Das Altpapier am 9. Dezember 2022: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Kolumne: Das Altpapier am 9. Dezember 2022 Sind Investigativjournalisten tendenziell dünnhäutig?

09. Dezember 2022, 12:06 Uhr

In der Debatte um die Berichterstattung rund um die Reichsbürger-Razzia geht es nun darum, wie die Kritisierten auf Kritik reagieren. Ebenfalls auf der Agenda: Inwieweit mediale Kampagnen rechten Terror beeinflussen. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

"Ist halt unser Job"

Die Beschäftigung mit der "Kollektiv-Exklusivität rund um die Reichsbürger-Razzia" (Jens Weinreich in einer Reaktion auf die Altpapier-Kolumne von Donnerstag) bleibt das Hauptthema medienkritischer Debatten.

Holger Stark, stellvertretender Chefredakteur der "Zeit", twittert zur bisherigen Berichterstattung über die Berichterstattung:

"Spekuliert haben vor allem Politiker:innen und Journalist:innen, die nicht beteiligt waren. Das meiste ist an sehr langen Haaren herbeigezogen."

Der Relativsatz im ersten Satz wirkt auf mich ein bisschen lebensfern. Wird Kritik an Berichterstattung nicht in der Regel von Leuten formuliert, die daran "nicht beteiligt waren"? Wie auch immer:

"Die Ermittlungen laufen seit Monaten, Dutzende Behörden in Bund und Ländern waren beteiligt, da sickert hier und da was durch. Genau das ist doch unser Job: den Sicherheitsbehörden auf die Finger zu schauen, gucken, was sie tun, sich nicht auf Pressemitteilungen zu verlassen."

Stefan Niggemeier geht bei "Übermedien" unter anderem darauf ein, wie die Kritisierten mit der Kritik umgehen - wobei er vor allem "Spiegel"-Leute im Blick hat. Aber auch den NDR/WDR-Kollegen Manuel Bewarder. Dieser hatte getwittert:

"Schon interessant, dass heute fast lauter darüber diskutiert wird, warum Journalisten von Durchsuchungen wussten (was ihr Job ist) – und irgendwie leiser über die Gefahr von Rechtsaußen für die freiheitlich-demokratische Grundordnung."

Niggemeier schreibt dazu:

"Das kleine Wort 'fast' muss sehr viel Arbeit leisten in diesem Satz. Noch mehr Last liegt nur auf der beiläufigen Klammer 'was ihr Job ist‘. Ist das wirklich so? Machen Journalisten, die nach einer Razzia über diese berichten und ab da weiterrecherchieren, also ihren Job nicht? Welcher Preis ist damit verbunden, vorab informiert zu sein? Wie embedded sind Journalisten, die so berichten? Was wäre zu gewinnen, zu verlieren, wenn man aus größerer Distanz über solche Aktionen berichtete und sie analysierte? Es gäbe da viel zu streiten und zu erklären, aber mit einem 'Ist halt unser Job‘ ist es sicher nicht getan."

Die "Süddeutsche" zitiert eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums:

"Die Anwesenheit von Medienvertretern vor Ort bei Durchsuchungsmaßnahmen gefährdet nicht nur die Medienvertreter selbst, sondern kann auch die Einsatzkräfte behindern und somit gefährden."

Wobei es im aktuellen Kontext auf das Wörtchen "kann" ankommt. Denn das, was hätte passieren können, ist ja nicht passiert. Eine wichtige Frage stellen Aurelie von Blazekovic und Philipp Bovermann am Ende ihres Artikels:

"Wenn eine so wichtige Aktion ohne Kameras geschähe, ohne die Anwesenheit der demokratischen Öffentlichkeit in Form der Presse, ohne Journalisten, die nötigenfalls Falschinformationen berichtigen - könnte daraus nicht im Nachhinein tatsächlich eine PR-Aktion werden, nämlich eine der Demokratiefeinde, denen der Einsatz galt?"

Mit anderen Worten: Die Sympathisantinnen und Sympathisanten der Verhafteten hätten es in diesem Fall leichter gehabt, fiktive Erzählungen zum Ablauf der Razzien zu verbreiten. Die vom SZ-Autorenduo formulierte Frage ist für mich in der aktuellen Debatte eine der beiden wichtigsten - neben der, die Ralf Heimann die gestern hier formuliert hat:

"Angenommen, die Polizei hätte die Razzia geheim gehalten. Sie hätte am Nachmittag nach dem Einsatz in Berlin eine Pressekonferenz veranstaltet, in der sie ausführlich über die Hintergründe berichtet hätte. Wäre die Berichterstattung dann ebenfalls so groß ausgefallen?"

Ist der NSU schon vergessen?

Der Rechtsextremismus-Experte Andreas Speit kritisiert gegenüber Tagesschau 24 die journalistischen Beiträge zur Razzia mit einem anderen Fokus: In der Berichterstattung über rechten Terrorismus klingt - so würde ich seine Worte interpretieren bzw. zusammenfassen - ein generelles Unwissen über deren Geschichte mindestens an. Speit sagt:

"Ich glaube, es ist hilfreich, sich die rechten Terrorgruppen anzuschauen, die in den vergangenen Jahrzehnten in der Bundesrepublik gemordet haben - ich erinnere nur an das Attentat beim Oktoberfest in Bayern, was der größte rechtsextreme Anschlag damals gewesen ist, wenn wir die Zahl der Toten vergleichen."

Und einen konkreten Fehler benennt Speit auch:

"Es geistert gerade die Formulierung durch die Medien, dass dies das größte rechte Netzwerk war, was nun aufgeflogen ist. Man muss aber sagen, das größte rechte Terrornetzwerk war der NSU. Und davon wurden nicht alle, die darin involviert waren, strafrechtlich belangt."

Ex-Altpapier-Kollege Matthias Dell hatte bereits vor rund fünfeinhalb Jahren in einer Kolumne für das DLF-Medienmagazin "@mediasres" darauf hingewiesen, wie augenfällig die (auch mediale) Ahnungslosigkeit in Sachen bundesrepublikanischer Rechtsterror-Historie ist.

Samira El Ouassil geht in ihrer "Spiegel"-Kolumne darauf ein, was wir aus dem Bild lernen können, das der mutmaßliche Haupttäter offenbar von sich vermitteln will:

"Es geht mir nicht um eine diskriminierende Beurteilung des Aussehens eines älteren Mannes. In der Tat wäre es zu kritisieren, wenn ich hier eine moralische Bewertung seiner Person aufgrund ihres äußerlichen Erscheinens vornehmen würde. Und es ist auch nicht meine Absicht, seine extreme Ideologie anhand seines kriminell durchdachten Kleidungsstils abzulesen. Wer behauptet, man könne an einem Gewand automatisch die Gesinnung erkennen, der denkt auch, dass alle Nazis Springerstiefel und Bomberjacken tragen. Was nicht stimmt – wie ein Blick in den Bundestag zeigt. Nein, was sich hier vor uns entzwirnt, ist im Gegenteil der individuell schockierende Schick der Banalität des Antidemokratischen, gewandet in Tweed und Seide. Der gutbürgerlich in der Mitte der Gesellschaft versteckte Extremismus tarnt sich hier mit elitärem Habitus und der Harmlosigkeit gemusterter Krawatten. (…) Im textilen Auftreten von Heinrich XIII. Prinz Reuß prangt eine abgründige Bürgerlichkeit, deren berechnende Biederkeit auch in der Dackelkrawatte von Alexander Gauland bellt."

An Journalistinnen und Journalisten, die das Terror-Netzwerk verharmlosen, fehlt es natürlich nicht. Man findet sie bei der "Welt" und der "Berliner Zeitung", wie Christian Stöcker in diesem Screenshot dokumentiert. Andererseits gibt es aber auch Unterschiede innerhalb der genannten Redaktionen. Bei der "Berliner Zeitung" erfreut sich (siehe auch den eben genannten Screenshot) Jesko zu Dohna an den Formulierungen "verwirrte Greise" (Fließtext) bzw. "vergreiste Verwirrte" (Vorspann), während Julia Haak in derselben Zeitung kommentiert, "Erheiterung" sei "fehl am Platz", wie es in der Überschrift der Druckausgabe heißt. Und aus der "Welt"-Mannschaft kommen nicht nur in Sachen Erheiterung ambitionierte Tweets wie von der Chefreporterin Fischstäbchen, sondern auch eine Wortmeldung des Kollegen Frederik Schindler, der sich von Berufs wegen mit dem Thema Rechtsextremismus auskennt. Claas Gefroi stellt hier beide gegenüber.

Rechter Terror bezieht seine Motive aus der medialen Mitte

In vielen Artikeln zur Razzia-Berichterstattung (gestern im Altpapier, heute zum Beispiel in dem bereits verlinkten SZ-Text) findet sich ein Satz der Linken-Bundestagsabgeordneten Martina Renner ("Diese Razzia war seit mindestens einer Woche ein offenes Geheimnis"). Vor der Razzia hat sie - gemeinsam mit ihrem Mitarbeiter Sebastian Wehrmann - für die taz einen Gastbeitrag verfasst, den man im Lichte der Aktualität vielleicht etwas anders liest ... Die entscheidende Passage lautet:

"Rechter Terror stand schon immer in einem engen Verhältnis zur öffentlichen Debatte, zur sogenannten gesellschaftlichen Mitte. Aus ihr bezieht er Motive, Rechtfertigung und Ziele. Er bedroht diejenigen, die in Politik, Medien und Alltag ausgegrenzt, diffamiert und zu Anderen gemacht werden."

Womit dann auch der Grund benannt wäre, weshalb Vertreter rechter Medien Rechtsextremismus "externalisieren" (noch einmal Claas Gefroi), oder so tun, als hätten die Verhafteten "nichts, aber auch wirklich gar nichts mit einem radikalisierten Konservatismus zu tun" ("Jacobin"-Chefredakteurin Ines Schwerdtner).

Einige Erläuterungen aus dem Renner/Wehrmann-Text scheinen mir hier noch hilfreich zu sein:

"Als der Attentäter von Hanau im Februar 2020 in einer Shisha­bar das Feuer eröffnete, waren Shishabars von Po­li­ti­ke­r*in­nen und bestimmten Medien zu symbolischen Orten vermeintlicher 'Clankriminalität'gemacht worden. Ohne sie hätte der Täter diese Orte nicht als legitimes Anschlagsziel ausgemacht. So haben jene Po­li­ti­ke­r*in­nen und Medien eine Vorlage für rechten Terror geboten. Sie haben dabei geholfen, rechte Meinungen in gewalttätige Praxis zu übersetzen. Rechte Ideologie wurde zugespitzt, auf konkrete Feindbilder und Orte fokussiert. Im Fall der Letzten Generation ist dieser Ort der Zuspitzung: die blockierte Straße. Dass Autos ohnehin enorm symbolisch aufgeladen sind, verschärft die Lage. So werden – in der Regel weiße, mittelalte und männliche – Autofahrer von Konservativen gerne als Leidtragende ökologischer Politik präsentiert."

RBB jetzt noch führungskraftloser

Was gibt es Neues rund um jene Landesrundfunkanstalt, der wir seit einigen Monaten den meisten medienkolumnistischen ARD-Stoff verdanken? Die "Märkische Allgemeine Zeitung" meldet:

"Die Reform des RBB-Staatsvertrags verschiebt sich schon wieder. Ein Grund: In die Novelle des Vertrags, der den Auftrag und die Kontrolle des RBB regelt, sollen die Ergebnisse der Prüfungen der Rechnungshöfe beider Länder einfließen. Sowohl der Berliner als auch der Brandenburger Rechnungshof untersuchen derzeit die Strukturen des Senders und wollen ihre Erkenntnisse dann im Frühjahr vorlegen."

Die senderpolitische Personalie des Tages kommt ebenfalls vom RBB. dpa und "Tagesspiegel" berichten, dass der Rundfunkrat die "bisherige Juristische Direktorin, Susann Lange, von ihrem Amt abberufen" hat:

"Lange gehörte bislang zur Geschäftsleitung des krisengeschüttelten öffentlich-rechtlichen ARD-Senders. Im Oktober war bekanntgeworden, dass der RBB Lange vorerst von ihren Dienstpflichten entbunden hatte. Damals hieß es vom Sender, dies geschehe im gegenseitigen Einvernehmen und bis zur Klärung von Vorwürfen. Kurz davor war publik worden, dass die Generalstaatsanwaltschaft Berlin inmitten der RBB-Affäre um Vetternwirtschaft die Ermittlungen auf weitere Geschäftsleitungsmitglieder ausweitete, dazu zählt Lange. Es geht um den Verdacht der Untreue und Beihilfe zur Untreue mit Blick auf die Einführung eines variablen Vergütungssystems und Gehaltsfortzahlungen an Mitarbeiter, die keine Beschäftigung mehr ausüben."

Ob "Einführung eines variablen Vergütungssystems" hier tatsächlich die ideale Formulierung ist - ich bin mir da nicht sicher. Vielleicht wäre "Weiterentwicklung" passender als "Einführung". In diesem Zusammenhang sei verwiesen auf meine (online nicht abrufbare) Kolumne in der aktuellen Ausgabe des "Medium Magazins", in der ich auf eine "historische Entscheidung" von 2005 eingehe:

"Aus einem Dokument mit dem Titel 'Neuartiges Vertragskonzept für RBB-Hauptabteilungsleiter/innen', das uns ein Archivar alter rbb-Schriftstücke zur Verfügung stellte, geht hervor: Im Oktober jenes Jahres (wurde) den Mitarbeitenden (mitgeteilt), dass 'die mit den Kolleginnen und Kollegen der Hauptabteilungsleiterebene geschlossenen Verträge mit Wirkung zum 1. Dezember 2005 generell in außertarifliche Verträge'umgewandelt würden und der RBB'zugleich ein leistungsbezogenes, variables Vergütungselement‘ einführe. Von einem 'Novum in der ARD‘ war die Rede."

"Variables Vergütungselement"? Beim RBB hat diese Formulierung also schon einige Jahre auf dem Buckel. Offensichtlich begann in diesem Oktober 2005 - als Patricia Schlesinger noch eine hochangesehene Journalistin bzw. Leiterin der Abteilung Ausland und Aktuelles beim NDR war - die Geschichte der vermaledeiten Boni, die eine so wichtige Rolle im aktuellen RBB-Skandal spielen.


Altpapierkorb (Grimberg zu den neuen Compliance-Regeln, Kritik an "Umschau" des MDR, neues Literaturmagazin beim RBB)

+++ Dass die Rundfunkkommission der Länder bei den Compliance- und Transparenzregeln für die Öffentlichen-Rechtlichen "nachschärft" (vgl. Altpapier von Mittwoch), kommentiert Steffen Grimberg für die taz folgendermaßen: "Das ist a) gut und richtig und b) ein Armutszeugnis für die öffentlich-rechtlichen Chef*innenetagen. Denn sie sind immer noch zu langsam und warten lieber auf gesetzliche Vorgaben statt selbst mal mit gutem Beispiel voranzugehen."

+++ Welcher Art die "Zweifel" an einem pathologischen Fallbericht sind, auf den sich der MDR in einem "Umschau"-Beitrag zu "einem möglichen Todesfall durch Impfung" bezieht und inwiefern der Mediziner, der den Bericht verfasst hat, "bereits aufgrund seiner Vorgeschichte nicht ganz unumstritten ist" - das dröselt ostprog.de auf

+++ Über die neue, von Sophie Passmann moderierte RBB-Literatursendung "Studio Orange" urteilt Carolina Schwarz in der taz: "Passmann (will) mit ihren Gästen über Klassiker, Kinderbücher und Popliteratur sprechen. Sie wollen es anders machen als andere Literatursendungen. Sie wollen keine Fremdwörter wie Intertextualität nutzen, sie wollen lustig sein und entspannt. Und so, wie das hier klingt, ist es dann leider auch: ziemlich gewollt."

Am Montag bin ich als Autor hier wieder am Start.

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