Das Altpapier am 10. März 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 10. März 2023 Hat Fox News was mit Journalismus zu tun?

10. März 2023, 10:44 Uhr

Eine britische Fußballlegende liefert deutschen Medien Klickstoff. Eine empirische Untersuchung deutschsprachiger Medien zeigt, dass "woke" zu einem Allzweck-Kampfbegriff geworden ist. Ob Mastodon Erfolg haben wird, hängt auch davon ab, ob künftig öffentliche Gelder in den Betrieb von Instanzen fließen. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Was Gary Lineker wirklich gesagt hat

"Nazi-Vergleich", "NS-Vergleich", "Vergleich mit Nazi-Deutschland" - solche Formulierungen triggern vermutlich recht viele Zielgruppen recht gut beziehungsweise bringen viele KIicks. Das dürfte ein Grund dafür sein, dass zahlreiche deutschsprachige Medien bei ihren Berichten über einen privaten Tweet des reichweitenstarken BBC-Moderators Gary Lineker zur geplanten Verschärfung des Asylrechts in Großbritannien diese Formulierungen in Überschriften und Teasern verwendeten - zum Beispiel "Spiegel", "Hamburger Morgenpost" und der "Kölner Stadt-Anzeiger". Beim "Tagesspiegel" klickte am Donnerstag ein Text zu dem Thema um 14.30 Uhr offenbar so gut, dass 90 Minuten später ein weiterer rausgehauen werden musste, in dem substantiell nichts anderes drin steht als im ersten.

Der frühere Nationalmannschaftsstürmer Lineker ist so etwas wie das Gesicht des BBC-Fußballjournalismus, und in besagtem Tweet hat er ein barbarisches Asylgesetz kritisiert, das die britische Regierung plant. Freundlicherweise zitieren die Berichterstattenden das, was etwa der "Tagesspiegel" in suboptimalem Deutsch als "umstrittenen Vergleich der britischen Flüchtlingspolitik mit Nazi-Deutschland" bezeichnet, wörtlich. Lineker schrieb:

"Dies ist eine unermesslich grausame Politik, die sich gegen die am stärksten gefährdeten Menschen richtet, in einer Sprache, die der von Deutschland in den Dreißigerjahren nicht unähnlich ist (…)"

Der historische Bezug bezieht sich also nicht auf die geplante politische Maßnahme, sondern auf die Sprache, in der für die Verschärfung geworben wird. Und dass die Formulierung "nicht unähnlich" ("not dissimilar") bedeutet, dass es Parallelen, aber auch Unterschiede gibt, hätte man bei der Beschreibung der Causa natürlich auch erwähnen können. Ob Linekers Kritik optimal formuliert ist, ist eine andere Frage. Man hätte die protofaschistische Ideologie, die in der geplanten Rechtsverschärfung zum Ausdruck kommt, auch benennen können, ohne historische Bezüge herzustellen. Aber: Ein "Nazi-Vergleich" ist Linekers Tweet ganz gewiss nicht.

Dass die Tories nun scharf reagieren auf die Äußerung des Ex-Stürmers, hat natürlich auch damit zu tun, dass Lineker die Partei aus anderen, für die Betroffenen vermutlich noch unangenehmeren Gründen bereits im vergangenen Herbst scharf angegriffen hat.

Wenn ein Medienhaus nur der kommerzielle Arm einer politischen Bewegung ist

Die Erkenntnisse, die aus den Akten hervorgehen, die Teil eines Verleumdungsprozesses sind, die der Wahlmaschinenhersteller Dominion gegen Fox News angestrengt hat (siehe etwa dpa/newsroom.de), thematisieren Rieke Havertz und und MDR-Programmdirektor Klaus Brinkbäumer im Zeit-Online-Podcast "Ok, America?".

Havertz sagt, die internen Dokumente zeigten, dass es bei Fox News "schon lange nicht mehr um Journalismus geht". Sie zitiert den auch im Altpapier oft erwähnten Journalismusforscher Jay Rosen. Vor einer Woche hatte der getwittert:

"Wenn ich den Begriff Fox verwende, dann meine ich den kommerziellen Arm einer politischen Bewegung, die die Kontrolle über die Republikanische Partei übernommen hat."

Aber wie lange ist "schon lange" (Havertz)? Dazu Dan Gillmor, Professor an der Arizona State University’s Walter Cronkite School of Journalism and Mass Communication, neulich:

"Fox 'News' war in den letzten zehn Jahren und länger ein durch und durch unehrlicher, unerbittlicher Propagandist (…) Doch die Journalistenbranche beharrt darauf, sie als News Outlet zu bezeichnen (…) Es ist entmutigend."

Was wir dank des von Dominion angestrengten Prozesses auch wissen:

"Rupert Murdoch is not a master manipulator. He’s just another nervous performer on the stage, prepared to pull any stunt, if it will keep his audience happy. Fox News is not indoctrinating the American right. If anything, the American right is indoctrinating Fox News."

Diese Erkenntnis formulierte jedenfalls am vergangenen Wochenende Nick Cohen in seinem Substack "Writing from London".

In diesen Kontext passt auch die Kritik des US-Präsidenten Joe Biden an einer Fox-News-Sendung, in der der Putschversuch vom 6. Januar 2021 verniedlicht wurde (siehe etwa n-tv.de).

Die Ministeriums-Honorare - eine Zwischenbilanz

Am Dienstag hat Jens Weinreich in einem Thread (siehe Altpapier von Donnerstag) erstmals eine Antwort der Bundesregierung auf eine AfD-Anfrage ausgewertet, aus der hervorgeht, dass "die Bundesregierung und nachgeordnete Bundesbehörden in den vergangenen fünf Jahren rund 1,5 Millionen Euro an Journalisten für Moderationen, Texte, Lektorate, Fortbildungen, Vorträge und andere Veranstaltungen gezahlt haben" (wie es der Deutschlandfunk am Donnerstag nachrichtlich formulierte).

Wie haben auf diese Auflistung bisher jene Medien reagiert, deren Mitarbeitende von den Honoraren profitiert haben? Die allermeisten gar nicht. Ausnahmen: der Deutschlandfunk (siehe die eben erwähnten Meldung), die FAZ am Donnerstag in einem kostenpflichtigen Kommentar sowie "Die Welt" u.a. am Mittwoch online in einem ebenfalls kostenpflichtigen Text. Die beiden erstgenannten Medien erwähnten allerdings nicht, dass auch Kollegen ihrer Häuser Honorare erhielten. "Die Welt" wiederum tat es unter dem dem Text, der mit der vom Kern des Thema eigentlich eher ablenkenden Überschrift "Im Auftrag des Kanzleramts - Linda Zervakis erhielt für Moderation fast 11.000 Euro" versehen ist. Dort heißt es:

"Anmerkung der Redaktion: Auch ein Journalist des Axel-Springer-Konzerns, zu dem auch WELT gehört, moderierte laut der Liste der Bundesregierung in den Jahren 2018 und 2020 für das Wirtschaftsministerium insgesamt drei Veranstaltungen."

Dieses kleinen Distinktionsgewinn verspielt die Zeitung dann aber durch folgende Passage:

"Vor allem das Haus von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) war demnach in den vergangenen Jahren Journalistinnen und Journalisten des ÖRR besonders zugetan: Es vergab Aufträge in Höhe von rund 143.000 Euro an ÖRR-Vertreter und in Höhe von knapp 56.000 Euro an Journalisten privater Medienhäuser."

Völlig falsch ist das zwar nicht, es erweckt durch die Erwähnung des Namens Habeck aber einen wohl beabsichtigten falschen Eindruck. Denn: Das Bundeswirtschaftsministerium vergab in der Zeit zwischen 2018 und 2022 zwar 33 Aufträge an Journalistinnen und Journalisten. 28 davon gingen aber raus, als nicht der Grüne Habeck Hausherr war, sondern der Nicht-Grüne Peter Altmaier.

Zur transfeindlichen Berichterstattung der "New York Times"

Inwiefern in den USA "Mainstream-Publikationen, insbesondere die New York Times (…) die Rechten durch Verbreitung und Bestätigung transphober Ideen unter Gemäßigten und Liberalen unterstützt", war an dieser Stelle bereits Thema im Dezember. Aus diesen Gründen hat Mitte Februar nun eine Gruppe von Mitarbeitenden mit einem Brief an "ihre" Zeitung protestiert, die SZ hat vor zwei Wochen u.a. über diesen Brief berichtet. Zeit Online (€) veröffentlicht nun einen Text, in dem die Kulturkritikerin Jo Livingston, eine der Erstunterzeichnenden des Protestschreibens, über die Hintergründe und die Reaktionen schreibt:

"Eine Gruppe von Autor:innen aus New York City, zu der auch ich gehöre, hatte einen Brief an den für die redaktionellen Standards der Times verantwortlichen Redakteur geschickt, Philip Corbett (…) Unterschrieben hatten 120 weitere Autor:innen, Fotograf:innen, Illustrator:innen und andere Mitarbeitende der NewYorkTimes - und die Liste wuchs rasch auf 1.200 Unterzeichnende an (…) In unserem Schreiben wiesen wir auf den alarmierend großen Platz hin, den die Times in jüngster Zeit auf ihrer Titelseite rhetorisch problematischen Fragen zu geschlechtsangleichender medizinischer Versorgung für Minderjährige einräumt, und beschrieben, dass diese Berichterstattung Einzug ins Rechtssystem der Vereinigten Staaten gehalten hat. Wir bezogen uns auf verschiedene Amicus-Schriftsätze von US-Politiker:innen, die die Rechte von trans Personen einschränken wollen und in diesen gerichtlichen Stellungnahmen direkt aus Times-Artikeln zitierten."

Livingston und ihre Mitstreitenden seien daraufhin mit "Beleidigungen seitens der Times" konfrontiert gewesen, von "der Androhung von Vergeltungsmaßnahmen" ist in dem Zeit-Online-Text ebenfalls die Rede.

"Nur wenige Tage nachdem sie unseren Brief erhalten hatten (…), schickten die Chefredakteur:innen Joe Kahn und Carolyn Ryan einen internen Vermerk an Belegschaft der Zeitung, in dem sie feststellten, dass sie ‚die Beteiligung von Times-Journalist:innen nicht begrüßen und dulden werden’. Redaktionsmitglieder wurden zu Disziplinargesprächen einbestellt."

Womit auch ein Problem gestreift wäre, das für die allermeisten Medienhäuser gilt: Sie sind letztlich autoritäre Systeme, völlig unabhängig davon, für was sie inhaltlich stehen.

Zu den Perspektiven von Mastodon

"Tschüss Meta, hallo Mastodon!", lautet die Überschrift eines Artikels für "Le Monde Diplomatique", in dem Felix Stalder, Professor für Digitale Kultur an der Zürcher Hochschule der Künste, die Perspektiven von Mastodon skizziert:

"Mit Mastodon besteht nun zum ersten Mal seit Langem wieder die Chance auf eine nicht rein kommerzielle Infrastruktur für Alltagskommunikation. Und das ist im Hinblick auf demokratische Kommunikation sehr zu begrüßen."

Und was muss passieren, damit Mastodon "aus seiner Nische hinauswachsen" kann?

"Statt einfach weiter darauf zu setzen, dass der Markt es irgendwie regeln werde, müssen öffentliche Mittel in die Entwicklung der Software und den Betrieb von Instanzen gesteckt werden. Wenn etwa Universitäten ihren Studierenden und Mit­ar­bei­te­r:in­nen nicht nur E-Mail-Adressen, sondern auch Mastodon-Accounts zur Verfügung stellen würden, würde das enorm in die Breite wirken. Gerade für Europa, das Gefahr läuft, technologisch abgehängt zu werden, bietet sich hier eine seltene Chance für eine eigenständige Entwicklung, die weltweit ausstrahlen kann."

"Die Woken" sind immer die Anderen

Im "Sprachreport" des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache hat ein sechsköpfiges Autorenteam (Lukas Bettag, Sven Bloching, Jöran Landschoff, Ulrike Lohner Joachim Scharloth und Yuanyuan Wang) eine empirische Untersuchung veröffentlicht, die sich damit befasst, wie sich die Verwendung des Begriffs "woke" in all seinen Wortformen in der Zeit zwischen 2016 und 2021 bei Zeitungen, Zeitschriften und Online-Plattformen entwickelt hat.

In einem Thread bei Mastodon fasst Scharloth, Professor für germanistische Sprachwissenschaft an der Waseda-Universität in Tokio, einen Teil der Untersuchungsergebnisse so zusammen:

"Der affirmative Gebrauch von 'woke' ist selten. Es dominiert die Verwendung als Stigmawort von Rechts. Hier ist 'woke' eine Chiffre, ein semantisch unterbestimmtes Zeichen, mit negativ-wertender Funktion. Zwar lässt sich ein vager Bedeutungskern identifizieren (…) Allerdings dieser Bedeutungskern insofern leer, als er mit wechselnden Stereotypen gefüllt wird, je nachdem, auf welchen Sachverhalt die Wertung zielt. Dies ermöglicht es, dass so unterschiedliche Dinge wie Genderpolitik, Weltmeisterschaften, Klimaproteste, Medien, Nahrungsmittel, Politiker, Eltern, Hollywoodfilme, Sprachkritik oder Großstädter woke sein können."

In der Untersuchung heißt es in dem Zusammenhang:

"Als eine (…) Chiffre, die je nach Kontext und Nutzergruppe eine unterschiedliche Bedeutung erhält – oder zumindest einen unterschiedlichen Bedeutungsschwerpunkt –, erhält der Begriff jenseits seiner semantischen Ausprägung vor allem eine pragmatische Funktion zwischen Zuschreibungsvokabel und Stigmawort: 'Die Woken' sind immer die Anderen."

Einigermaßen tröstlich vielleicht, dass die Autoren der Untersuchung herausgefunden haben, "dass die relative Frequenz der Verwendungen von woke in traditionellen Zeitungsmedien deutlich niedriger ist als in den rechten bzw. rechtsextremen Meinungsplattformen PI News und Tichys Einblick". Andererseits: Dass sich das nach Ende des Untersuchungszeitraums geändert hat, ist nicht unwahrscheinlich.

Scharloth zieht in seinem Thread folgendes Fazit:

"Durch den Gebrauch des Ausdrucks wird das Stereotyp performativ hergestellt und zu einem evaluativen Schema der Abwertung von Personen, Themen und Werten, die mit dem Vorwurf der Weltfremdheit, der bloßen Attitüde und der Heuchelei begründet wird."


Altpapierkorb (Faktenchecks, Oxi, Shane McGowan)

+++ "Faktenchecks (…) sind eine kommunikative Begleiterscheinung politischer Konflikte", aber kein "wirksames Mittel zu ihrer Lösung", lautet das Fazit einer Betrachtung des Faktencheck-Genres von Nelli Tügel in der taz, deren aktueller Anlass zwei in Teilen missglückte Überprüfungen sind.

+++ "5.000 Abonnements würden es uns ermöglichen, in der gewohnten Form weiterzumachen. Zur Ehrlichkeit gehört: 4.000 fehlen uns dafür noch" - dieses Bekenntnis der Wirtschaftszeitung "Oxi" haben wir Mitte Oktober hier zitiert. In einem aktuellen Aufruf an potenzielle Abonnenten verlinken die Macher auf einen Beitrag, aus dem hervorgeht, dass weiterhin 4.000 fehlen. Das klingt nicht ermutigend. Neue Abonnenten braucht das Monatsblatt nun aber dringend, weil die bisherige Finanzierung auf einer Kooperation mit dem ND beruhte. Die läuft jetzt aber aus: Heute liegt "Oxi" zum letzten Mal der Zeitung bei.

+++ Was sollte man heute gucken im linearen Fernsehen? "Mein Leben mit den Pogues", Julien Temples Dokumentarfilm über Shane McGowan, "einer der größten Rock'n'Roll-Sänger und Songwriter der letzten Dekaden", wie Joachim Hentschel ihn in der SZ (€) nennt. Es sei zwar erschütternd, "den einst vor Poesie sprühenden, belesenen Mann als zerzausten, hilflosen Greis im Rollstuhl zu sehen". Aber: Der Film sei "keine Krankengeschichte, vielmehr eine Studie über das Wesen der Inspiration, des kulturellen und biografischen Erbes in der Kunst".

Das Altpapier am Montag schreibt Christian Bartels. Schönes Wochenende!

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