Kolumne: Das Altpapier am 14. Februar 2023 Falsche Unausgewogenheit
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14. Februar 2023, 10:09 Uhr
In Berlin wurde gewählt, wir blicken zurück auf die Wahlberichterstattung: Berlin ist ein "failed state", alle anderen Städte funktionieren tadellos. Vorwahlumfragen zeigen, dass das Wahlergebnis kaum stimmen kann. Und Donald "Wahl-Klau" Trump ist ein Berliner. Zudem: über eine Attacke auf eine Tanzkritikerin. Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Gibt es eine False Imbalance?
Berlin hat am Sonntag gewählt. Wir erinnern uns: Wahlwiederholung aus Gründen. Und am Montag gab es auch ein Ergebnis. Damit ist die Zeit gekommen, zurückzublicken auf den latenten Wahnsinn, der in den Wochen zuvor auch medial stattgefunden hatte. Steht in irgendeinem Journalismus-Lehrbuch, dass man bei jeder sich bietenden Gelegenheit über die tatsächliche, aber in vielen Details auch nur vermeintliche Dysfunktionalität von Berlin herziehen muss? Scheint so. Jedenfalls wurde hier und da berichtet, dass in Berlin generell großes Chaos herrsche, die Verwaltung sowieso nicht funktioniere, und überhaupt: dieser kalte Wind. Anna Mayr von der "Zeit" hat das in einem Twitter-Thread festgehalten:
"Die Leute haben kostenfreie Kitas, alle sechs Minuten eine U-Bahn und stets ein Bürgeramt in Fahrradreichweite aber iN bErliN fUnktiOniErT nIcHTs."
Nun sind weite Teile der aus Breitcordjackett-Ärmeln geschüttelten Berlin-Kritik zwar häufig überdreht, aber nicht komplett ausgedacht. Mayr hat allerdings einen Punkt, der über eine bloße Gegenmeinung hinausgeht und den festzuhalten sich deshalb lohnt. Dieser Punkt ist, dass es vor Berlin-Experten im deutschen Journalismus nur so wimmelt, während sich in zu vielen deutschen Städten viel zu wenige um irgendeinen Missstand von Belang kümmern:
"Ich wünschte JournalistInnen hätten auch so viel Zeit und Muße in deutschen Mittelstädten mal nachzufragen warum Naturschutzgebiete plötzlich zu Bauland werden oder warum eigentlich so viel Nitrat im Trinkwasser ist".
Kurz, Mayr beklagt eine Variation des False-Balance-Phänomens. Eine False Balance, eine falsche Ausgewogenheit, liegt vor, wenn in Diskussionen über eigentlich geklärte Fragen – einer ins Feld geführten Ausgewogenheit halber – auch Vertreter einer unausgegorenen Minderheitenmeinung zu Wort kommen, sodass es dann wirkt, als gebe es unter Fachleuten eine Debatte. Was Mayr beklagt, ist eine Art False Imbalance: eine falsche Unausgewogenheit durch das Fehlen von Vergleichsgrößen.
"Scheinheiliger Journalismus"
Lenz Jacobsen hat sich sodann auch bei Zeit Online einige Seltsamkeiten des Berlin-Wahlkampfs und der Berlin-Berichterstattung vorgenommen. Vor allem geht es ihm um die "failed state"- und "Desaster"-Thesen, die im Wahlkampf in Bezug auf die Hauptstadt geschwungen wurden. Zum Beispiel in Bayern, in dessen Landeshauptstadt alle Menschen ihre sozialverträgliche Miete bezahlen können (aber nicht wirklich) und in der die S-Bahn immer fährt (es sei denn, sie fährt nicht). Oder auch bei mdr.de, wo es nach der Aufzählung der Gründe für die Wahlwiederholung hieß: "Das klingt nicht nach Bundeshauptstadt, sondern nach ‚Failed State‘.
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-02/berlin-wahl-wiederholung-abgeordnetenhaus
Zu den "failed state"-Thesen also – "eine Kategorie, die Wissenschaftler sonst auf Staaten wie Südsudan, Syrien oder Jemen anwenden" – schreibt Jacobsen:
"Hat man sich an solche abgeschmackten Übertreibungen gewöhnt, lässt sich im Wahlkampf jede Minipanne leicht zum Demokratiedesaster aufblasen. In einem englischsprachigen Infoschreiben zur Wahl steht einmal ein falsches Wahldatum? Berlin kaputt! 49 Briefwahlunterlagen wurden doppelt verschickt? Skandal!"
Er beklagt "die teils leichtfertige, teils berechnende Verächtlichmachung der Demokratie durch einige Wahlkämpfer, Medien und gewohnheitsmäßige Berlinverächter". An der Medienberichterstattung beklagt er konkret, dass "ein scheinheiliger Journalismus" gepflegt werde, "der seine Katastrophenlust notdürftig mit Fragezeichen maskiert: ‚Geht das Chaos etwa wieder von vorne los?‘ fragte beispielhaft die BZ, als ein einzelner Postbote in Spandau Wahlbenachrichtigungen auf die Briefkästen legte, statt sie einzuwerfen".
Als zugezogener Berliner, der sich aus freien Stücken für ein Leben in Berlin entschieden hat, schaut man zum einen auch nach Jahren noch verwundert auf die rituelle Berlin-Verachtung, die in Berlin und noch stärker womöglich unter berufsbedingt zugezogenen Journalistinnen und Journalisten grassiert. Zum anderen muss man aufpassen, dass man die Stadt nicht nur aus Ausgewogenheitsgründen gegen die wohlfeile Stangenware des Berlin-Bashings verteidigt. Ich neige nach sorgfältiger Auszählung aller deutschen Baustellen, Verwaltungsmissstände, Mietpreiserhöhungen und fehlenden Verkehrswendekonzepte vorübergehend zu dieser Version: Scheiße ist es überall – aber Berlin ist Hauptstadt.
Medien im Wahlfieber
Noch drei weitere Beobachtungen zur Berichterstattung über und rund um die Berliner Wiederholungswahl.
Erstens: Die "FAZ" greift heute einen ZDF-Beitrag aus Berlin auf, über den "Übermedien" schon am Sonntag genewslettert hatte. Es ging um eine Straßenumfrage aus der Friedrichstraße, die kurz vor der Wahl stückweise zur autofreien Zone umgewidmet worden war. Diese Umwidmung, das muss man wissen, ist in Berlin so umstritten, als steckte schon sowas wie ein Verkehrskonzept dahinter. Eine Passantin war ziemlich angetan von der autofreien Zone.
Und, oh weia: "Sie hat für die Grünen für den Landtag in Mecklenburg-Vorpommern kandidiert, war Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft Energie und Klima der Grünen, ist Mitglied der Auswahlkommission der Heinrich-Böll-Stiftung und hat 2021 die ‚Konferenz der Radentscheide‘ gegründet", wie Michael Hanfeld in der "FAZ" schreibt. "Das wäre als Hintergrundinformation für die Zuschauer vielleicht nicht ohne Relevanz gewesen." Wurde aber nicht gesendet. Das ZDF wird zitiert, die Passantin habe man "zufällig angetroffen" und das Fernsehteam sei sogar von ihr angesprochen worden, nicht umgekehrt.
Eine bewusste, ideologisch motivierte Irreführung des Publikums bedeutet das wohl eher nicht. Aber dass man "etwas vorsichtiger sein" könnte, "wenn sich jemand fürs Gespräch aufdrängt" – da hat Hanfeld schon Recht.
Das Ärgerliche ist, dass schon öfter dort, wo eigentlich Bürgerinnen zu hören sein sollten, plötzlich Politiker zu hören waren, wie Boris Rosenkranz bei "Übermedien" schrieb: Beim RBB wurde 2021 zum Thema "Radfahren in Berlin" ein Abgeordneter der Grünen auf der Straße befragt. Und – dieses Beispiel fehlt in der "FAZ"; eventuell bedient es nicht ausreichend das Bild von der vermeintlichen Grünenfixierung der Öffentlich-Rechtlichen – im ZDF durfte 2021 bei einer Straßenumfrage "ein prominenter Rechtsextremer" seinen Senf zur Weltlage geben.
Zweitens: Die "Bild" hat vor der Wahl von "Wahl-Klau" herumgedonaldtrumpt. Die noch amtierende Koalition aus SPD, Grünen und Linken würde planen, dem voraussichtlichen Wahlsieger, der CDU, die Wahl zu klauen, indem sie auch nach der Wahl eine Mehrheit bilden würde. "Wahl-Klau" also hier im Sinn von: Mehrheitsbildung nach den Regeln der parlamentarischen Demokratie. Ist Donald Trump ein Berliner? Das "Bildblog" hat am Donnerstag darüber geschrieben und dann schließlich nachgelegt, dass die "Wahl-Klau"-Passage bei Bild.de einfach entfernt worden sei:
"Der Absatz ‚Erst das Wahl-Debakel! Und jetzt auch noch Wahl-Klau?’ wurde ersatzlos gestrichen. Genauso der Absatz ‚Im Klartext: Rot-Rot-Grün will der CDU den Sieg klauen!‘ (…) Das alles ist klammheimlich passiert. Was es nämlich nirgends gibt: Eine transparente Erklärung der Redaktion, dass und warum sie den Artikel verändert und die ‚Wahl-Klau‘-These verworfen hat."
Aber nur weil die Passage entfernt wurde, ist der Gedanke trotzdem in die Welt gekommen und wurde auch von Wahlkämpfern aufgegriffen.
Drittens: Dass es "kein guter Abend für Civey" war, das Umfrageinstitut, das vor der Wahl sehr interessante eigenwillige Prognosen abgegeben hat – das twitterte Stefan Niggemeier am Wahlabend. Die spiegel.de-Meldung vom Donnerstag, CDU und SPD seien fast gleichauf, und "aus dem Dreikampf", zu dem noch die Grünen gehört hätten, werde nun "ein Duell", beruhte auf einer Civey-Umfrage. Was am Sonntag bekanntlich herauskam: Die SPD ist tatsächlich "fast gleichauf", dummerweise nur halt mit den Grünen. Aber: Man hatte eben exklusiv neue Zahlen.
Attacke auf eine Kritikerin
Die Zahl der Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Eine Attacke auf eine Autorin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" hat wohl andere Hintergründe als viele andere, politisch motivierte Angriffe. Sie ist aber deswegen nicht harmlos. Die "FAZ" berichtet, ihre Tanzkritikerin Wiebke Hüster sei vom Direktor des Staatsballetts Hannover, Marco Goecke, "verbal und dann auch physisch" angegangen und im Gesicht mit Hundekot beschmiert worden. Eine "Grenzüberschreitung", die das "gestörte Verhältnis eines Kunstschaffenden zur Kritik" offenbare, so die Zeitung.
Am Montag ging der Vorfall über die "FAZ" hinaus durch die Medien. Die "Tagesthemen" hatten Goecke und "FAZ"-Herausgeber Jürgen Kaube am Abend im O-Ton. Der Ballettdirektor ist nun suspendiert (wie online die "Hannoversche Allgemeine Zeitung" und bald auch frei lesbar spiegel.de und andere meldeten). Und falls man sich dieses Fernurteil ohne Eigenrecherche erlauben darf: Aus Außenwirkungsperspektive ist das nicht die abwegigste Idee, die man als Hannovers Ballett haben kann.
Hier mit schönen Grüßen von Barbra Streisand noch ein Auszug aus Wiebke Hüsters Kritik, die der Attacke vorangegangen war und sie begründet haben soll:
"Wie hinter Glas im Warmen sitzengelassen mit Blick auf einen Winterstrand, wie in einer ewigen Pensionszeit. Das Stück stellt einen vor der Fassade eines Stücks ab und sagt, da, das ist alles, was es in diesen siebzig Minuten zu sehen gibt. (…) Man wird beim Zuschauen abwechselnd irre und von Langeweile umgebracht. Dazwischen kommen ab und an zwei genialische, stimmige Minuten. Das Stück ist wie ein Radio, das den Sender nicht richtig eingestellt kriegt. Es ist eine Blamage und eine Frechheit".
Bleibt die Frage, was der, hm, Vorfall bedeutet. Feuilletonistische Betrachtungen dazu, die die gesellschaftliche Stellung der Theaterkritik in ihre Überlegungen einbeziehen, gibt es bereits – und das sind die Texte, die über die Widerlichkeit von Goeckes Attacke hinausgehen und Relevanz haben. Martin Reichert fragt bei spiegel.de:
"wie ist es um das Selbstverständnis der Theaterkritik bestellt in einer Zeit, in der nicht nur immer weniger Menschen ins Theater gehen, sondern auch die klassische Theaterkritik eine immer geringere Rolle spielt?"
Wiebe Hüsters Stil jedenfalls, schreibt er, sei "geeignet, sogar Leser zu begeistern, die sich eigentlich nicht für das Ballett interessieren".
Und David Hugendick schreibt bei Zeit Online:
"Kunstkritik ist, wo sie nicht ganz zahm, inhaltsversessen, thematisch ergriffen oder schon komplett zum ‚konstruktiven Feedback’ heruntergekommen ist, heute weitaus zweifelnder und sich über die Vorläufigkeit des Urteils viel stärker bewusst als noch zu Zeiten, als das Werk eines Künstlers mit einem Handstreich erledigt wurde. Falls also der Kunstbetrieb in all seinen Sparten heute empfindsamer und wehleidiger ist als in einem gar nicht so weit entfernten Früher, hätte er dafür noch weniger Gründe."
Altpapierkorb (Deutschlandfunk-Gespräch, Zeitschrift "Art", Stimmung bei G+J, Erdbeben-Berichterstattung in der Türkei, öffentlich-rechtliche Jubiläen)
+++ Wen sollten Medien zu Wort kommen lassen? Eine gute Frage, die bei @mediasres im Deutschlandradio gestellt wurde. Ob sie in diesem Fall auch hinreichend beantwortet wurde, das sei mal dahingestellt. Anlass war ein vorangegangenes Deutschlandfunk-Gespräch mit einem früheren Wehrmachtssoldaten, unter anderem über Waffenlieferungen an die Ukraine, für das der Sender heftig kritisiert worden war.
+++ Heute erst etwas weiter unten: die Causa Bertelsmann/Gruner+Jahr (zuletzt im Altpapier von gestern). Die "Süddeutsche" legt heute in ihrer Berichterstattung nach mit einem Text über die Zeitschrift "Art", die, wie so viele andere, eingestellt oder in diesem Fall abgestoßen werden soll, obwohl, ja obwohl sie "ein kaufkräftiges Publikum" und auch etwas abgeworfen habe. Deutlich weniger zwar als die "großen Marken Stern, Brigitte, Gala oder Schöner Wohnen, die nach SZ-Informationen hohe einstellige oder auch zweistellige Millionenbeiträge ablieferten. Aber bislang gehörte es klar zur Verlagsstrategie von Gruner+Jahr, ein breitgefächertes Spektrum von Zeitschriften anzubieten, mit möglichst vielen dieser gesunden Hefte, die einige Hunderttausend bis eine oder zwei Millionen Euro erzielten. Neben der Art waren das nach SZ-Informationen etwa auch die Geo Epoche, die P.M. oder das Fußballmagazin 11 Freunde. Zeitschriften also, die auf hochwertige Inhalte setzten und sich damit erfolgreich auf dem Markt behaupten konnten." Und nun? Besteht bei "Art" laut "SZ" die Hoffnung, "dass mit einem neuen Verlag oder Investor auch eine neue Aufbruchstimmung kommt".
+++ Für den "Freitag" schreibt Jürgen Ziemer über die Stimmung bei Gruner+Jahr: "Nach der ersten Empörung, einer Demo vorm Hamburger Rathaus und zahlreichen Berichten auf den Medienseiten der Tagespresse, macht sich eine schleichende Depression breit. Große Visionen hat hier keiner mehr. ‚Bohrinsel‘, nannte ein Kollege die Medienlandschaft an der Elbe schon vor Jahren. Weil man hier nach Tiefschlägen eher in die Hände spuckt und weitermacht, als auf die Straße zu gehen und sich zu beschweren."
+++ Die "taz" schreibt über die Erdbeben-Berichterstattung in der Türkei, die die Regierung mit Einschränkungen beeinflusse.
+++ In der Reihe "Öffentlich-rechtliche Jubiläen" (zuletzt hier und hier im Altpapier) begehen wir als nächstes: die 1000. Ausgabe des Wissensquiz "Wer weiß denn sowas?" mit Moderator Kai Pflaume am Samstag zu jener Senderzeit, die Älteren als die beste galt. Aufgemerkt: Die Ausgabe werde "extralang", meldet der NDR. Der "Tagesspiegel" featuret.
+++ Nach dem nächsten Jubiläum schon mal direkt das übernächste in den Partykalender eintragen: Das ZDF wird 60 und feiert "mit einem großen TV-Spektakel" (dpa). Nämlich mit der "Show der Shows", was etwas biblisch klingt; also mit einer Meta-Show mit "einem unterhaltsamen Mix aus beliebten Show-Klassikern". Wetten, dass Dalli Dalli den Großen Preis gewinnt?
+++ Eine blumige Deutung des Berliner Wahlergebnisses hat Gabor Steingart am Montagmorgen in seinen Newsletter gepflanzt: Der CDU-Kandidat sei trotz des Wahlsiegs seiner Partei "der einsamste Mann unter der Sonne. Anders als Robinson Crusoe auf seiner Insel, hat er nicht mal einen Freitag an seiner Seite. Ihm bleibt nur das Selbstgespräch. (…) Das Frischluft-Fenster wurde von den Berliner Wählerinnen und Wählern nicht aufgerissen, nur auf Kipp gestellt. Der Muff im Roten Rathaus kann sich so nicht verziehen." Jenau. Und die Titanic-Kapelle spielt einfach weiter. Faust hat, ach, völlig umsonst Philosophie studiert in heißem Bemühn. Und Freddie Mercurys "I want to break free" verhallt gänzlich ungehört. Mit einem "Ach, Berlin" schließt sich für heute der Kreis.
Am Mittwoch kommt das Altpapier von René Martens.