Das Altpapier am 3. Februar 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Autor René Martens kommentiert im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 3. Februar 2023 Die Schlüsselreizwörter der rechten Polarisierung

03. Februar 2023, 11:45 Uhr

Patrick Bahners macht deutlich: Das Gerede vom "Genderwahn" und vom Ende der Meinungsfreiheit sowie die Fixierung auf Identitätspolitik trägt zum Erfolg der AfD bei. Und Jan Böhmermann wundert sich darüber, dass die Rezeption seiner Arbeit durch "das vermeintliche Fachpublikum" von einer "ständigen publizistischen Inszenierung von Missverstehen" geprägt ist. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Inwiefern Medien für die "Palliativversorgung"' des Bürgers mit Ressentiment sorgen

Bei der Frage, welchen Anteil Medien an den Erfolgen der AfD haben, zielt die Kritik oft darauf ab, dass faktisch falsche Äußerungen von Politikerinnen und Politikern der Partei uneingeordnet wieder gegeben, Interviews mit ihnen schlecht geführt werden und Journalisten über AfD-Positionen im False-Balance-Modus berichten. Der FAZ-Redakteur Patrick Bahners nennt in "Die Wiederkehr. Die AfD und der neue deutsche Nationalismus" (auch) andere im journalistischen Milieu zu suchende Gründe für den Erfolg der Partei. Thomas Assheuer schreibt in der "Zeit" über das Buch:

"Die (Ideen) der AfD, gibt Bahners zu bedenken, (…) benötigten einen resonanten atmosphärischen Raum, in dem sie kulturell plausibel werden. Wie das passiert? Indem bürgerliche Medien und bürgerliche Milieus die Schlüsselreizwörter der rechten Polarisierung nachbeten und ein Horst Seehofer die deutsche Flüchtlingspolitik als 'Herrschaft des Unrechts' bezeichnet. Weniger krass, aber ebenso falsch findet Bahners das redselige Bereden von Redeverboten, all die Fake-News vom Ende der Meinungsfreiheit, die übertriebene Fixierung auf 'Genderwahn', Identitätspolitik und politische Korrektheit. Dies sei Wasser auf AfD-Mühlen und befördere die 'Palliativversorgung' des Bürgers mit Ressentiment (…) Die Liste ist noch länger. Während Bahners bei Eric Gujer, dem Chefredakteur der 'in der rechten Ecke installierten' NZZ einen 'Exzess der antimoralistischen Phantasie' ausmacht, kommt ihm beim Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt der naheliegen-de, wenngleich 'böse Gedanke', der heutige Liberalismus sei nur noch 'ein virtuoser Nihilismus'."

In der Tat ist eine gewisse Kunstfertigkeit mancher bürgerlicher Medien ja durchaus bemerkenswert: Sie beten, um Assheuer zu zitieren, "die Schlüsselreizwörter der rechten Polarisierung nach" und stärken damit den Nährboden für die AfD, tun aber gleichzeitig wortreich so, als verdammten sie die Partei.

Assheuer nimmt in seiner Rezension noch folgende wichtige historische Einordnung vor. Die "opulenten 500 Seiten" seien insofern

"nicht ohne Delikatesse, (als) der Autor (…) seit 1989 Redakteur jener Frankfurter Allgemeinen Zeitung (ist), die in den Neunzigerjahren eine augenfällige Leidenschaft für rechtskonservative Traditionsbestände an den Tag legte. Bahners' damaliger Kollege Konrad Adam war Mitbegründer der AfD und sondierte - wie man beiläufig erfährt - bereits in den Zeiten von Helmut Kohl zusammen mit Alexander Gauland die Chancen für eine Partei rechts von der Union. Der Deckname der Aktivisten klingt wie ein Romantitel von Uwe Tellkamp und lautete 'Die Entschlossenen'. Als Schirmherr fungierte, kaum zu glauben, der FAZ-Herausgeber Joachim Fest."

Wobei man an dieser Stelle noch einen Hinweis auf Gaulands Vergangenheit im Medienmilieu ergänzen könnte - siehe seine Tätigkeit als Herausgeber der MAZ (die zu der Zeit zum FAZ-Reich gehörte) und seine phantasmagorischen "Tagesspiegel"-Kolumnen.

"Online first" ist ein mindestens missverständlicher Slogan

Um die fehlende öffentlich-rechtliche Offensivkraft in inhaltlichen Fragen ging es zuletzt in der vergangene Woche an dieser Stelle. Auf einer allgemeineren Ebene befasst sich damit nun auch der sich zu öffentlich-rechtlichen Reformfragen immer mal wieder zu Wort meldende frühere HR-Justiziar Jürgen Betz in der neuen Ausgaben von epd medien. In einem sechsseitigen Leitartikel, der derzeit nicht frei online steht, schreibt er:

"Kai Gniffke will 'jetzt transformieren vom Linearen ins Nicht- Lineare', den digitalen Bereich ausbauen. Er sieht schon das Ende des traditionellen, also linearen, Fernsehens kommen, will dafür weniger Aufwand betreiben und mehr Wiederholungen senden. Er hat 'keine Hoffnung, dass wir durch eine Veränderung des linearen SWR-Programms das Publikum massiv verjüngen', sagte er kürzlich. BR-Intendantin Katja Wildermuth sprach gar von einer 'Exitstrategie'."

Angesichts dessen fragt Betz:

"Kann es der richtige Ansatz sein, den Auftrag zu erfüllen, indem man gar nicht mehr inhaltlich diskutiert?"

Das ist natürlich eine rhetorische Frage. Betz fragt auch:

"Ist es richtig, die linearen Programme schon für nahezu tot zu erklären? Offenbar ist die ARD dieser Meinung, denn sie hat im September 2022 zwei Arbeitsgruppen eingesetzt, die sich nur mit digitalen Themen befassen. Zum einen die 'AG Umschichten', die klären soll, auf was im Linearen zugunsten der nonlinearen Zukunftsfähigkeit der ARD verzichtet werden soll, zum anderen die 'AG Digitale föderale ARD', die sich damit beschäftigen soll, wie die ARD 'im Digitalen moderner, agiler und smarter zusammenarbeiten kann' (…) Die Strategie 'Digital first' oder 'Online first'" ist nach meiner Auffassung ein missverständlicher, gar falscher Slogan, der die nach wie vor große Bedeutung des Linearen zu missachten droht."

Um das Schlagwort "Online first" und den Verweis auf die fehlenden inhaltlichen Debatten aufzugreifen: Tatsächlich ist das Problem der ARD, dass sich ihre Strategie mit "Online first, aber mit ohne Konzept", wie es neulich ein Kollege formulierte, zusammenfassen lässt. Wobei der Gag gesprochen vielleicht besser klingt als in einem geschriebenen Text (wo es sich wie ein Flüchtigkeitsfehler liest). Dieses Problem hängt wiederum damit zusammen, dass viele der Stage-Manager - sie entscheiden darüber, was in der ARD-Mediathek ganz oben, also auf der "Stage", steht - und Thumbnail-Aussucher, die mittlerweile in Entscheidungsprozessen mitreden, keine Antennen dafür haben, was Qualitätsfernsehen ausmacht.

Fehlen den Öffentlich-Rechtlichen Skills, Mut oder Urteilsvermögen?

Zu den strukturellen Schwächen der Öffentlich-Rechtlichen macht sich natürlich auch Jan Böhmermann Gedanken, aktuell zum Beispiel im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung":

"Es ist mir nicht begreiflich, warum man in den Sendern glaubt, man müsse aus der Defensive heraus argumentieren. Warum schaut man angesichts des klaren strukturellen Reformbedarfs nicht auf das, was man hat und was toll funktioniert? Fehlen da die Skills oder der Mut für einen Schritt nach vorn? Oder mangelt es an dem Urteilsvermögen, was funktioniert und was nicht?"

Die Irgendwas-mit-Medienkritik-Zunft wird auch verarztet in dem Gespräch:

"Ein Teil des Publikums (versteht) nicht: Natürlich ist all das eine Figur. Ich mache das Magazin jetzt im zehnten Jahr und lache mir immer noch manchmal ins Fäustchen und denke: Seid ihr bescheuert? Besonders das vermeintliche Fachpublikum und seine ständige publizistische Inszenierung von Missverstehen, meistens getrieben von politischen Zielen oder Ideologie. Herrlich!"

Was übrigens an Böhmermanns noch aktueller Sendung - der vom vergangenen Freitagabend - auffiel: Was für ein geschickter Kommentar es war, das Konzert der "Ehrenfeld Intergalactic"-Tour am 18. Januar in Bochum, dessen Aufzeichnung in der Sendung zu sehen war, gewissermaßen signalhaft mit dem Corona-Song "Ischgl-Fieber" zu beginnen. Der Refrain "Mia hom wieder Ischgl-Fieber/Uns ist alles scheißegal" passt, obwohl er zwei Jahre alt ist, perfekt in eine Zeit, in der mit "Uns ist alles scheißegal" die Haltung von Politik und Medien zu Corona nicht schlecht beschrieben wäre. Oder, um es mit dem früheren Abgeordnetenhaus-Mitglied Christopher Lauer zu formulieren:

"Gehört wohl zum Präventionsparadox, dass jetzt nach und nach Artikel erscheinen, in denen alle möglichen Leute sagen, sie hätten sich in Sachen Pandemie geirrt. Die Bilder aus Wuhan und Bergamo scheinen komplett verdrängt worden zu sein (…) Die Corona-Verharmloser wollen halt weiter die Realität ignorieren und zusätzlich noch die Geschichte umschreiben."

Die durchschnittliche Zahl der Corona-Todesfälle liegt, siehe etwa "Süddeutsche Zeitung", derzeit im im siebentägigen Mittel übrigens bei 104 pro Tag.


Altpapierkorb (Twitter mal wieder als Elefant im Porzellanladen, Seiten wechselnde Journalisten, ZDF-Prüfbericht des Landesrechnungshofs, Abgründe des Online-Fernsehens, Donnepp-Preisträgerin Hasters, Donnepp-Preisträger Gangloff)

+++ Dass Twitter in der kommenden Woche "seine kostenlose Schnittstelle (API) abschaltet", kommentiert Markus Reuter (netzpolitik.org) folgendermaßen: "Das Unternehmen führt sich damit einmal mehr wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen auf. Denn mit seiner Entscheidung zerstört Twitter vermutlich Tausende Freizeit- und Non-Profit-Projekte, die auf die kostenlose Schnittstelle angewiesen sind. Doch unter Elon Musk betrachtet man derlei Folgen offenbar mit Achselzucken. Wenn überhaupt."

+++ Für den KNA-Mediendienst (Login notwendig) kommentiert Steffen Grimberg den Fall Michael Stempfle (Altpapier): "Es ist erstaunlich, dass in Deutschland (…) immer wieder ein Wechsel vom Journalismus in die Politik problematischer gesehen und kritischer diskutiert wird als der umgekehrte Weg." Dabei sei diese umgekehrte Variante  - siehe etwa einst Ulrich Wilhelms Weg vom Regierungssprecher zum BR-Intendanten - weitaus problematischer.

+++ Die FAZ geht auf den ZDF-Prüfbericht des Landesrechnungshofs Rheinland-Pfalz für die Jahre 2017 bis 2020 ein, den die Kontrollbehörde Mitte Januar veröffentlicht hat. Der Rechnungshof, so Helmut Hartung, empfehle unter anderem, "die Kooperationen unter den öffentlich-rechtlichen Anstalten so auszubauen, dass die Infrastruktur in den Auslandsstudios sowohl vom ZDF wie von der ARD eingesetzt werden könne. Das ZDF hat mitgeteilt, es beabsichtige, solche Kooperationsansätze zu prüfen."

+++ Wer einen Blick in die vielen Abgründe des öffentlich-rechtlichen Online-Fernsehens werfen möchte, lese Lisa Krähers "Übermedien"-Text über "Leeroy will’s wissen" (SWR/funk).

+++ Dass der "Deadline Day" für die RTL-Zeitschriften wohl nicht der 15. Februar sein wird (Altpapier), sondern bereits der kommende Dienstag, berichtet die SZ. Für den Tag ist eine viertelstündige Rede des Herrschers Thomas Rabe "im Auditorium des Hamburger Verlagshauses" vor insgesamt 71 geladenen Führungskräfte angekündigt. Klingt nach einem kurzen Prozess.

+++ Am Mittwoch wurde in Marl im Rahmen des Grimme-Preis-Bergfests der Bert-Donnepp-Preis für Medienpublizistik verliehen. Für die diesjährige Preisträgerin Alice Hasters laudierte die letztjährige Preisträgerin, Altpapier-Autorin Jenni Zylka. Sie lobte unter anderem Hasters’ Buch "Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten": "Was ich (…) an Alices Buchs so mag, ist - neben den genau ausdifferenzierten und mit feinem Sprachgefühl vorgestellten Gedanken, Beispielen und Geschichten, ihrem großen Wissen, dass sie als ausgebildete Journalistin weitergibt – ist ihr Ton. Diese ernste, und dennoch teilweise schalkhafte, unangestrengte und wahnsinnige geduldige Art und Weise, in der sie erklärt, wieso man nicht mehr darüber reden sollte, ob es in Deutschland Rassismus gibt, oder wie stark der denn überhaupt ausgeprägt ist. Sondern wieso."

+++ Der Medienwissenschafter Gerd Hallenberger wiederum würdigte den zweiten Preisträger, den in der Altpapier-Leserschaft wohl recht bekannten Tilmann P. Gangloff. Dieser sei der "hardest Working Man in German Medienpublizistik". Und: "Seine Sachkenntnis auf vielen Feldern und in vielen Genres erlauben ihm nicht nur Sendungskritiken, die neben medienästhetischen Aspekten genauso auch medienkulturelle, medienpolitische und medienökonomische Kontexte berücksichtigen und immer mit ganz eigener Stimme sprechen, sondern auch eine große thematische Vielfalt in seinen anderen Texten, deren Gegenstände von Medienpolitik und allgemeinen medienkulturellen Entwicklungen bis hin etwa zu aktuellen Problemen audiovisueller Produktion reichen."

Das Altpapier am Montag schreibt Klaus Raab. Schönes Wochenende!

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