Das Altpapier am 29. März 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 29. März 2023 Wald vor lauter Bäumen

29. März 2023, 09:59 Uhr

Die öffentlich-rechtlichen Plattformen beginnen, sich zu verschränken. Steht der deutsche Digital-Services-Coordinator schon fest? Geopolitisch immer heftiger wird über Tiktok diskutiert. Und der NDR-Klimabericht befasst sich nicht mit der Klimakrise. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Algorithmus? Algorithmen? (Plattform-Fragen)

Auch wenn in der Mitglieder-Übersicht im Internetauftritt am Mittwoch morgen noch ein Plätzchen unbesetzt erscheint: Der ZDF-Verwaltungsrat, das kleinere und entscheidendere Aufsichts-Gremium, ist wieder vollständig. Schon vor zwei Wochen stieß als jüngstes Mitglied Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Jg. 1948) hinzu. Dass die Grünen im laufenden Jahrzehnt in der medienpolitischen Nische irgendein Profil gewonnen hätten, würden wohl selbst ihre zahlreichen Freunde in den Medien nicht behaupten. Dieser Posten für Kretschmann aber ist ein Erfolg. Zuvor hatte der an Lebenserfahrung noch nicht so reiche Kollege Söder (CSU) inne gehabt.

Im Verwaltungsrat werden wichtige Entscheidungen getroffen. Das zeigt schon lange sein biologisch jüngstes Mitglied, Leonhard Dobusch (Jg. 1980). Just erschien Folge 97 seiner netzpolitik.org-Reihe, liebevoll illustriert. Screenshots aus der Mediathek heben die unscheinbaren Hinweise auf eine wichtige, "durchaus voraussetzungsreiche" Veränderung unterhalb der Benutzeroberfläche hervor, und zeigen: Das gemeinsame Streaming-Netzwerk von ARD und ZDF kommt in die Gänge.

Mehr als so eine "technische Verschränkung" der Mediatheken möchte Dobusch aber nicht, sondern spricht sich gegen eine unübersichtliche "Mega-" bzw. "Supermediathek" (Altpapierkorb) bzw. "Monster-Mediathek", wie der jeweils erwähnte  Peer Schader bei dwdl.de sie nannte, aus. Der hatte geschrieben, dass "eines der größten Probleme etablierter Streaming-Anbieter" darin besteht, "dass sich das zur Auswahl stehende Gesamtangebot kaum sinnvoll sichtbar machen lässt", und dass insbesondere die ARD-Mediathek "immer noch eine Ansammlung an Bildkachelgewittern" sei. Dobusch hebt aufs "grundsätzliche Problem unterschiedlicher Logiken zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Medien" ab: An "vielfaltsfördernden Empfehlungssystemen" hätten "privat-profitorientierte Mitbewerber" kein Interesse.

Stimmt alles. Ein Kollateralnutzen zumindest einer gemeinsamen ARD/ZDF-Mediathek bestünde aber wohl darin, dass – wenn etwa das riesengroße Krimiangebot der ARD mit dem riesengroßen des ZDF zusammenliefe – mega-deutlich würde, wieviel äußerst Ähnliches die deutschen Öffentlich-Rechtlichen produzieren, und das oft in eher mittelmäßiger Qualität. Also, wo durch Einsparungen die durchschnittliche Gesamtqualität erhöht werden könnte ...

"Die Öffentlich-Rechtlichen müssen im Netz eine gemeinsame Plattform bilden" fordert heute auf der "FAZ"-Medienseite Christiane Schenderlein. Die Sprecherin für Kultur und Medien der CDU/CSU-Bundestagsfraktion" meint damit aber vor allem technische Verschränkung à la Dobusch:

"Im Mittelpunkt der ARD-Mediathek sollten vor allem die Inhalte der Landesrundfunkanstalten stehen. Wer zum Beispiel von Sachsen aus die ARD-Mediathek aufruft, sollte auf der Startseite prominent die Inhalte des MDR über Sachsen finden. Das bedeutet, der Empfehlungsalgorithmus ist so zu programmieren, dass regionale Inhalte aktiv angeboten werden. Das wäre ein eindeutiger Mehrwert eines öffentlich-rechtlichen Algorithmus, der unbedingt aus Deutschland kommen sollte."

Dobusch schreibt von Algorithmen im Plural, etwa, dass eine gemeinsame Plattform es erleichtere, "verschiedene Portale mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten" und "unterschiedlichen Empfehlungsalgorithmen" aufzusetzen. Klingt, als könnte da tatsächlich mal eine inhaltlich fundierte Diskussion entstehen. (Und was Schenderlein sonst so fordert, etwa dass das Deutschlandradio "aus Effizienzgründen und zum Zweck der klaren Zuordnung von Verantwortlichkeiten in der zunehmend zusammenwachsenden digitalen Medienwelt in die Verantwortung des ZDF überführt werden" sollte, dürfte zumindest die ZDF-Verantwortlichen auch kaum ärgern).

P7S1' Strategie. Und die DSC-Frage

Wer die Groß-Mediatheken-Idee wieder aufs Tapet gebracht hatte, war ProSiebenSat.1 Media. Dessen Vorstandsvorsitzender Bert Habets war vor einer Woche bei einem Medienwächter-Symposium in Berlin zu Gast. Auf Deutsch hielt der Niederländer einen Vortrag, in der er auf die P7S1-Plattform joyn.de einlud. In der folgenden Diskussion, in der er Habets dann englisch mitdiskutierte, reagierte der ARD-Vorsitzende Kai Gniffke recht begeistert (Altpapier). Nun hat Habets seine Gesamtstrategie vorgestellt. "Entertainment" soll wichtig bleiben, und P7S1

"will außerdem den 'Aggregator-Ansatz' von Joyn stärken. Erst vor wenigen Tagen lud Bert Habets die Öffentlich-Rechtlichen dazu ein, Joyn als branchenverbindene Plattform auszubauen. Ob das mehr war als eine Sonntagsrede, wird abzuwarten bleiben. Noch jedenfalls ist nicht anzunehmen, dass Joyn bald der Dreh- und Angelpunkt für einen Großteil der TV-Sender in Deutschland wird",

analysiert dwdl.de etwas enttäuscht angesichts weniger Neuigkeiten. Tatsächlich war P7S1 ja in Deutschland einst mit seiner Plattform namens "Maxdome" ein relativer Pionier und hatte zwar früh gute Ideen gehabt, etwa alle auf das tatsächliche joyn.de einzuladen. Aber schon damals ließ sich niemand ein, "weil alle lieber auf eigene Rechnung streamen wollen", stand im Altpapier-Rückblick aufs Jahr 2021. Es ist ein arg alter Hut, den Habets da in die Luft geworfen hatte.

Interessanter war der erste Teil der Medienwächter-Veranstaltung, über den eher wenig berichtet wurde, außer beim kostenpflichtigen KNA-Mediendienst (von mir). Da ging es um die offiziell weiterhin offene Frage nach dem DSC. Beim DSC handelt es sich nicht etwa um die deutsche Version des vielbeachteten, unter wackeren Bemühungen der ARD mit-veranstalteten ESC, sondern um den in diesem Altpapierkorb schon mal erwähnten "Digital Services Coordinator". Der talkshowbekannte Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller setzte sich schon mal auf ein Podium, um wenig mehr zu tun als sehr deutlich nicht zu dementieren, dass seine Agentur die deutsche Umsetzung des EU-Gesetzes DSA koordinieren soll. Scheint, als sei das längst beschlossen, und die vielfältig herausge- bis überforderte Bundesregierung hat bloß noch keine Zeit gefunden, es auch mitzuteilen.

Verboten & verteidigt: Tiktok-Fragen

In der deutschen Berichterstattung wird's wenig beachtet, geopolitisch nehmen Diskussionen bis Konflikte um das, was der DSA als digitale Dienste definiert zu, ganz besonders um Tiktok.

Vorige Woche verteidigte Tiktok-Chef Shou Chew, ein Staatsbürger Singapurs, seinen Dienst im Handelsausschuss des US-amerikanischen Kongresses mit Sätzen wie "Tiktok selbst ist nicht auf dem chinesischen Festland erhältlich, wir haben unseren Hauptsitz in Los Angeles und Singapur, und wir haben heute 7.000 Mitarbeiter in den USA" ("Standard"). Das Tiktok-Video, in dem sich Chew zuvor noch über 150 Millionen Nutzer in den USA freute, ist etwa, chinakritisch eingerahmt, am Anfang dieses Youtube-Zusammenschnitts der Befragung zu sehen.

Tiktok-Verbote und Nichtnutzungs-Empfehlungen für jeweils bestimmte Geräte und/oder Personengruppen bestehen auch außerhalb der USA, etwa in Frankreich – und beim Europäische Parlament. Das verbietet Tiktok seit dem 20. März auf Diensthandys und -computern und empfahl Abgeordneten, ­es auch von privaten Geräten zu löschen. Woauf der jüngste deutsche Abgeordnete, der 29-jährige Grüne Malte Gallée, der "taz" erklärte, er sei mit Tiktok als "wichtigster Plattform, um Bürger:innen und Wähler:innen zu erreichen", "sehr happy".

Zu diesem komplexen Themen-Komplex lesenswert ist ein bemerkenswertes Interview, das das keineswegs besonders Datenkraken-kritische Wirtschafts-Ressort  "FAZ" am Montag mit Albert Fox Cahn von der US-amerikanischen Organisation Surveillance Technology Oversight Project (STOP/ stopspying.org) führte. Die US-amerikanische Kritik am chinesisch beherrschten Tiktok sehe den Wald vor lauter Bäumen nicht, argumentiert Cahn da:

"Die Abgeordneten sind so schockiert darüber, wie Tiktok Daten sammelt, aber sie ignorieren völlig, was amerikanische Konzerne und Ermittlungsbehörden machen. Wenn Abgeordnete erschrocken darüber sind, dass Tiktok in WiFi-Netze eindringt oder Lokalisierungsdaten abschöpft, warum wenden sie sich nicht gleichzeitig gegen Google, Meta und ungezählte andere Unternehmen?"

mit unterfüttert das mit sehr konkreten Beispielen:

"... Oder der Fall des Radfahrers in Florida, der in der Nähe eines Tatortes radelte. Die Ermittler sahen sein Bewegungsmuster als verdächtig an und holten ihn zum Verhör. Geofencing-Beschlüsse bedeuten, dass die Polizei einen Kreis um einen Punkt ziehen kann und die Technologiefirmen anweisen kann, Daten über jede einzelne Person in diesem Kreis abzuliefern. Mit einem einzigen Gerichtsbeschluss können plötzlich 1000 Leute nachverfolgt werden."

Nutzen Behörden in EU-Staaten solche Möglichkeiten und/oder sollten sie es können? Sollten US-amerikanische Digitale Dienste  aus europäischer Sicht grundsätzlich anders bewertet werden als chinesische? Solche Fragen verdienten mehr Aufmerksamkeit. Ob der DSA und eine zentralistische Bundes-Koordinationsstelle den föderalistisch zersplitterten Landesmedienanstalten bei kaum beachteten (und wenig erfolgreichen) Bemühungen, die allesamt nichteuropäischen Plattformen zu regulieren, eher helfen oder im Gegenteil, wäre gleich noch eine offene Frage.

Thema Klima (aber nicht, wie Sie meinen)

Berichten die Öffentlich-Rechtlichen über die Klimakrise zu viel oder eher, etwa im Vergleich mit ihrem Krimi-Angebot, zu wenig? Dazu gibt es unterschiedliche Meinungen. Vielleicht hat der NDR seinen "Klimabericht" deswegen so genannt. Die einen trauen ihm sowieso nicht zu viel oder sehen schnell, dass es um ihr Thema nicht geht. Die anderen winken sofort ab.

Dabei geht's im "Klimabericht" gar nichts um echtes Klima, sondern ums "Klima der Angst" im eigenen Haus, von dem die NDR-Spitze im September erschreckt erfuhr. Nun liegt dazu ein 99-seitiger Bericht des Theologen, Managers, einstigen "Hinz und Kunzt"-Initiators sowie Ex-Rundfunkrat-Mitglieds Stephan Reimers vor. Die offizielle NDR-Pressemitteilung macht konstruktiv das Beste daraus:

"Rund 1000 NDR Mitarbeiter*innen haben daran mitgewirkt und in Gesprächen mit Dr. Stephan Reimers und seinem Team in einem geschützten Rahmen Verbesserungspotenziale in der Unternehmenskultur benannt. Alle festen und freien Mitarbeiter*innen können sich ab sofort am Kulturprozess im Sender beteiligen."

Kritische Leser aus privaten Medien fanden dagegen allerhand härter kritische Aussagen aus dem NDR heraus, die sie gerne verwenden:

"Die duale Struktur der Beschäftigungsverhältnisse von festangestellten und freien Mitarbeitenden im NDR sieht Reimers als 'Sackgasse'. Sie führe zu Unmut und zu einer 'Zwei-Klassen-Gesellschaft'. Das beeinträchtige auch die kollegialen Beziehungen, die stellenweise deutlich von gegenseitigem Misstrauen und Konflikten geprägt seien",

zitiert die "Süddeutsche". Das "FAZ"-Medienressort entdeckte folgende Faustregel:

"Wie wird man Chef im NDR? 'Man muss ins System passen, braucht Vitamin B und muss seine nächsthöhere Führungskraft kennen.'"

"Der NDR wird in dem Papier als ein 'behördlich organisiertes Rundfunkunternehmen' beschrieben, in dem sich eine 'immense Binnenkomplexität mit starren Strukturen, bürokratischen Prozessen und vielen Regeln' entwickelt habe",

legt businessinsider.de noch 'ne Schippe drauf. Dass beim RBB erst recht kein prima Klima herrscht, muss eigentlich nicht erwähnt werden. Höchstens die aufgekochte Ärger über außer-, also übertariflich ausgeschriebene Spitzenposten mitten während der in unteren Etagen anlaufenden Einsparbemühungen, von dem die "Berliner Zeitung" berichtete, verdient vielleicht einen Klick. Viel Stoff als für die außerdem angelaufene Rundfunkbeitrags-Erhöhungs-Debatte. Doch da verdient unbedingt noch was Positives Erwähnung!

König Charles im Fernsehen

ARD und ZDF haben offenkundig gelernt, zeigt ein Blick in die im redaktionellen deutschen Internet zirkulierende dpa-Servicemeldung "Wird der Besuch von Charles im TV übertragen?" (z.B. recht übersichtlich bei sueddeutsche.de)

Offenbar verzichten das Erste und das ZDF darauf, ihrem Publikum die demokratiefördernden Vorzüge publizistischen Wettbewerbs durch gleichzeitige, mit Experten-Einordnungen aufgepimpte Live-Berichte von König Charles' Deutschland-Besuch demonstrieren zu wollen. Während die ARD am heutigen Mittwochnachmittag etwa "die militärischen Ehren am Brandenburger Tor und den Empfang im Schloss Bellevue" überträgt, sendet das ZDF "Die Küchenschlacht", "Bares für Rares" und "Die Rosenheim-Cops" und womit es sonst so seine Aufträge erfüllt. Wenn dann am Donnerstag das ZDF Charles' Begrüßung durch den Bundekanzler und seine, des Königs, Rede im Bundestag sendet, zeigt die ARD "Wer weiß denn sowas?" und sowas.

Wobei das womöglich mittelfristig wegflexibilisierte Phoenix eine zweite öffentlich-rechtliche Meinung bietet und die vom Königsbesuch lokal betroffenen Landesrundfunkanstalten NDR und RBB zusätzlich berichten (der RBB, der unterhalb der Chefetagen spart, aber nur 15 Minuten abends). Und das Duale System aus ÖRR und Privaten, von dem Medienwächter immer noch sprechen, als habe sich die Medienwelt nicht verändert, auch funktioniert: Bei Welt TV "wird darüber hinaus Adelsexpertin Gloria Fürstin von Thurn und Taxis das Geschehen kommentieren", ergänzt rnd.de.


Altpapierkorb (Scheineinwilligung, Staatstrojaner, Autorenn-Fernsehen)

+++ "'Scheineinwilligungsmodelle', wie sie täglich bei den vielfach als nervig empfundenen Cookie-Bannern zu sehen seien"? Das ist nur einer von mehreren bemerkenswerten Aspekten, auf die Stefan Krempl für heise.de im Tätigkeitsbericht des Hamburgischen Beauftragten für Datenschutz, Thomas Fuchs, stieß. "Eine auf die Gewinnung, das Teilen und Nutzen von Daten orientierte Gesellschaft 'kann nicht datensparsam sein'", argumentierte Fuchs außerdem. +++

+++ Dass der US-amerikanische Präsident nun den Einsatz "kommerzieller Staatstrojaner" in den USA beschränkte, sei "ein notwendiger erster Schritt, kann aber nicht der letzte sein", meint netzpolitik.org-Chefredakteurin Anna Biselli. +++

+++ "... und weil Woelki ein großgewachsener Mensch ist, sieht es aus, als würde der Erzbischof vor Richter Dirk Eßer da Silva, seinem irdischen Richter knien": klassische Gerichtsreportage von der Verhandlung im Prozess des Kölner Kardinals gegen die "Bild"-Zeitung heute auf der "SZ"-Medienseite. +++

+++ Autorenn-Fernsehen hat's auch nicht leicht. "Im Autofahrerland Deutschland ... findet sich weit und breit kein Free-TV-Sender, der vier Rennen der Formel 1 zeigen will", obwohl das die Veranstalter eigentlich verlangen ("Tagesspiegel"). +++

Das nächste Altpapier schreibt  am Donnerstag Ralf Heimann.

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