnt. In dieser Woche gab es wieder einmal eine Attacke (Altpapier von Donnerstag), über die nun "@mediasres" berichtet:
"Hinter der jüngsten Attacke vermutet der Journalist unter anderem eine Reaktion auf seine Berichterstattung über den Neonazi Johannes W., der am 28.03.2023 vom Amtsgericht Braunschweig zu 2.400 Euro Geldstrafe wegen Beleidigung verurteilt wurde. In den vergangenen Tagen habe es zudem in einem Telegram-Kanal wiederholte Drohungen gegen ihn gegeben."
Dass Janzen aufgrund von Angriffen und Drohungen "Angst" um seine Familie hat, stand im Altpapier bereits im Oktober 2019. Und dass er "fast wöchentlich" Drohungen aus der örtlichen Nazi-Szene bekomme, berichtete "Panorama 3" 2020 (siehe Altpapier).
Altpapierkorb (Evan Gershkovich, Wetter im Radio, Roman-Brodmann-Preis)
+++ Die Verhaftung des Moskauer "Wall Street Journal"-Korrespondenten Evan Gershkovich. Was schreiben die deutschen Russland-Korrespondenten? Die frei in Moskau arbeitende Inna Hartwich betont in der taz: "Es ist das erste Mal in Russland, dass ein westlicher Journalist der Spionage beschuldigt wird. Damit senden die russischen Behörden ein Signal an alle westlichen Journalist*innen, die in Russland arbeiten. Sie haben das Exempel statuiert, das in den Kreisen europäischer und US-amerikanischer Journalist*innen in Moskau lange befürchtet worden war. Das Arbeiten – gerade auch zu heiklen Themen – wird so weiter erschwert." Weshalb Friedrich Schmidt in der FAZ dann auch von einem "üblen Vorzeichen für alle Auslandskorrespondenten" spricht. CNN hat Reaktionen von US-Medien gesammelt. Und der "Guardian" weiß: "Before his arrest, Gershkovich was reportedly working on a story about Wagner, the notionally private military group run by the businessman Yevgeny Prigozhin, which has done much of the fighting in Ukraine."
+++ "Unsere Art, über das Wetter zu sprechen, unterscheidet sich nicht von der, als das Radio erfunden wurde", konstatiert Harald Hordych auf der heutigen SZ-Medienseite. Sein Anschauungs- bzw. Anhörungsmaterial: eine "Morgenmagazin"-Sendung bei WDR 2. Hordych: "Exemplarisch (…) ist das Gespräch mit dem Meteorologen, der an diesem Morgen auf die angsterfüllte Frage, ob heute wieder mit Regen und - Horrorvision für jeden Autobesitzer ohne Garage wegen Lackschadens - Hagel gerechnet werden muss, feststellt, dass am Nachmittag Wolken aufziehen werden. Darauf mit sofort aufsteigender Panik in der Stimme die Frage: 'Wird es regnen???’ Einem mit fester wie beruhigender Expertenstimme verkündeten 'Nein' folgt der zutiefst erleichterte Ausruf der Moderatorin: 'Das klingt fantastisch!' Klingt es eben nicht. Die Sahelzone beginnt noch nicht am Bodensee, aber wir sollten ganz schnell aufhören rumzujammern, wenn es endlich mal tröpfelt."
+++ Zu den Filmpreisen, die noch nicht den Bekannheitsgrad erlangt haben, den sie verdient hätten, gehört der vom Stuttgarter Haus des Dokumentarfilms (HDF) und dem Institut für Medien- und Kommunikationspolitik verliehene Roman-Brodmann-Preis für politischen Dokumentarfilme. Der Namensgeber des Preises war einer der Pioniere des Genres, zu dem Führungskräfte des ÖRR ein Verhältnis haben, das dem des Teufels zum Weihwasser zumindest ein bisschen ähnelt. Am Donnerstag hat das HDF die Nominierungen bekannt gegeben. Offenlegung: Mit Nora Frerichmann und mir waren zwei Altpapier-Autoren in der Vorjury vertreten.
Das Altpapier am Montag schreibt Johanna Bernklau. Schönes Wochenende!