Das Altpapier am 18. Januar 2018 Simon, Ernst und Jürgen

Ist der letzte große Aufmerksamkeit erregende Beitrag zur MeToo-Debatte einer, der der ganzen Sache schadet? Schreibt gerade ein 29-Jähriger die FAZ "mit AfD-Sorgen in Proseminar-Sprache voll"? Warum gibt es im Journalismus so wenig "politische Köpfe"? Ein Altpapier von René Martens.

Die Bedeutung, die der Fall des US-Schauspielers und TV-Comedians Aziz Ansari ("Parks and Recreation", "Master of None") gewonnen hat, lässt sich auch daran ermessen, dass die taz für einen längeren Beitrag zum Thema gleich drei Autorinnen und Autoren aufbot: Amna Franzke, Anne Fromm und Jürn Kruse.

In einem Artikel der US-Plattform babe.net hatte am Wochenende eine Frau, die dort Grace heißt, Ansari sexuell übergriffiges Verhalten vorgeworfen (siehe Altpapier von Mittwoch).

"Gab es ein klares Ja?",

lautet die taz-Headline nun. Erst einmal geht es darum, dass der Artikel bei babe.net "journalistisch unsauber" sei - anders als die einschlägigen der New York Times und des Zeit-Magazins -, woraus sich aber wiederum nicht ableiten lasse, dass das im Text Beschriebene nicht stimme.

"Übergriffiges Verhalten wie das, das Grace Aziz Ansari vorwirft, muss diskutiert werden. Doch mit unsauberen Texten wie diesem schadet man der #MeToo-Debatte – denn man macht sie angreifbar",

lautet eine Kernpassage des taz-Textes. Eine andere:

"Sicher, die Geschichte ist, so wie auf Babe.net erschienen, in vielen Dingen angreifbar. Aber die Vehemenz, mit der einige nun die Verantwortung in Richtung der Frau schieben, ist eine Form des Victim Blamings: Sie hat Schuld, weil sie nicht Nein gesagt hat. Sie hat Schuld, weil sie mit ihm nach Hause gegangen ist, sich ausgezogen hat."

Zur weiteren Differenzierung tragen bei: im Guardian Tiffany Wright, die sich dort u.a. in ihrer Eigenschaft als "survivor" äußert:

"The situation Grace described may not be assault, but it’s important to recognize that there is a middle ground that can also be bad. We need to hold men to a higher standard without resorting to speaking in absolutes."

Sowie bei vox.com die Reporterin und Romanautorin Anna North:

"Perhaps what is especially threatening about Grace’s story is that it involves a situation in which many men can imagine themselves. But this is a reason to discuss it more, not to sweep it under the rug. Listening to Grace doesn’t mean deciding all men should go to prison, or should lose their jobs. It does mean admitting that many men behave in exactly the ways their culture tells them to behave. It means asking men to recognize that and do better, and it means changing the culture so that badgering and pressuring women into sex is deplored, not endorsed. None of this will happen if we refuse to reckon with stories like Grace’s."


Fleisch essen, Held sein, große Gefühle

Seit ungefähr eineinhalb Wochen poppt in meinen Timelines ständig der Name Simon Strauß auf. Beziehungsweise die Frage: Ist er eine Art Ernst Jünger für Jüngere bzw. für Arme? Auf jeden Fall ist "der Autor Simon Strauß bei den Jungs vom Feuilleton schwer in Mode, sicher auch, weil er der Sohn von Botho und Feuilletonredakteur der FAZ ist" (Perlentaucher neulich), genauer gesagt: Theaterredakteur.

Ausgangspunkt der Debatte, um die es hier gehen soll - in anderen Timelines poppte der Name Simon Strauß bestimmt viel früher auf als in meiner -, ist ein am vorvergangenen Wochenende in der taz erschienener Text von Alem Grabovac, in dem er aus verschiedenen journalistischen und literarischen Texten des FAZ-Mannes zitiert:

"Simon Strauß (…) stilisiert sich als Nachfahr von Ernst Jünger, imaginiert Stahlgewitter und lobt die AfD als einzige Partei, die die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin vernünftig kritisiere. Dem Kulturbetrieb scheint es zu gefallen, dass da ein junger wütender Mann wieder mit der Ästhetik und den Inhalten des rechten Randes spielt."

Eine Replik darauf hat die taz an diesem Mittwoch veröffentlicht, sie stammt von der der FDP nahe stehenden Schriftstellerin Nora Bossong, die mit Strauß befreundet ist. Die beiden seien sich trotz mancher Differenzen unter anderem darin einig,

"dass wir die AfD für unwählbar halten, keine Sympathien für den Verleger Götz Kubitschek haben".

Zwischendurch ist so einiges erschienen, auch an aus Altpapier-Perspektive eher entlegenen Orten, etwa in der Musikzeitschrift Das Wetter und beim mir bis dato nicht bekannten Portal 54books.de. Strauß selbst griff ebenfalls ein, bei Facebook:

"Irgendein Typ in der Taz klatscht im Trump-Stil Unwahrheiten zusammen",

pöbelte er in Richtung Grabovac. Des Weiteren schreibt er:

"Ernst Jünger - ich kann da nur lachen. Wer allen Ernstes glaubt, diesen Autor allein durch Verweis auf sein 'Männlichkeitsbild' denunzieren zu können, der muss in der gesamten Literatur kräftig aufräumen."

Tilman Krause (Die Welt) warf wiederum den Kritikern vor, sie hätten Strauß einem "Gesinnungs-TÜV" unterzogen. Der Begriff "Gesinnungs-TÜV" ist ja nun Pappnasen-Jargon allererster Kajüte - mal abgesehen davon, dass Krause "selbst nichts anderes als Gesinnungsprüferei betreibt" (Dirk Pilz bei Twitter).

Ein ähnliches Problem habe ich mit dem Beitrag Ijoma Mangolds in der aktuellen Ausgabe der Zeit, der meint, mit der niedrigkarätigen Formulierung "linksliberaler Meinungskorridor" aufwarten zu müssen. Hier das komplette Zitat:

"Gewiss ist Simon Strauß kein Linker, aber ist alles, was außerhalb des linksliberalen Meinungskorridors nach neuen ästhetischen Ideen sucht, schon gleich AfD beziehungsweise Zurüstung zum Holocaust?"

Die Wochenzeitung zieht die Sache unter dem Titel "Ist der anschwellende Streit um den jungen Simon Strauß völlig aus der Luft gegriffen?" als Pro und Contra auf. Die Contra-Position vertritt Antonia Baum:.

"Der zentrale Strauß-Förderer (ist) Jürgen Kaube, der einem absoluten Männerparadies vorsteht, nämlich der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo der Feuilletonredakteur Simon Strauß die Seiten mit AfD-Sorgen in Proseminar-Sprache vollschreibt."

Vom Frankfurter "Männerparadies" hat Baum ja zumindest insofern einen Eindruck, als sie einige Jahre bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin arbeitete. Ist der Fall Strauß also auch ein Fall Kaube? Die Strauß-Verteidigung dieses "Wolkenproduzenten" hat am Wochenende bereits Georg Diez bei Spiegel Online angegriffen:

"Hinter dem, was Kaube immer wieder als seinen Antiideologismus präsentiert, (ist) ein ideologisches Motiv erkennbar (...): Das Raunen war schon immer der Grundton der Rechten, und Nebel ist das Gegenteil von Aufklärung."

Auch Baum bezieht sich auf den von Diez aufgegriffenen Text Kaubes:

"Herausgeber Kaube beantwortete (…) die Kritik an seinem Redakteur mit einem Text, in dem er behauptet, dass die Kategorien links und rechts als Unterscheidung künstlich am Leben erhalten würden und nur der Simulation eines Kampfes dienten. Das ist (…) absurd, denn was tut Kaube nach dieser Logik, indem er Strauß auf rechte Weise in seinem Feuilleton herumraunen lässt? Er simuliert einen Kampf. Er schickt ein Zirkuspferd in die Manege, das ein paar gefährliche Sachen sagt, und wenn es etwas unangenehm wird, kommt er und sagt: Alles nur Show, liebe Studierende."

Baums Fazit:

"Möglicherweise verdeutlicht dieser Move auch einen entscheidenden Aspekt der männlichen Strauß-Verliebtheit: Der junge Autor fungiert als eine Art stellvertretender Träger männlicher Probleme im 21. Jahrhundert und träumt für den bedrohten Mann von Auswegen. Fleisch essen, Held sein, große Gefühle, der Wunsch nach einer stabilen Identität."


"Moderieren konnte er wie kaum ein anderer"

Mittlerweile sind einige ausführlichen Nachrufe auf den langjährigen SWR-Chefreporter Thomas Leif (siehe gestriges Altpapier) erschienen. Brigitte Baetz konstatiert im Deutschlandfunk:

"Er interessierte sich für Demokratietheorie, die Bedingungen sozialer Gerechtigkeit, war im Gegensatz zu vielen seiner Arbeitskollegen ein politischer Kopf."

Das ist natürlich eine eher gefühlte (im Sinne von: nicht leicht belegbare) Beobachtung, aber ich finde sie plausibel. Es mag bessere Anlässe geben, solche Fragen zu stellen, aber: Warum gibt es im Journalismus heute weniger "politische Köpfe" als früher (wann auch immer das war)? Ist diese Entwicklung unumkehrbar?

Steffen Grimberg schreibt in der taz über Leif:

"Moderieren konnte er wie kaum ein anderer, mit ausgeklügelter Dramaturgie und bestärkendem Kopfnicken brachte er seine Diskussionspartner regelmäßig dazu, sich um Kopf und Kragen zu reden. Dabei schien er immer tiefer in der Thematik zu stecken als manche seiner ExpertInnen und nutzte das auch schamlos aus, ohne irgendwen vorzuführen."

Eine Eloge ist’s, aber eine durchaus differenzierte, denn sie enthält auch folgende Einschätzung:

"Die 'Presenterreportage' hatte in ihm einen treuen, etwas deplatziert wirkenden Häuptling."

Und diese:

"In eigener Sache (konnte er) auch mal Fünfe gerade sein lassen. Ein Heiliger war er nicht."

Volker Lilienthal würdigt auf der Seite des Netzwerks Recherche - das angeblich auch nicht mehr das ist, was es zu Leifs Zeiten war, um eine Kritik der oben zitierten Brigitte Baetz hier noch kurz zugespitzt einfließen zu lassen - noch einmal den letzten Film des Verstorbenen, die gestern hier bereits erwähnte Dokumentation "Wahre Christen oder böse Hetzer?":

"Ein Film, der abermals alle Qualitäten des großen deutschen Journalisten Thomas Leif offenbarte: interessiert in der Grundhaltung, offen in der Herangehensweise, kritisch im Ergebnis, recherchestark und filmisch mit sehr viel Sinn für das sprechende Detail. Zum Beispiel die optische Entdeckung eines 'Adolf Hitler' beschrifteten Aktenordners im Kellerregal eines AfD-Aktivisten. Nur ein Kameraschwenk, das genügte."


"Elende, schäbige Konzentration"

Um die, vorsichtig formuliert, unlauteren Argumentationen, mit der die No-Billag-Kombattanten in der Schweiz aufwarten - zuletzt am Mittwoch hier im Korb kurz ein Thema - greift die WoZ auf. Unter anderem um folgende Behauptung geht es:

"Würden die Billag-Zwangsgebühren abgeschafft, entstünde ein freier, fairer Wettbewerb um die Gunst der Kunden. Wettbewerb führt tendenziell zu besseren und vielfältigeren Angeboten sowie zu tieferen Preisen. Resultat wäre daher eine grössere Medienvielfalt."

Susan Boos entgegnet auf dieses beinahe religiös anmutendes Wortgeklingel:

"Nichts daran ist richtig: Die Schweiz mit ihren vier Landessprachen ist viel zu klein, als dass ein seriöser Sender ohne Gebühren überleben könnte. Auch könnten Nachrichtensendungen nicht mittels Abonnements finanziert werden. Die Zeitungsverlage wissen, wie schwierig das Abogeschäft geworden ist. Immer weniger LeserInnen wollen für Information zahlen. Die Verlage kämpfen ums Überleben – was die Medienkonzentration beschleunigt. Die Zeitungsverlage werden aber ökonomisch nicht von der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) konkurrenziert, sondern von Google und Facebook. Die US-amerikanischen Technoriesen ziehen achtzig Prozent der Werbegelder ab. Es ist eine naive Illusion zu glauben, die Zeitungen oder die privaten Lokalsender würden davon profitieren, wenn die SRG verschwindet."

Und wer gewinnt dann?

"Die Einzigen, die etwas davon haben werden, sind die deutschen Privatsender wie ProSiebenSat.1, RTL oder Vox. Diese verdienen viel Geld damit, viel Trash und wenig Information zu bieten – an deren Werbevermarkter ist notabene der Zürcher Tamedia-Konzern beteiligt (…) Unterm Strich wird die versprochene Vielfalt in einer elenden, schäbigen Konzentration enden."


Altpapierkorb (Ungereimtheiten bei Facebooks Löschverhalten, Marc Jan Eumann, Focus-Jubiläumsausgabe, Rocket Beans)

+++ Braucht der polnische Politrüpel Ryszard Czarnecki bald neue Visitenkarten? "Am Donnerstag berät die Konferenz der Präsidenten des EU-Parlaments über die vorzeitige Beendigung der Amtszeit des polnischen Vizepräsidenten", berichtet "Zapp". Anlass der Beratungen sind Äußerungen, die Czarnecki nach der Ausstrahlung dieser Arte-Reportage Annette Ditterts von sich gegeben hat (siehe Altpapier):

+++ In Sachen Malvina und Diaa (Altpapier) "mahnt die Polizei zu einer verantwortungsvollen Berichterstattung (…) Journalisten sollten sich darüber bewusst sein, dass hier zwei junge Menschen im Fokus der Öffentlichkeit stehen, die nie geahnt haben, was da auf sie zukommt" (chrismon/epd).

+++ Facebook sagt mal wieder sorry - "und plötzlich sind die Postings wieder da: Das als Barbara bekannt gewordene Street-Art-Talent darf auf Facebook und Instagram wieder alle Arbeiten zeigen, auch jene, die Rassisten, Neonazis und AfD-Politiker aufs Korn nehmen." Auf den aktuellen Stand bringt uns die auch gestern hier in diesem Zusammenhang zitierte Stuttgarter Zeitung.

+++ Facebook (II): Welche "Ungereimtheiten" beim Verhalten von Facebook zu beobachten sind, wenn man dort Volksverhetzungen und aus anderen Gründen Löschwürdiges meldet, hat das NDR-Magazin "Zapp" im Rahmen eines vom NetzDG inspirierten Großversuchs notiert.

+++ Facebook (III): Eine ausführliche "internal investigation into the possibility that Russia had used the platform to influence the British vote to leave the European Union", habe das Netzwerk versprochen, berichtet die New York Times.

+++ Er ist wieder da! Marc Jan Eumann tritt zum ersten Mal seit dem 22. Dezember 2017 wieder im Altpapier auf - und das auch nur, weil der Grömaz (Größter Medienpolitiker aller Zeiten) seinen neuen Job als Direktor der Landesmedienanstalt Rheinland-Pfalz noch nicht antreten kann, wie die SZ berichtet. Spoiler: Herrlich verworren ist die Sache, wie so oft, wenn Landesmedienanstalten und Gerichte im Spiel sind.

+++ Ham Se mal 'nen Euro? So viel kostet die Jubiläumsausgabe des Focus. David Denk blickt für die SZ auf 25 Jahre zurück.

+++ Mehr aus Hubsi Burdas Laden: "Vor knapp zwölf Jahren hat sich der Fernsehautor Jens Oliver Haas ('Ich bin ein Star, holt mich hier raus') in einer tschechischen Klinik die Augen lasern lassen" - so steigt Stefan Niggemeier bei Übermedien ein in einen Text, um dann auszuführen, was die Freizeit Revue aktuell mit dieser Information alles anzufangen wusste.

+++ Claudia Reinhard stellt auf der FAZ-Medienseite den mit funk kooperierenden Hamburger Online-Sender Rocket Beans TV vor, deren Macher sich zu "Vorreitern der europäischen Unterhaltungslandschaft entwickelt haben". Was zeichnet den Sender aus, der 2017 mit einer Grimme-Preis-Nominierung bedacht wurde, in diesem Jahr aber mit keiner (siehe Altpapier von Mittwoch)? "Neben den typischen Let’s-Play-Formaten werden jetzt auch eine Kino-Sendung, Koch- und Morningshows oder nachts gemeinsames Einschlafen ('Let’s Sleep') vor Computerspielen gesendet. Alles wirkt immer etwas improvisiert, der Gesprächsanteil ist oft lang und unstrukturiert, nicht immer können die Akteure das spontan ausgleichen. Den Zuschauern ist das egal, denn die Senderbelegschaft funktioniert als erweiterter digitaler Freundeskreis, mit dem man über Insider-Witze lacht, durch Höhen und Tiefen gegangen ist und sich online rund um die Uhr umgeben kann."

Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.