Das Altpapier am 25. November 2022 Analysefaulheit und Bauchgefühlprojektionen
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25. November 2022, 10:40 Uhr
Die Letzte Generation kennt die Mechanismen der Medien möglicherweise besser als Menschen, die für Medien arbeiten. Arme, Arbeitslose und migrantische Menschen kommen im öffentlichen Diskurs kaum vor. Sollte die ARD ihre Orchester zusammenstreichen, wäre das ein Symptom für "eine Gesellschaft im Niedergang". Ein Altpapier von René Martens
Wenn Journalisten nicht zuhören wollen
Für einen Journalismus, der mit Journalismus eigentlich nicht mehr viel gemeinsam hat, dürften sich in der jüngeren Vergangenheit nur wenige im unguten Sinne eindrucksvollere Beispiele finden lassen als die Berichterstattung über die Letzte Generation. Dieses Thema kam im Altpapier neulich bereits zur Sprache - allerdings in eher knapper Form, verglichen jedenfalls mit der Ausführlichkeit des Rants, den Friedemann Karig bei "Übermedien" (€) vom Stapel gelassen hat.
Er geißelt darin unter anderem: "die intuitive Abneigung, mit der besonders auch das linksliberale Feuilleton reagierte", "den nachhaltigen medialen und politischen Unwillen, die Proteste fehlerfrei abzubilden", "eine gewisse Analysefaulheit" sowie "Bauchgefühlprojektionen".
Über die Berichterstattung über Protestaktionen in Museen schreibt Karig zum Beispiel:
"Dass hier nicht die Kunst angegriffen wird, sondern im Gegenteil, wie die Aktivist:innen auch erklärten, ihr Schutz eingefordert wurde, würde man verstehen, wenn man ihnen zuhörte. Dass nur ein ökologisch intaktes System überhaupt erst die Existenzbedingungen – Wohlstand, Frieden, Sicherheit und so weiter – für Kunst und ihre Rezeption zu erzeugen vermag, scheint banal. Markus Lanz versicherte in seiner Sendung: 'Ich kenne Plätze in den Dolomiten, da kommt kein Wasser hin, da parken wir die Kunstwerke zur Not.' Dann sprach er der Aktivistin (Carla) Rochel die Liebe zur Kunst ab: 'Wer so etwas tut, kann die Kunst nicht lieben' Das fasst die Haltung des feinsinnigen Bürgertums gut zusammen: Mit Kunst und Essen spielt man nicht, mit eurer Zukunft schon."
Hat sich im im Laufe der Zeit was zum Positiven verändert? Eher nö. Karig schreibt:
"Näher mit Theorie und Praxis dieser Protestformen auseinandersetzen mochte sich auch nach Wochen der Verhandlung kaum jemand. Zu genau wusste man, dass das alles nichts bringen kann. Und kam in einem gigantischen, medialen, performativen Widerspruch nicht umhin, den wohl formulierenden, wissenschaftlich argumentierenden, höflichen 'Chaoten' mehr und mehr Raum zu überlassen."
Wie auch immer: "Mit einem Bruchteil des Mobilisierungsaufwandes", so Karig, habe sich die Letzte Generation "blitzschnell mehr Präsenz" erarbeitet als es mit den "üblichen Demonstrations-Ritualen" möglich gewesen wäre. Die Protestierenden kennen die Mechanismen der Medien möglicherweise besser als jene, die für Medien arbeiten.
Und um zumindest einmal das heute in dieser Kolumne ansonsten beschwiegene Thema Fußball ins Spiel zu bringen:
"Die quer durch alle Lager und Medien wiederholte These, diese Art von Protest sei 'kontraproduktiv', 'abschreckend', kurz: 'ein Eigentor' – sie kommt meistens ohne Erklärung aus, wo denn in diesem Spiel die Tore stehen, was der Ball ist und was das Spielfeld, und warum man bei einem aktuellen Spielstand von 0:6 gegen das Klima so sicher wäre, zu wissen, wie man sonst noch gewinnen kann (…) War das 'blinder Vandalismus' von verzweifelten Seelen, ein Hilfeschrei der Hoffnungslosigkeit? Schrecklicher Verdacht: Man hätte erfahren, wie gut vorbereitet sie sind, wenn man nur ernsthaft mit diesen seltsamen Leuten gesprochen oder wenigstens ihre Webseite gelesen hätte."
Wenn Klassenzugehörigkeit ausgeblendet wird
Die Otto-Brenner-Stiftung wird 50 in diesem Jahr, und anlässlich dessen findet am Samstag in Frankfurt eine Festveranstaltung statt, außerdem erscheinen aus Jubiläumsgründen morgen drei von der Stiftung herausgegebene Sammelbände, darunter ein für diese Kolumne relevanter unter dem Titel "Welche Öffentlichkeit brauchen wir. Zur Zukunft des Journalismus und demokratischer Medien".
Während der Veranstaltung findet unter anderem eine Diskussion zwischen der Grimme-Preisträgerin Julia Friedrichs und der Jacobin-Chefredakteurin Ines Schwerdtner statt, deren Buchbeiträge "Eine Klasse für sich? Wieso Akademiker:innen die Redaktionen beherrschen" (Friedrich) und "Das Verschwinden der Arbeiterklasse aus den Medien" (Schwerdtner) sich in Teilen ergänzen.
Friedrichs betont erst einmal, dass sie in ihrem Text "keine Ungleichheit gegen die andere ausspielen" will. Dennoch stellt sie fest,
"dass die Diversity-Diskussion einen Bereich weitestgehend ausblendet – oder sollte man sagen: eine Dimension? Zwar wurde schon im Jahr 2006 die Charta der Vielfalt verabschiedet. Eine Selbstverpflichtung von Arbeitgeber:innen, die Diversität in den Belegschaften zu fördern. Auch eine sehr lange Reihe von Medienunternehmen gehört zu den Unterzeichnern"
Aber:
"Die Tatsache, dass uns neben Geschlecht, Religion, Hautfarbe usw. noch ein anderer wesentlicher Faktor prägt, nämlich unsere wirtschaftliche Lage, unsere Klassenzugehörigkeit, wurde ausgeblendet. Erst Anfang 2021 wurde die Charta der Vielfalt um eine siebte Dimension erweitert: die soziale Herkunft."
Inwiefern schlägt sich soziale Herkunft zum Beispiel in Texten nieder? Friedrichs holt aus:
"Wir neigen dazu, den Lebensstandard, den wir von uns und unseren Freunden kennen, als ziemlich durchschnittlich, als Standard, als normal einzuschätzen – selbst, wenn wir von der statistischen Mitte ziemlich weit entfernt sind."
Und gegen diese Fehlwahrnehmung der Normalität seien "auch Journalist:innen nicht gefeit". Ob sie überhaupt daran interessiert wären, dagegen "gefeit" zu sein, ist wiederum eine andere Frage. Friedrichs zitiert des Weiteren die "Zeit"-Redakteurin Anna Mayr, die nicht den bei Journalistinnen und Journalisten üblichen sozialen Background hat ("Mayrs Eltern waren arbeitslos, langzeitarbeitslos"):
"'Wenn in der 'Zeit' Texte über normale Leute erscheinen, finden meine Kollegen das immer super, aber auch ungewöhnlic'h, sagt Mayr. Die Sprache sei immer wieder exotisierend, staunend würde über den Arbeitslosen berichtet, der sich in einer Maßnahme bewährt, in einer Sprache, als sei er ein kleines Kind. Aus normalen Mietwohnungen würden Wohnwaben, in Fotostrecken über Kinderschreibtische ist es erwähnenswert, wenn ein Kind im Plattenbau lebt, so Mayr. Bei anderen Protagonist:innen sei dann aber schlicht zu lesen: Sie lebt mit ihren Eltern in Stuttgart, verschwiegener Subtext: in einem Haus, wie wir alle groß wurden."
Ines Schwerdtner, deren Magazin sich gerade mittels Crowdfunding bessere Perspektiven zu erarbeiten versucht, konstatiert in ihrem Beitrag:
"Arbeiterinnen und Arbeiter (sind) aus dem Blick der Medien verschwunden, weil auch die organisierte Arbeiterklasse als solche von der Bildfläche verschwand (…) Arme, Arbeitslose und migrantische Menschen, (erfahren) (…) kaum mehr mediale oder demokratische Repräsentation (…) und gegeneinander ausgespielt werden. Ein Gutteil der in der Bundesrepublik lebenden Menschen kommt im öffentlichen Diskurs nicht mehr vor, weil er materiell oder diskursiv nicht die Möglichkeiten hat, sich Gehör zu verschaffen."
Was nach meiner Einschätzung zuletzt zum Beispiel in der Berichterstattung über das Bürgergeld spürbar war. Eine weitere These Schwerdtners lautet:
"Der Streik in einer beliebigen Branche interessiert in der Regel erst dann, wenn sich daraus eine emotionale Story schnitzen lässt."
Würde Tom Buhrow den Louvre einreißen?
Sowohl die "Zeit" als auch "epd medien" gehen in ihren aktuellen Ausgaben auf die Fusionsüberlegungen im kulturellen Bereich ein, die Tom Buhrow, der Kölner Revolutiönchenführer in spe, in seiner berühmten Hamburger Rede formuliert hat.
"Als Buhrow seine Vorschläge für 'eine große Reform des gemeinnützigen Rundfunks' unterbreitete, nannte er zuerst die 64 Radiowellen, die von den ARD-Sendern betrieben werden, und stellte die Frage: 'Warum so viele?'",
schreibt Dietrich Leder zu Beginn seines "epd medien"-Leitartikels. Nachdem er "insgesamt elf Programme über drei Wochen zu unterschiedlichen Tageszeiten eingeschaltet und über längere Strecken angehört" hat, findet er eine substanzielle Antwort auf die zitierte Frage Buhrows:
"Nachts schalten sich die Kulturprogramme schon seit einigen Jahren zusammen. Im Sommer geschieht dies für eine gewisse Zeit auch schon am Abend, wenn im 'ARD-Radiofestival' ab 20 Uhr Konzerte von den Musikfestivals übertragen werden. Wäre ein solches zusammengeschaltetes Programm - jenseits der Frage, ob es medienrechtlich durchgesetzt werden könnte - sinnvoll, wie Tom Buhrow andeutete? Beim Durchhören gab es tatsächlich vieles, was so oder so ähnlich in vielen Programmen parallel zu hören war. Aber es gab mindestens so viel, womit sich einzelne Programme - hier seien vor allem Bayern 2, SWR2 und WDR3 genannt - als besonders, als individuell, als stark regional fundiert erwiesen. Käme es zu einem gemeinsamen ARD-Kulturradio, wäre eine Nivellierung auf niedrigem Niveau und ein dramatischer Verlust an Vielfalt zu befürchten."
In der Zeit (€) fragt Florian Zinnecker, was "die neue Daseinsberechtigung der öffentlich-rechtlichen Orchester sein könnte" - und konstatiert:
"An einer klugen Antwort, das muss man leider so sagen, scheitern die Rundfunkanstalten seit Jahren. Die Orchester selbst haben sie längst gefunden - es sind die Konzerte. Das Live-Publikum ist um ein Vielfaches wichtiger geworden, als es die Radiohörerinnen und -hörer sind. Und die Ensembles - nicht alle, aber viele - gehören zu den besten der Branche. Sie könnten sich national und international profilieren, wenn man sie nur ließe, statt - an diesem Punkt lachten einige der befragten Orchesterleute bitter auf - ihren Etat für Marketing und Programmplanung immer noch weiter zusammenzustreichen. Für viele Entscheidungsträger in den Rundfunkanstalten, so scheint es, sind die Orchester vor allem deshalb da, weil sie eben da sind: durch eine Reihe historischer Zufälle entstanden und seither übrig geblieben."
Zinnecker erwähnt, dass die von ihm Befragten in aller Regel nicht namentlich genannt werden wollten. Aber:
"Dann lässt sich doch noch jemand zitieren - Sir Simon Rattle, designierter Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, allerdings nicht in seiner kommenden Funktion, sondern als Privatmann."
Rattle macht sozusagen den Buhrow. Wie auch immer, er sagt:
"Die Auslöschung von jahrzehntelang aufgebauten Kultureinrichtungen ist immer ein Indiz für eine Gesellschaft im Niedergang."
Er sagt dann auch noch, dass die Orchester und Ensembles der ARD ein "bedeutender Teil des musikalischen Erbes des 20. und 21. Jahrhunderts" seien, und man kann nur hoffen, dass Rattle auch als Führungsperson des öffentlich-rechtlichen Rundfunks dereinst noch zu knackigen Formulierungen befähigt sein wird.
Der Text endet folgendermaßen:
"Die Überlegungen, die öffentlich-rechtliche Orchesterlandschaft zusammenzustreichen, (hält Rattle) für eine 'unglaubliche, schädliche Torheit'. Mache ja nichts, wenn sich ein Intendant nicht für Klassik interessiere, sagt jemand anders. Er selbst verstehe beispielsweise nichts von Kunst. Aber deshalb reiße er ja nicht den Louvre ab."
Altpapierkorb ("Spiegel"-Nachrecherchen, "Nachdenkseiten", "Tagesspiegel"-Medienseiten-Aus)
+++ "An dieser Stelle befand sich ein Beitrag über das Schicksal einer Flüchtlingsgruppe am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros im Sommer 2022. Mittlerweile gibt es Zweifel an der bisherigen Schilderung der damaligen Geschehnisse. Wir haben daher mehrere Beiträge zu diesem Thema vorläufig von unserer Website entfernt." Dieser Hinweis "unter aktuell vier" "Spiegel"-Artikeln ist der Ausgangspunkt für Recherchen des Portals "Medieninsider" (€). Und was sagt der "Spiegel" auf Nachfrage? "Man überprüfe die Berichterstattung und 'entscheide nach Abschluss der Recherchen, ob die Beiträge gegebenenfalls in korrigierter und aktualisierter Form erneut veröffentlicht werden'", heißt es dazu beim "Medieninsider". Der "Tagesspiegel", die "Süddeutsche" und die FAZ (€) greifen den "Medieninsider"-Artikel auf.
+++ Was für Allianzen! Der Blog "Nachdenkseiten", "der nicht nur Pandemieleugnern eine Plattform gibt, sondern auch im Sinne des Kreml trommelt (und) zuletzt sogar Propaganda für die AfD und andere Rechtsradikale machte", wie der "Volksverpetzer" schreibt, wurde kürzlich von der sehr lange sehr wichtigen linken Zeitschrift "konkret" wohlwollend zitiert - und wird nun verteidigt von Frank Lübberding, einem früheren Autor dieser Kolumne, der die Früchte seines Universalgelehrtentums mittlerweile unter anderem in der "Welt“ präsentiert. Der zitierte "Volksverpetzer"-Beitrag ist eine Reaktion auf einen Artikel in besagter Springer-Zeitung, in dem Lübberding in, sagen wir mal: gewohnt subtil-besonnener Manier den "Volksverpetzer"-Autor Matthias Meisner in die Nähe des Maoismus rückt. Meisner ist der Autor der Gegenartikels, und er hat auch den verlinkten "konkret"-kritischen Text geschrieben. Der "Volksverpetzer" trötet in eigener Sache, es sei "extrem witzig, wie die rechtskonservative, kapitalistische, proamerikanische und Anti-Putin-WELT plötzlich u.a. den linksverschwörungsesoterischen, anti-westlichen, Kreml-nahen Nachdenkseiten zur Seite springt", weil beide im "Volksverpetzer" einen "gemeinsamen Feind" gefunden hätten.
+++ Steffen Grimberg beschäftigt sich in seiner taz-Kolumne mit dem Ende der "Tagesspiegel"-Medienseite (siehe auch Altpapier). "Wenn die verlässliche Abwurfstelle für Medienthemen wegfällt, haben die es weitaus schwerer, ins Blatt zu kommen. Keine Ahnung, ob es darüber wissenschaftliche Untersuchungen gibt. Aber nach dem Bauchgefühl verschwinden dann drei Viertel der Themen, vor allem die kleinen", schreibt er. Und: "Mit der Auflösung eines Fachressorts fehlt irgendwann auch die Expertise. Dann ist keineR mehr Expert*in und ständig am Ball."
Neues Altpapier gibt es wieder am Montag. Wir wünschen ein schönes Wochenende!
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