Das Altpapier am 6. März 2023: Porträt der Altpapier-Autorin Jenni Zylka
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 6. März 2023 Zwölf Frauen müsst ihr sein

06. März 2023, 10:16 Uhr

Das Time Magazine ernennt zwölf Frauen zu "Women of the year“, und trifft dabei eine eklektische Auswahl. Und Bingen ist nicht Schlingen. Die Medienthemen des Tages kommentiert Jenni Zylka.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

"Wenn ich groß bin, werde ich ein Mann"

Diese Cate Blanchett! Bereits mit fünf Jahren ordentlich vergrübelt, wie das Time Magazine soeben verriet, in einer kleinen Eloge auf diese (in der westlichen Welt) Prominenteste ihrer zwölf "Women of the Year“. Die exakt vor 100 Jahren gegründete und bis vor kurzem wöchentlich, momentan vierzehntägig erscheinende Zeitschrift hatte sich im letzten Jahr entschieden, statt der Ovation an nur eine "Person of the Year" längere "Women“-Listen vorzuschlagen, einerseits wegen des anstehenden Frauentags, andererseits um die jahrzehntelange männliche Dominanz in diesen subjektiven Ehrungen endlich nachhaltig zu verwässern und -bessern. Über die frisch Geehrte weiß das aktuelle Time Magazine jedenfalls Folgendes zu berichten:

“When Cate Blanchett was around 5, she wrote a mini essay—saved for years by her mother and unearthed serendipitously during a recent move—envisioning her possible future as an adult: “When I grow up, I would like to be a man. I would still love my family. But I could light a fire and go to work. And when I’m bored being a man, I think I’ll just be me.””

Glücklicherweise brauchte Blanchett in ihrem Erwachsenenleben dann doch kein Mann zu werden, um erfolgreich zu sein und Feuer (im übertragenden Sinne könnte man vielleicht sagen "uns die Hölle heiß“) zu machen, sondern konnte von Anfang an sie selbst bleiben. Der Rest der Laudatio ist ebenso zugewandt wie gängig, ähnlich wie Blanchett selbst – es geht um die Vielfältigkeit in ihren Rollen, vor allem natürlich ihre Oscar-nominierte schauspielerische Leistung als unnette, unwiderstehliche, untypische aber immerhin klassisch-klassistische Dirigentin Lydia Tár. Die aktive Klimakämpferin und UN-Botschafterin Blanchett, so das Time Magazine, sei sich dabei ihrer Privilegien durchaus bewusst:

“…her father died suddenly, with no life insurance, when she was 10. Her mother and grandmother raised her and her two siblings on their own. But she speaks of her childhood circumstances only glancingly, fully aware of her advantages, including those that come simply with being born a white Australian. In 2012, she was horrified when her home country decided to shunt processing of refugees and asylum seekers offshore, to Manus and Nauru, and the shame of it spurred her to action.”

Boxerin und Menschenrechtsaktivistin

Die anderen elf Time-"Frauen des Jahres" sind zwar (bislang) größtenteils nicht ganz so berühmt, dafür aber eventuell effektiver: Mit der “Black Panther – Wakanda Forever”-Darstellerin Angela Bassett ist eine Schauspiel- (und Oscar-)Kollegin dabei; darüber hinaus freuen sich die kalifornische Musikerin Phoebe Bridgers, die sich offen für das Recht auf Abtreibung einsetzt; Quinta Brunson, die "Abbott Elementary“-Erfinderin, Produzentin und Hauptdarstellerin, in deren formidabler Comedy-Serie es vor allem um die benachteiligte Bildungssituation Schwarzer US-Amerikaner:innen geht; die pakistanische Klimaschützerin und Dichterin Ayisha Siddiqa; die beiden Sportgrößen Megan Rapinoe (Fußball) und Ramla Ali (Boxen) die sich für gerechte Sportförderung unabhängig von Gender und Herkunft einsetzen; die iranische Journalistin Masih Alinejad, die sich aktuell in der FAZ enttäuscht von Annalena Baerbocks Außenpolitik zeigt; Olena Shevchenko, eine ukrainische LGBTQ+-Aktivistin; die neue brasilianische Ministerin für Gleichstellung ethnischer Gruppen in Lulas Kabinett, Anielle Franco; und die mexikanische Menschenrechts- und Abtreibungsrechtsaktivistin Verónica Cruz Sánchez.

Japan und die Gleichberechtigung

Nummer Zwölf fehlt noch: Makiko Ono, die zwar erstaunlicherweise noch keinen Wikipedia-Eintrag hat (dabei könnte den ja jederzeit jede:r anlegen!), aber eine der interessantesten Frauen auf dieser ohnehin interessanten und illustren Liste ist: Ono führt als CEO einen der größten Getränkekonzerne weltweit, nämlich das japanische Unternehmen "Suntory Beverages“.  Sie will dafür sorgen, dass im Jahr 2030 mindestens 30 Prozent des Managements weiblich ist. Und das in Japan, das nach einer Studie der Weltbank im Jahr 2023 in der "Gleichstellung der Geschlechter"auf Platz 104 (von 190) zurückfiel, dem letzten von einem OECD-Land belegten Platz! Ich hoffe, ach was, ich bin zuversichtlich, dass es dieses kleine Medienwatchblog in sieben Jahren noch gibt, damit ich nachschauen und die japanischen Managerinnen nachzählen kann.

Eine zum Frohlocken anregende Liste ist das – vor allem, wenn man sie mit der "Liste der peinlichsten Berliner" vergleicht, mit der das Berliner Stadtmagazin "tip"seit 1999 kleine, fiese Nadelstiche austeilt, hier ist die "Schamliste"aus dem letzten Jahr, angeführt von Patricia Schlesinger – natürlich hat der tip größtenteils Recht mit seinem Geätze. Trotzdem ist es doch auch mal wieder angenehm, jemanden oder etwas toll zu finden.

Am Stück oder in Scheiben?

Und wo wir gerade bei Angenehmem sind: Toll findet der Tagesspiegel die Disney-Serie "The Mandalorian“, deren dritte Staffel seit ein paar Tagen angelaufen ist. Sie wird im Blatt zum Anlass genommen, die Modelle "Bingen" und "Ausstrahlung im Wochenrhythmus" nebeneinander zu stellen – das ist beileibe nicht das erste Mal, dass diese beiden Rezeptionsmöglichkeiten verglichen werden, unter anderem Sky und Netflix Frankreich hatten bekanntlich längst reagiert und linearfernsehähnliche Ausstrahlungsmodelle konzipiert (bzw. sich bei den alten Fernsehvorfahren abgeguckt). Aber der Tagesspiegel versucht, noch einmal bildhaft auf den Punkt zu bringen, wieso das "Bingen"eben auch eine negative Konnotation haben könnte:

""Bingen"kommt von "to binge on sth.“, also übersetzt: etwas verschlingen. Wer das tut, hat weniger Zeit zum Durchdenken – und wendet sich anschließend rasch etwas Neuem zu, statt sich wochenlang mit derselben Serie zu befassen. Ich fühle mich nach dem Bingen einer guten Serie so, als hätte ich ein leckeres Gänge-Menü verschlungen: Es war lecker, genug gewürdigt habe ich die Speisen aber nicht. Und mir ist jetzt ein bisschen schlecht.“

Diese Erfahrung scheint aber zum Glück subjektiv zu sein - mir wird nämlich nie schlecht vom Bingen, ich habe das vermutlich zu Prä-Streamer-Zeiten mit den Staffel-DVD-Boxen einfach zu gut trainiert (beim Gänge-Menü-Essen ist es ähnlich…). Auch die angeblich fehlende Würdigung müsste man mal genauer untersuchen: Könnte die lange, ungebrochene Konzentration auf eine ganze Staffel beim Bingen/Schlingen nicht auch ein Zeichen totaler Hingabe, und damit der absoluten Würdigung sein? Mal ganz abgesehen vom Eskapismus, der stärker wird, je tiefer – und länger – man in die fremde Welt eindringen darf und kann. Einen weiteren Vorteil beim zeitlich kontrollierten Ausstrahlen macht der Tagesspiegel aus:

"Altmodisch zu sein, erweist sich in diesem Fall als clever. Eine über den Zeitraum von acht Wochen hinweg veröffentlichte Serie wie "The Mandalorian"bleibt bestenfalls auch acht Wochen lang im Gespräch. Jede Woche sorgen neue Posts, Tweets und TikTok-Videos, in denen das Seriengeschehen kommentiert und der neueste Twist bewertet wird, für erhöhte Aufmerksamkeit.“

Nachhallender Grogu

Das grenzt schon an die Wirtschaftsstrategie, nach der auch Clubs wie das Berghain verfuhren: Rationierung erhöht die Nachfrage. Und trotzdem: Tatsächlich gibt es bei jedem Kulturereignis, und das Kino kann ein Lied davon singen, eine direkte, messbare, und eine indirekte, lange nachhallende und nachhaltige Wirkung. Würde "The Mandalorian“, egal ob die Serie am Stück oder in Scheiben ausgestrahlt wird, schon nach acht Wochen aus der allgemeinen "Worüber man spricht“-Wolke verschwinden, dann wäre die Serie einfach nicht gut genug. Was mit etwas Pech der Fall sein könnte: Seit der zweiten Staffel setzt "The Mandalorian" zu viel auf repetitive Action anstatt auf überraschende Figurenentwicklung.

Aber es gibt noch eine Chance: Viele, vor allem viele erfolgreiche Kulturereignisse gleiten nach ihrem direkten Start unauffällig ins kollektive Gedächtnis, und beginnen, dort unbewusst Generationen und Zusammengehörigkeitsgefühle zu prägen. Und Jahre später wird darüber geredet, wie es damals war, als die Disneymoralisten ihr Kernziel der Familienstärkung endlich auch offiziell auf die Liebe zwischen einem alleinerziehenden, von seinen Gefühlen abgekoppelten Vater und dessen süßem, spitzohrigem Pflegesohn ausweiteten. Ach, Grogu, du außerirdischer Wonneproppen.


Altpapierkorb

Ob der neuesten Einsparungen und Stellenstreichungen spiegelt die taz die schlechte Laune unter den RBB-Angestellten, und gibt ihnen die Möglichkeit, sich zu äußern: "Das alles kotzt mich so an“, sagt ein Freier. Ein anderer findet, "die Stimmung ist am Arsch."Immer wieder wird gesagt: "Wir müssen die Suppe auslöffeln, die andere uns eingebrockt haben."Eine freie Mitarbeiterin beim Radio sagt: "Wir können für die Misere nichts, aber gespart wird auf unserem Rücken.“ (Compliance-Hinweis: auch ich arbeite zuweilen frei für den RBB, allerdings so frei, dass ich die dortige Stimmung nicht kommentieren könnte.)

Der Streit um Aussagen und Faktenchecks zur "Hart aber fair“-Sendung mit u.a. Sahra Wagenknecht (siehe AP hier) zum Thema Kriegsverbrechen geht ein bisschen weiter, hier nochmal im Spiegel, hier untersucht der Kölner Stadtanzeiger den flugs getrendeten Hashtag #Klamroth lügt, und konstatiert nach Gegenüberstellung der ersten und zweiten Fassung des "Faktenchecks“: "Was kann man Klamroth und seiner Redaktion also noch vorwerfen? Nicht viel, außer dass ihr Faktencheck nicht sofort so umfangreich ausgefallen war, sondern überarbeitet werden musste. Klamroths Aussage "Belege für Vergewaltigungen durch ukrainische Soldaten liegen der UN demnach nicht vor“, ist jedoch nach wie vor richtig.“

Und die Süddeutsche bescheinigt dem deutschen ESC-Song der "Lord of the lost" höflich, eine "etwas düstere Rock-Nummer" zu sein, die "in auffälligen, roten Outfits"vorgeführt wurde. Das nennt man wohl Understatement.

 Das nächste Altpapier kommt am Dienstag von Christian Bartels.

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