Kolumne: Das Altpapier am 18. Januar 2023 Abstiegskandidat Deutschland
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18. Januar 2023, 10:19 Uhr
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen fiel Deutschland im vergangenen Jahr von Platz 11 auf Platz 16. Mehrere aktuelle Vorfälle lassen die Vermutung zu, dass es 2023 noch weiter abwärts gehen wird. Außerdem: Eine Afrika-Korrespondentin kritisiert die hiesige Afrika-Berichterstattung. Die Medienthemen des Tages kommentiert René Martens.
Absurde Durchsuchungen in Freiburg
Wenn Journalisten, die eher regional bekannt sind, plötzlich überregional Aufmerksamkeit bekommen, ist ihnen das in der Regel sehr recht. Den Freiburger Journalisten Fabian Kienert und Andreas Reimann wäre es dagegen sehr recht gewesen, wenn ihnen die am Dienstag zu Teil gewordene Aufmerksamkeit erspart geblieben wäre. Kolleginnen und Kollegen aus anderen Teilen der Republik riefen bei ihnen an, weil die beiden Mitarbeiter von Radio Dreyeckland am frühen Morgen Opfer von polizeilichen Hausdurchsuchungen geworden waren - Kienert, weil er diesen Beitrag für die Website des Senders verfasst hat, und Co-Geschäftsführer Reimann, weil er presserechtlich verantwortlich ist für das Web-Angebot des freien Radios.
Wie der Journalist Kienert die Durchsuchung erlebt hat, gibt "SWR aktuell" folgendermaßen wieder:
Gegen sieben Uhr morgens seien acht Beamte in seine Wohnung gekommen und hätten alles durchsucht. Die Beamten hätten Speichermedien, sein Smartphone sowie seinen Laptop, den er auch dienstlich benutzt, beschlagnahmt.
Um 6.30 Uhr, "vielleicht etwas später", sei er aus "dem Bett geklingelt" worden, berichtet wiederum Reimann im Mittagsmagazin seines Senders. Die ungebetenen Gäste hätten Computer und Festplatten mitgenommen - auch einen im Home-Office genutzten Arbeitslaptop seiner Lebensgefährtin, die im sozialen Bereich tätig ist. Einen Computer also, der Daten und Informationen enthält, die noch aus anderen Gründen sensibel sind, als es bei einem Computer eines Journalisten der Fall ist.
Im Sender waren die Staatsdiener auch zugange, aber:
"Beschlagnahmungen in den Geschäftsräumen konnten in letzter Minute verhindert werden, als die Beamt*innen sich bereits in den Räumen von Radio Dreyeckland befanden."
Warum diese Aktionen? In der "gemeinsamen Pressemitteilung" der Staatsanwaltschaft Karlsruhe und des Polizeipräsidiums Freiburg heißt es, ihnen liege der "Verdacht eines Verstoßes gegen ein Vereinigungsverbot (§ 85 StGB) zu Grunde". Und:
"Den Beschuldigten liegt zur Last, auf der Homepage des genannten Rundfunksenders einen Artikel veröffentlicht zu haben, der eine Verlinkung eines Archivs der verbotenen Vereinigung ‚linksunten.indymedia‘ enthält."
Der besagte Link findet sich in dem bereits erwähnten, Ende Juli 2022 erschienenen Text-Beitrag.
Nun hat das Bundesinnenministerium linksunten.indymedia.org zwar 2017 verboten und damit eine "rechtsstaatlich äußerst fragwürdige" Entscheidung getroffen, wie es Reporter ohne Grenzen damals formulierte. Das Archiv der Website, das bis 2017 entstandene Beiträge enthält, existiert online aber weiterhin, und zwar keineswegs im Darknet. Es ist unter der "alten" Adresse linksunten.indymedia.org für jedermann zugänglich. Bei drei Suchmaschinen (Google, Bing, Ecosia) bekam man am gestrigen Abend nach Eingabe der Wortkombination "linksunten indymedia" als erste Meldung genau das Archiv angezeigt, dessen Verlinkung nach Ansicht der Karlsruher Staatsanwälte geeignet ist, dem RDL-Autor und/oder dem presserechtlich Verantwortlichen eine "Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren" oder eine Geldstrafe einzubringen. So steht es jedenfalls in § 85 StGB, auf den sich die Strafverfolger berufen.
In der taz hebt Christian Rath hervor:
"Am Ende des (inkriminierten) Artikels steht der lapidare Satz: ‚Im Internet findet sich linksunten.indymedia.org als Archivseite.‘ Dabei war die Archivseite auch verlinkt. Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe, die für politische Delikte in Baden zuständig ist, wertete diesen Hinweis als ‚Werbung‘ für die verbotene Webseite, unter dem ‚Vorwand‘ der Information."
Verlinken ist kein Verbrechen
Jörg Reichel, Geschäftsführer der Journalistengewerkschaft dju für Berlin und Brandenburg, schreibt in einem Thread, es sei "an Absurdität nicht zu überbieten", dass "man einen Durchsuchungsbeschluss dafür bekommt", dass man auf ein Archiv verlinke. Im RDL-Mittagsmagazin kommentiert ein Mitarbeiter namens Michael, das Vorgehen der Strafverfolger lasse sich "vergleichen mit Putinschen Methoden".
Radio Dreyeckland betont in seiner eigenen Pressemitteilung, es sei "nicht das einzige Medium mit Verlinkungen auf linksunten.indymedia, eine kurze Recherche liefert eine Vielzahl von derartigen Links".
Zu den Aspekten Quellenschutz und Redaktionsgeheimnis schreibt Matthias Monroy im ND:
"Die Rechtsanwältin des Radios hatte mit der Polizei über einen Stopp der Razzia verhandelt. Nachdem sich Kienert als Autor des Artikels outete und den dafür genutzten Laptop übergab, seien die Beamten tatsächlich wieder abgezogen. Kienert wertet dies als Erpressung und einen ‚beispiellosen Eingriff in das Redaktionsgeheimnis‘. Zahlreiche Kontakte des langjährigen Journalisten befinden sich nun in den Händen der Polizei, allerdings auf einem verschlüsselten Gerät."
Der wegen seiner Texte für "Übermedien" im Altpapier oft - zuletzt am Montag - zitierte Andrej Reisin sieht im Vorgehen gegen den Sender "ein weiteres Beispiel für einen Rechtsstaat auf Abwegen":
"Dass man mit dieser Durchsuchung letztlich v.a. Druck auf link(sradikal)e Strukturen ausübt, ist offenkundig."
Auch ein RDL-Mitarbeiter spricht in der bereits erwähnten Mittagssendung von "Strukturausforschung".
Leider werden auch so #Pressefreiheit + #Rundfunkfreiheit eingeschränkt, aber weil es irgendwelche Linken sind, interessieren sich zu wenig Kolleg:innen.
Ähnliches hatte er im Kontext des Verbots von linksunten.indymedia schon 2019 geschrieben (siehe Altpapier).
In der Tat sind die Reaktionen der etablierten reichweitenstarken Medien auf diesen fundamentalen (und plumpen) Angriff auf die Pressefreiheit überschaubar. Der "Spiegel" bringt immerhin einen dpa-Text, aber bei Zeit Online, sueddeutsche.de und welt.de beispielsweise war am Dienstagabend nüscht zu finden. netzpolitik.org hingegen geht auf die Durchsuchung und die Kritik daran ein, etwa von Joschka Selinger von der Gesellschaft für Freiheitsrechte. Der Rechtsanwalt sagt:
"Die Staatsanwaltschaft verkennt die Bedeutung der Pressefreiheit, wenn sie den Anfangsverdacht auf das Setzen eines Links in einem redaktionellen Beitrag stützt, der erkennbar der Berichterstattung über ein zeitgeschichtliches Ereignis dient. Das Setzen von Links in redaktioneller Berichterstattung ist sozial erwünscht und durch die Pressefreiheit privilegiert. Eine Strafbarkeit ist nur in eng begrenzten Ausnahmefällen denkbar, andernfalls drohen der Presse unkalkulierbare Strafbarkeitsrisiken."
Das Verdi-Magazin "M - Menschen Machen Medien" weist aus aktuellem Anlass darauf hin, dass Deutschland im vergangenen Jahr "auf der Rangliste der Pressefreiheit von Platz 11 auf Platz 16 abrutschte". Dieser Anlass ist aber nicht die Durchsuchungs-Aktion in Freiburg, es geht vielmehr um die Einschränkungen der Pressefreiheit in Lützerath:
"Die dju listet mindestens sechs körperliche Angriffe auf Journalist*innen durch die Polizei beziehungsweise durch die von RWE beauftragte Security auf. Mindestens zwei Journalist*innen sei nachträglich und unbefristet die Akkreditierung durch die Polizei entzogen worden."
Angesichts der "mindestens sechs körperlichen Angriffe" kann man durchaus erwähnen, dass beim Fall auf Platz 16 in der erwähnten Liste "auch Gewalt durch die Polizei gegen Medienschaffende eine Rolle spielte".
Den Abstieg Deutschlands aus der 1. Liga der Pressefreiheit beschleunigen könnte auch eine Entscheidung des Amtsgerichts Tiergarten. Am Montag ging es dort um Attacken des Neonazis Sven Liebich auf Journalisten im Berliner Landgericht im Juni 2020. Kira Ayyadi berichtet für "Belltower News" - und blickt erst einmal auf die Ereignisse von vor mehr als zweieinhalb Jahren zurück:
"Der Rechtsaußen-Aktivist und seine Fans griffen anwesende Pressevertreter*innen vor und im Gerichtsgebäude an und behinderten sie daran, ihrer Arbeit nachzugehen. Besonders der Journalist Arndt Ginzel und sein Kameramann Gerald Gerber, die für einen ZDF-Dreh vor Ort waren, wurden angegangen.
Wiederholt schlugen die rechtsextremen Anhänger*innen gegen die Kamera und versuchten Kabel herauszuziehen. Auch der Sohn des nun mitangeklagten Florian D. (damals laut Liebich erst elf Jahre alt), beteiligte sich vehement an den Angriffen. Auf Videos von Sven Liebich, der vor dem Gerichtsgebäude einen Livestream machte, und auf Aufnahmen des freien Journalisten Henrik Merker, ist zu sehen, wie die rechten Fans immer wieder in die Kamera griffen. Auch ein Justizbeamter drückte die Kamera nach unten und behinderte das ZDF-Team so am Dreh."
Aber:
"Obwohl Justiz und Politik kurz nach dem Übergriff noch großspurig betonten, dass man die Presse schützen müsse und man um Aufklärung bemüht sei – wurde das Verfahren gegen Liebich und Florian D. nun sang- und klanglos (vorläufig) eingestellt. Die Richterin begründete die Einstellung des Verfahrens am Montagmittag damit, dass beide wegen anderer Delikte bereits verurteilt seien."
Der DJV protestiert nun gegen diese Entscheidung, und der im "Belltower News"-Text erwähnte Henrik Merker äußert sich bei Twitter. Er schreibt:
"Weiß auch nicht, was man dazu noch sagen soll. Wir reden da über übelste Beleidigungen, angedrohte Schläge, Schubser auf einer Treppe, entwendetes & weggeworfenes Equipment, Schläge auf die Kamera. ‚Lügenpresse auf die Fresse’-Rufe mitten im Landgerich Berlin. Und das alles auf Video aus verschiedenen Perspektiven dokumentiert (…) So eine Verfahrenseinstellung verschiebt für Rechtsextreme die Möglichkeiten, Reporter:innen anzugreifen. Sie müssen ja nix fürchten."
Ansonsten halten sich die Wortmeldungen zu der Angelegenheit in Grenzen.
Ins unschöne Bild passt auch noch, dass sich der BDZV und das European Centre for Press and Media Freedom (ECPMF) veranlasst sehen, Lokaljournalistinnen und -journalisten dazu zu animieren, für eine Studie einen Online-Fragebogen zu pressfreiheitsfeindlichen Attacken auszufüllen:
"In der geplanten Studie sollen Angriffe laut BDZV und ECPMF dokumentiert, verifiziert und analysiert werden. Dazu zählen digitale und tätliche Übergriffe, Cyberattacken oder Einschüchterungsversuche durch Doxing (also das Veröffentlichen personenbezogener Daten), rechtliche Schritte und Zensurmaßnahmen."
Darüber berichtet die SZ heute auf der Medienseite.
Altpapierkorb (Defizite in der Afrika-Berichterstattung, das verzerrte mediale Bild der Letzten Generation, Himmler über Netflix und Co., "Free speech tsar" in Großbritannien)
+++ Das DLF-Medienmagazin "@mediasres" hat mit der freien Afrika-Korrespondentin Bettina Rühl über Defizite in der Berichterstattung über Afrika gesprochen: In der Zusammenfassung des Interviews heißt es: "Rühl beobachtet (…) fehlendes Interesse bei Medienhäusern. Korrespondentennetze seien ihrer Erfahrung nach oft nicht dicht genug, hinzu kämen Sparzwänge und immer teurere Recherche-Reisen: ‚Man kommt immer schwieriger in diese Krisenländer rein, um dann von dort aus zu berichten.‘ Visa und Akkreditierungen würden immer mehr kosten und dadurch unbezahlbar, vor allem für freie Journalistinnen." Hintergründige Berichterstattung sei wichtig, damit die Bevölkerung etwa die Bundeswehreinsätze in den Sahel-Ländern beurteilen könne. Wenn Verlage und Sender derlei nicht finanzieren könnten, müsse man "andere Finanzierungsmodelle entwickeln". Kritik an der unzureichenden Berichterstattung über die Bundeswehr-Einsätze in der Sahel-Region übte bereits im Mai 2022, ebenfalls bei "@mediasres", Lutz Mükke, die generellen Schwächen der Afrika-Berichterstattung hat im Altpapier mehrmals Klaus Raab aufgegriffen, etwa in diesem Jahresrückblick.
+++ Unter der Überschrift "Letzte Generation: So verzerren die Medien die Realität" kritisiert der "Volksverpetzer", dass viele Redaktionen die in ihren Forderungen bemerkenswert unradikale Letzte Generation als radikal darstellen.
+++ Äußerungen von Intendantinnen und Intendanten stimme ich ja eher selten zu, aber was Norbert Himmler vom ZDF im großen SZ-Interview auf Claudia Tieschkys Frage "Sind die Öffentlich-Rechtlichen heute zur Konkurrenz mit Netflix verdammt?" sagt, unterschreibe ich: "Ich halte den Anspruch für völlig falsch. Wir haben uns auch im Linearen nie als Konkurrenz zu Warner, Disney oder Sony verstanden. Natürlich ist heute alles auf einem Bildschirm näher zusammengerückt. Aber das Geschäftsmodell der Streamer besteht hauptsächlich darin, eine Serie - die vielleicht tatsächlich lokal in Deutschland produziert ist - für den weltweiten Markt zu machen. Warum sollen wir uns damit messen? Übrigens müsste Netflix dafür erst einmal seine Zahlen offenlegen, und dabei gäbe es sicher manche Überraschung."
+++ Eine britische Bizarrerie greift Nick Cohen auf, der früher für den "Observer" gearbeitet hat und jetzt seine Texte bei Substack veröffentlicht. Er geht darauf ein, dass der britische Premierminister Rishi Sunak einen "free speech tsar” installieren wolle. Cohen: "You can begin to grasp the complexity of the issue by considering our asinine government’s willingness to bestow the title of ‚tsar‘ on public officials. In the past when ministers appointed ‚drugs tsars' and ‚homelessness tsars‘ their grandiosity was merely ridiculous. Now they are giving us a ‚free speech tsar‘ it is insulting." Dass Zaren eher keine Freunde der "free speech" waren, wäre nur eine Absurdität, die sich im Zusammenhang mit dieser Titulierung zu erwähnen aufdrängt.
Autor des Altpapiers von Donnerstag werde wieder ich sein.
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