Das Altpapier am 24. November 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Ralf Heimann
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Das Altpapier am 24. November 2022 Ganz unten

25. November 2022, 07:58 Uhr

Weil sich oben nichts ändert, sickert der Konflikt über die Fußball-WM nach unten durch. Dort geht es diesmal nicht nur darum, Fußballspiele zu gewinnen. Die Erzählung ist neu, die Dramaturgie nicht. Ein Altpapier von Ralf Heimann

Immer auf den kleinen Mann

Es gibt eine Parallele zwischen der Fußballweltmeisterschaft in Katar und der Klimakrise: Man könnte etwas ändern, aber das müssten Staaten oder im Falle des Fußballs Verbände beschließen. Sie müssten die Regeln ändern. Bleibt das aus, ändert sich relativ sicher nicht viel.

Der Konflikt sickert weiter nach unten, und dort finden dann Auseinandersetzungen darüber statt, ob man in den Urlaub fliegen, mit dem Auto durch die Städte fahren oder mit gutem Gewissen WM-Spiele schauen darf. Im Falle des Fußballs bedeutet unten auch: auf dem Fußballplatz. Wenn die Verbände sich nicht zu einer Entscheidung durchringen können, müssen die Spieler eben was machen. Das ist die Überzeugung, die hinter der Debatte über Manuel Neuers Armbinde steht.

Interessant dabei ist, dass der erste Teil schnell in Vergessenheit gerät: Die eigentliche Verantwortung tragen die Verbände. Die Wut richtet sich trotzdem gegen die Spieler. Auf einzelne Menschen kann man nämlich viel besser wütend sein als auf Organisationen. Die "Bild"-Zeitung hat diese Wut in einem Satz zusammengefasst: "Wir schämen uns für euch."

Fritz Lüders und Alexanders Kobs haben sich in einem Beitrag für das NDR-Medienmagazin "Zapp" mit der Frage beschäftigt, warum der Protest auf dieser Ebene nicht funktioniert, also warum die Spieler ihn nicht tragen. Der frühere Bundesligaspieler Martin Harnik stellt die zentrale Frage:

"Warum soll ein Spieler so ein Karrierehighlight boykottieren, wenn es der Verband nicht boykottiert?"

Das zentrale Wort in dieser Aussage ist: Karrierehighlight. Ein Verband könnte eine Weltmeisterschaft ausfallen lassen. Beim nächsten Mal wäre er eben wieder dabei. Beispiele für so etwas gibt es. Im Jahr 1980 haben die USA die Olympischen Spiele boykottiert, im Jahr 1984 der Ostblock. Beides geschah gegen den Willen vieler Sportlerinnen und Sportler, denn für sie sieht die Situation anders aus. Fritz Lüders sagt in dem "Zapp"-Beitrag:

"Das sind halt teilweise Spieler, die sind gerade erwachsen geworden. (…) als die WM vergeben wurde, da waren die im Grundschulalter. Also die trifft da keinerlei Schuld, dass diese WM in Katar stattfindet. Und jetzt diese einfache Lösung zu fordern, dass die sich hinstellen, dass sie dafür den Kopf hinhalten, dass die sich äußern oder im besten Fall sogar boykottieren – wenn das gleichzeitig auch der wichtigste Punkt in einer Karriere sein kann, dann ist das vielleicht auch ein bisschen viel verlangt."

Es ist für die Spieler eine Abwägung. Auf der einen Seite steht der Nutzen, auf der anderen die Kosten, und die sind für den einzelnen Spieler sehr hoch. Die mediale Aufmerksamkeit sorgt erst einmal überhaupt dafür, dass Spielern durch die Teilnahme an dem Turnier Kosten entstehen. Die kritische Berichterstattung über die Vergabe der Weltmeisterschaft über die Toten beim Bau der Stadien haben die Teilnahme überhaupt erst zu einer moralischen Entscheidung gemacht, auch für die Menschen vor den Fernsehern. Aber da schauen unter Umständen Freunde oder Arbeitskollegen kritisch. Das kann man vielleicht noch ertragen. Die Spieler stehen unter der Beobachtung der gesamten Medienöffentlichkeit. Und das steht in einem größeren Zusammenhang.

Tore, diesmal nur Nebensache

Es ist eine Inszenierung mit einer ganz klassischen Dramaturgie – nur dass diese von Medien geschaffene Dramaturgie in diesem Jahr nicht so aussieht wie in der Vergangenheit. Im Jahr 2006 bei der Weltmeisterschaft in Deutschland erzählten Medien eine andere Geschichte. Auch da ging es nicht nur um Sport. Klar, im besten Fall hätte man das Turnier auch noch gewonnen. Aber so ergab sich im Grunde eine viel bessere Dramaturgie, denn im Rückblick zeigt Sönke Wortmanns Film "Deutschland, ein Sommermärchen", wie Deutschland im Halbfinale an der äußeren Herausforderung scheitert, das Turnier zu gewinnen, aber ein viel größeres Ziel erreicht – nämlich das Bild von Deutschland und seinem rumpeligen Fußball zu ändern. Es ging auch um eine innere Wandlung.

In den Jahren darauf blieb das sportliche Ziel, Weltmeister zu werden, was 2010 wieder nicht gelang. Aber auch das war im Rückblick nur eine dramaturgische Station in der Folgeinszenierung. 2014 richten sich Aufmerksamkeit und Erwartung auf das sportliche Ziel, Weltmeister zu werden.

In diesem Jahr ist der Sport in der medialen Erzählung eher eine Nebensache. Es könnte für Deutschland sogar zu einem Problem werden, dieses Turnier zu gewinnen, denn die eigentliche Aufgabe scheint zu sein, eine moralische Weltmeisterschaft so gut es geht zu bewältigen. Und wie soll das gelingen, wenn man sich den unmoralischen Regeln hier einfach so unterwirft und am Ende maximal von ihnen profitiert? Im Grunde geht es wieder um eine innere Wandlung.

Der erste Gruppengegner war in dieser Erzählung nicht Japan, sondern es ging gegen die Fifa, wie auch in allen weiteren Begegnungen. Anfangs sah es so aus, als könnte Deutschland mit einer Kompromiss-Armbinde wenigstens einen Punkt holen, dann zeichnete sich eine hohe Niederlage ab. In der Berichterstattung sah es so aus, als wäre schon alles verloren. Aber man erinnere sich: Das erste Spiel gegen Ungarn bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 verlor Deutschland mit 3:8.

Der Magazin-Macher Oliver Wurm schrieb vor zwei Tagen bei Facebook:

"An der sehr scharfen Wortwahl der DFB-Verantwortlichen kann man nichts kritisieren, das darf man in der nun sehr emotional geführten Diskussion durchaus einräumen. Oliver Bierhoff spricht von "Zensur" seitens der FIFA, Präsident Neuendorf sagt, es sei "frustrierend und ein beispielloser Vorgang in der WM-Geschichte". Das ist nicht NICHTS. Aber es gilt jetzt Kurs zu halten."

Anders gesagt: Abgerechnet wird später. Dass die mediale Erzählung durchaus auch eine andere hätte sein können, zeigt übrigens ein Blick in eine anderen Sportart. Vor acht Jahren fand in Katar die Handball-Weltmeisterschaft statt. Man kann davon ausgehen, dass es um die Menschenrechte und die Situation homosexueller Menschen damals in Katar nicht sehr viel besser bestellt war. Aber wenn man sich die Spiele noch mal ansieht, sieht man weder ein Zeichen noch regenbogenfarbene Armbinden.

Der Herdentrieb des Hyperventilierens

In diesem Zusammenhang interessant ist auch die Rolle der Journalistinnen und Journalisten. Sie ist durchaus vergleichbar mit der der Spieler. Die eigentliche Aufgabe der Spieler ist die, Tore zu schießen und zu verhindern – die der Medienleute ist es, zu berichten. Kann man auch von ihnen ein Zeichen verlangen? Kann man von ihnen verlangen, dieses Turnier zu boykottieren?

Der Investigativ-Journalist Jens Weinreich hat sich in Katar nicht akkreditieren lassen. Im Interview mit "rbbKultur" sagt er, wenn man das macht, dann begebe man

"sich da in eine Blase und, ob man es will oder nicht, ob man einen ganz anderen journalistischen Ansatz hat, man ist letztlich Teil dieser Vermarktungsmaschinerie".

Anders gesagt: Es gibt kein richtiges Berichten im Falschen. Für Weinreich ist das nicht ganz so schwer wie für andere, auf die Akkreditierung zu verzichten. In dem Interview sagt er selbst: "Für meine Recherchen ist es auch relativ unerheblich." Wer die Aufgabe hat, über die Spiele selbst zu berichten, riskiert unter Umständen eine Kündigung, wenn er oder sie sagt: Ich mache das nicht. Hier ist es wieder wie mit den Spielern. Eigentlich müssten Medienunternehmen sagen: Wir berichten nicht über Katar.

Aber das passiert nicht. Warum? Weil jedes einzelne Medienunternehmen allein einen wirtschaftlichen Schaden in Kauf nehmen würde, der so groß wäre, dass er den Nutzen bei Weitem überwiegt. Und das wiederum liegt auch daran, dass jeder einzelne Mensch in der Masse sich in einer ähnlichen Entscheidungssituation befindet und die Mehrheit eben am Ende doch denkt: Bringt jetzt auch niemandem was, wenn ich mir die Deutschlandspiele nicht anschaue. Wenn niemand einschalten würde, könnte es schon etwas bringen, denn für die Werbepartner sind Zuschauende wichtig. Von ihnen kommt das Geld. Und auch sie sind Akteure in diesem Spiel.

Es sind die klassischen pathologischen Aufmerksamkeitsmechanismen, die hier wirken. Ein tatsächliches und dauerhaftes Interesse an den Zu- und Umständen in Katar kann Weinreich bei den Medien jedenfalls nicht erkennen. Er sagt:

"Die Masse der Journalisten und Medien hat sich halt nie wirklich interessiert, nie Recherche gemacht."

Stattdessen beobachtet Weinreich einen "Herdentrieb des Hyperventilierens und völligen Übertreibens, meistens bar jeder Kenntnis". Und nach dieser ersten Phase kommt dann seiner Beobachtung nach einen zweite, die er eine "absurde Reaktion" nennt. Als Beispiel nennt er die Reaktionen nach dem Spiel Argentinien gegen Saudi-Arabien. Weinreich:

"Da schreien dann Reporter: Das ist Fußball, wie wir ihn lieben, das sind Emotionen. Und da muss ich mal sagen: Das ist ein Team von Saudi-Arabien, der nächste Sport-Schurkenstaat, geführt von Mohammed bin Salman, der Khashoggi mit einer Kettensäge hat ermorden lassen – der die WM 2030 will. Also genau dasselbe quasi. Und dieses Team wird jetzt gefeiert."

Ist also am Ende doch alles hoffnungslos? Nein, sagt Weinreich. Hoffnung auf eine große Lösung, also darauf, dass sich bei den Verbänden oder in den Medienmechanismen etwas verändert, hat er zwar nicht. Aber er sieht doch hoffnungsvolle Zeichen, dass sich langsam etwas verschieben könnte, von unten. Weinreich:

"Es gibt (…) einen Aspekt, den ich beim Beispiel Katar und Fußball-WM absolut erwähnenswert finde, und ich glaube, das ist auch ein neues Niveau, und das hat mich selbst auch sehr beeindruckt. (…) Das ist der Widerstand der Leute in den Stadien, der Fans in den Stadien – und hier noch mal ganz besonders der Widerstand (…) von einigen wenigen Fans des FC Bayern (…). Wer da mal in Mediatheken geht (…) und sich anschaut, wie diese Leute auf (…) der Jahreshauptversammlung des FC Bayern gekämpft haben und gefightet haben und protestiert haben, das hat für mich eine neue Qualität. Das ist die Basis, und finde ich klasse."

Altpapierkorb (Twitter, Döpfner, AP entlässt Journalisten, Mediennutzung bei jungen Menschen, Holger Friedrich, Tagesschau-Kommentar)

+++ Michael Blume, Antisemitismus-Beauftragter des Landes Baden-Württemberg, hat Twitter verklagt, weil ein Journalist aus Israel ihn dort diffamiert hat, aber das Netzwerk nichts unternimmt, berichtet Christian Rath für die taz. Eine Vermutung ist: Vielleicht ist es dazu gar nicht mehr in der Lage.

+++ Mathias Döpfner ist als Zeitungsverlegerpräsident zurückgetreten, hier nachzulesen bei der FAZ.

+++ Die Nachrichtenagentur AP hat einen Reporter entlassen, weil der gemeldet hatte, Russland habe die Rakete abgeschossen, die in der vergangenen Woche in Polen explodiert ist (Altpapier), berichtet Michael Hanfeld für die FAZ.

+++ Junge Männer verbringen mit ihren Smartphones mehr Zeit mit journalistischen Inhalten als junge Frauen – nämlich im Schnitt zehn Minuten, während es bei Frauen nur fünf sind. Das ist das Ergebnis einer nicht-repräsentativen Umfrage unter etwa 300 jungen Menschen. Darüber hat Bettina Köster für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" mit der Medienprofessorin Marlies Prinzing gesprochen, die ein "Alarmzeichen" sieht. Eine schlüssige Erklärung für diese Lücke findet sich nicht.

+++ Auf der SZ-Medienseite schreibt Carlotta Wald (€) über die Social-Media-App Slay, die Jugendlichen gute Gefühle bereiten möchte, was den übrigen Social-Media-Apps ja bekanntlich nicht ganz so gut gelingt.

+++ Sebastian Engelbrecht hat für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" mit Holger Friedrich gesprochen, dem Verleger der Berliner Zeitung. Friedrich erklärt, was er gemacht hat, um den Verlag in die schwarzen Zahlen zu bekommen. Und er erklärt, warum er es sich herausnimmt, sich in die Arbeit der Redaktion einzumischen. Spoiler: weil er manchmal selbst an Entscheidungen beteiligt sei und Wissen aus erster Hand habe. Darin kann man allerdings auch ein Argument erkennen, sich als Verleger gerade nicht in das Geschäft der Redaktion einzumischen, denn oft gibt es eben unterschiedliche Perspektiven, wenn Entscheidungen getroffen werden. Wenn der Verleger seine eigene ganz prominent platzieren kann, dann erfährt das Publikum zwar mehr über die Innensicht. Aber unabhängig ist das dann nicht mehr.

+++ Die Tagesschau hat einen Kommentar gesendet, in dem der Kommentator Achim Wendler etwas behauptet, das so nicht stimmt. Frederik von Castell zeichnet für Übermedien nach, wie das passiert, obwohl der Kommentator das vorher wusste – und wie es der Tagesschau danach nicht gelang, diesen Fehler angemessen zu korrigieren.

Neues Altpapier gibt es am Freitag.

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