Das Altpapier am 27. Oktober 2022 "Wie im Actionfilm, ey"
Hauptinhalt
27. Oktober 2022, 11:49 Uhr
Tragen "Stern"-Recherchen dazu bei, dass Attila Hildmann nach Deutschland ausgeliefert wird? Warum vermeiden so viele Medien den Begriff "Faschismus"? Verschärft "Selfie-Journalismus" das Diversitäts-Problem, das die Redaktionen ohnehin haben? Ein Altpapier von René Martens.
Inhalt des Artikels:
- Teil einer internationalen Druckkulisse werden
- Die Gefälligkeiten der F-Wort-Vermeider
- Die Endlosschleifen in der Selbstbespiegelung von Großstadt-Journalisten
- Kleine Taschenlampe brenn'
- Altpapierkorb (Ruhegelder im Jenseits, ein Ex-Ministerpräsident als Informationsverweigerer, Täterfixierung im "Tatort")
Teil einer internationalen Druckkulisse werden
Nachdem wir am Montag hier herausgestellt haben, dass die öffentlich-rechtlichen Hauptprogramme zumindest an jenem Tag zur besten Sendezeit gesellschaftspolitisch Relevantes geboten haben, sei heute unter diesem Aspekt mal das Privatfernsehen hervorgehoben.
Da ist zunächst mal wieder "Joko & Klaas 15 Minuten Live" zu nennen, dieses Mal dem Aufstand der iranischen Frauen gegen die Barbarei in ihrem Land gewidmet. Das Besondere ist in diesem Fall (und anders als sonst) gar nicht mal die Sendung an sich, es sind die Perspektiven, die sie eröffnet. Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf gaben in der Sendung nämlich bekannt, dass sie "für immer" ihre Instagram-Accounts (und ihre im Laufe der Nutzung aufgebaute Promi-Reichweite) den iranischen Aktivistinnen Asam Jangravi und Sarah Ramani überlassen (die während der Sendung in Interviews zu Wort kommen). Unter anderem der "Spiegel" und zdf.de berichten nachrichtlich.
"Wenn unsere Aufmerksamkeit effektiv sein soll, muss sie nachhaltig und verlässlich sein. Wir möchten, dass die Proteste in unserer Welt wahrnehmbar bleiben und unser gemeinsames Hinschauen Teil der internationalen Druckkulisse wird, die sich gerade im Netz formiert",
sagt Joko Winterscheidt in der Sendung. Wohlgemerkt: im Netz, anderswo ja eher nicht. Sein letzter Satz in der Sendung lautet:
"Lasst uns gemeinsam die iranische Protestbewegung so zumindest ein wenig unterstützen."
So etwas sagen Fernsehmacherinnen und -macher im Angesicht politischer Krisensituationen normalerweise ja nicht, und für den nicht unwahrscheinlichen Fall, dass sich bald ein möglicherweise Hajo Friedrichs zitierendes Würstchen mit dem Einwand, das sei ja Aktivismus, zu Wort meldet, sei kurz betont: Winterscheidt und Heufer-Umlauf sind keine Journalisten. Sie sind Entertainer (mit immer mal wieder journalistischen Herangehensweisen).
Aus anderen Gründen sehenswert im gestrigen Privatfernsehen: ein "Stern TV"-Beitrag, der rekapitulierte, wie zwei Reporterinnen aus dem RTL-Universum und der "Hildbuster" Alexander Brehm in der Türkei den per Haftbefehl gesuchten Attila Hildmann aufspürten. Es ist eines von vielen Produkten und Nebenprodukten zum Thema: Neben dem Film und einer "Stern"-Titelstory gibt es zum Beispiel noch "Making ofs" im "Stern"-Podcast und in einem "Stern"-Video.
Reporterin Tina Kaiser erzählt, wie sie undercover Zugang zu einer Telegram-Gruppe namens "Wolfsschanze" bekam:
"Wie der Name klingt, so ging's da eben auch zu, es ist eine Ansammlung von richtig strammen Nazis und Antisemiten, die Hitler verehren und sich auf irgendeine Art von Kampf vorbereiten und Attila Hildmann als eine Art Nachfolger von Adolf Hitler sehen."
Beziehungsweise:
"Da dürfen nur stramme Nazis eigentlich rein, er hat mir abgenommen, dass ich einer bin."
Im TV-Beitrag hört man Kaiser, nachdem die Aktion kurzzeitig zu scheitern drohte, auf der Rückbank eines Autos sagen: "Wie im Actionfilm, ey". Der nächste Satz kommt dann aus dem Off.
"Und tatsächlich, das Team entdeckt Atilla Hildmann mit seinem Hund auf der Straße."
In einem "Stern"-Nachdreher schreiben Kaiser und Daniel Wüstenberg, mit dem Auffinden Hildmanns
"wäre der Weg für eine Festnahme des 41-Jährigen und dessen anschließende Auslieferung nach Deutschland geebnet – zumindest theoretisch. Denn die Türkei hat das Europäische Auslieferungsübereinkommen unterzeichnet. Da ein internationaler Haftbefehl gegen Hildmann den türkischen Behörden vorliegt, müssten sie zunächst tätig werden und den Gesuchten festnehmen, ehe in Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden die Auslieferung durchgeführt würde."
Vergangene Woche hatte die "Süddeutsche Zeitung" geschrieben:
"Ein Auslieferungsantrag an Ankara (hat) (…) nicht unbedingt gute Chancen. Niemand kann die türkische Polizei zwingen, ihn (…) festzusetzen. Die Delikte, die ihm in Deutschland vorgeworfen werden, wie Volksverhetzung, haben teils keine Entsprechung im türkischen Strafrecht."
Der Grünen-Politiker Volker Beck hingegen sagt jetzt gegenüber dem "Stern":
"Erdoğan hat kein spezifisches Interesse an Hildmann. Hildmann ist kein Sympathieträger Er ist auch für die nationalistische, türkische Community nicht anschlussfähig, dafür ist er zu cringe. Er müsste billig zu haben sein."
Die Gefälligkeiten der F-Wort-Vermeider
Während nun zumindest eine "Stern"-Reporterin klar sagt, was die Gefolgsleute Attila Hildmanns sind, nämlich "stramme Nazis", fehlt es im Journalismus bei anderen Themen aus der braunen Welt an solcher Deutlichkeit. In der taz schreibt Georg Diez über die "Scheu" vor dem Begriff "Faschismus"
"Lange gab es eine Scheu, das F-Wort zu verwenden. Es war eine Art von Aberglauben dabei: Wenn man das Wort sagte, würde es real werden; besser also, so ging das magische Denken, wenn man nichts sagte, dann konnte auch nicht passieren. Die Scheu gibt es immer noch, in den Medien, in der Politik, in privaten Konversationen. Und die Frage ist, wen man eigentlich schützen will, wenn man es vermeidet, Faschisten Faschisten zu nennen. Anders gesagt: Was ist der Schaden, publizistisch oder politisch, sehr viel genauer und klarer zu sein in der Analyse dessen, was gerade an Faschismus in Europa passiert, von Schweden bis Italien, Polen, Ungarn, Frankreich und andernorts?"
Ein Erklärungsansatz: Journalisten "schützen" sich in gewisser Hinsicht selbst. In der Mehrheit sind sie ja Opportunisten, und sie wollen mit der F-Wort-Vermeidung dazu beitragen, dass sie auch dann noch den Arsch an die Heizung kriegen, wenn Faschisten noch mehr zu melden haben als jetzt.
Die Endlosschleifen in der Selbstbespiegelung von Großstadt-Journalisten
Beim SZ-Magazin haben sie ein Faible für im Plauderton bzw. in einer Art "Stream of unconsciousness"-Stil gehaltene Texte über relative Nichtigkeiten aus dem eigenen Alltag. Das klingt dann so:
"Es gibt Wörter, die ich mag, zum Beispiel 'Unrat', 'Lichtung"' oder 'Salamander'. Sie rühren mich an, lösen etwas in mir aus, eine Ahnung, eine Erinnerung oder einen Trost. Ich finde sie hübsch und poetisch, als trügen sie eine Seele in sich, manche klingen auch einfach nur schön. Es gibt auch Wörter, die ich nicht mag, zum Beispiel 'zeitnah', 'proaktiv' oder 'Transporthilfe'. Auf Letzteres stieß ich in einem Baumarkt. Es stand auf einem Schild im Kassenbereich, und es dauerte eine Weile, aber irgendwann kapierte ich, dass die Pappschachteln gemeint waren, die jemand unter dem Schild aufeinandergestapelt hatte. 'Schachtel' – schon wieder ein schönes Wort. Oder von mir aus 'Karton'. Aber 'Transporthilfe'? Wer kommt auf so was?"
Dieses Zitat stammt aus einem der SZ-Magazin-Artikel, die Altpapier-Autorin Annika Schneider zu einem bei "Übermedien" unter der Überschrift "Recherchen aus dem Leben, vorzugsweise dem eigenen" erschienenen Beitrag inspiriert haben (sie zitiert allerdings eine andere Passage).
Ihr Thema ist der nicht nur beim SZ-Magazin auffindbare "Selfie-Journalismus", der ohne "aufwendige Protagonistensuche" auskommt und keine "dazugehörigen Reisekosten" mit sich bringt. Der zitierte Text stammt im Übrigen von Tobias "Der gekränkte Mann" Haberl, der bei "Übermedien" aus guten Gründen bereits im Frühjahr verarztet wurde.
Annikas These lautet:
"(Der Selfie-Journalismus) verschärft ein Problem, das die Redaktionen ohnehin schon haben: die mangelnde Diversität. Statt den Lesenden neue Perspektiven zu erschließen, beleuchten viele 'Ich'-Texte in Endlosschleife das Großstadtleben in akademischen Kreisen, von Menschen, die gerne Designer-Mode und großformatige Fotobände kaufen und sich Boutique-Hotels leisten können."
Kleine Taschenlampe brenn'
Das unter Federführung unseres MDR stehende Portal ard-kultur.de (Altpapier von Montag, Dienstag, Mittwoch) bleibt ein Thema. Senta Krasser hat für den "Tagesspiegel" die Programmgeschäftsführerin Bettina Kasten und ihren Co-Geschäftsführer Kristian Costa-Zahn interviewt.
Eine Erkenntnis des Gesprächs: Nach "Schaufenster" (siehe ein am Montag hier verlinktes epd-medien-Interview) kommen von den Seiten der Macher nun weitere Metaphern für das neue Angebot ins Spiel, nämlich "Wir sind kein neu geschaffener Satellit, der um die neun ARD-Anstalten kreist, sondern Anspielpartner in der Mitte" (Costa-Zahn) und "Wir (…) geben (…) jedem eine Taschenlampe in die Hand, um sich besser zurechtzufinden" (Kasten).
Metaphern dienen ja im Idealfall der Verdeutlichung, hier wirken sie aber eher wie der Versuch der Macher, zu verschleiern, dass nicht einmal ihnen klar ist, wozu gut ist, was sie da tun. Wie im Altpapier vom Montag geht es auch in diesem Interview um die Zahl der geplanten Eigeninhalte ("Mit 25 neuen Projekten legen Sie los. Geht das 2023 in dieser Quantität weiter?" - "Das streben wir an, ja"), und daran würde ich noch die Spekulation anschließen, dass es eine Herausforderung ist, auf eine neue Plattform aufmerksam zu machen, wenn man nur zirka alle 14 Tage was Neues auf der Pfanne hat.
Stefan Fischer meint in der SZ:
"Die Schwierigkeit, vor der die ARD steht, all das, was die einzelnen Landesrundfunkanstalten produzieren, in ein sinnfälliges Ganzes zu überführen (…) ARD Kultur ist bislang vor allem ein großes Archiv, das noch unzureichend kuratiert und katalogisiert ist."
Sein Fazit fällt dann aber salomonisch aus:
"Auf der anderen Seite, und das darf man weder verhehlen noch geringschätzen, versammelt sich dort ein unglaublicher Reichtum an klugen, erhellenden, unterhaltsamen Beiträgen. Und - auch das eine Qualität - man findet beim Stöbern, was man gar nicht gesucht hat."
Altpapierkorb (Ruhegelder im Jenseits, ein Ex-Ministerpräsident als Informationsverweigerer, Täterfixierung im "Tatort")
+++ "Wer weiß, was da noch alles herauskommt (…) Vielleicht ein Ruhegeld auch noch im Jenseits, fürs öffentlich-rechtliche Ruhen in Frieden auf Wolke 7? Wir schließen da mal lieber nichts aus" - Michael Hanfeld (FAZ) versucht's beim Thema Ruhegelder für hohe ARD-Tiere (Altpapier von Mittwoch) mit Sarkasmus.
+++ "Erwin Sellering, der Vorstandschef der Klima- und Umweltstiftung Mecklenburg-Vorpommern, legt Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein", berichtet zum Beispiel NDR 1 Radio MV. Inwiefern ist das ein Medienkolumnenthema? "Die Stiftung hatte in einem gesonderten 'Geschäftsbetrieb' den Bau der russischen Nord-Stream-2-Pipeline vollendet und dafür etliche Firmen eingespannt. Sellering will verhindern, dass Geschäftspartner des Russland-Deals genannt werden müssen." Weil ein "Welt"-Journalist, der auf die Herausgabe der Informationen geklagt hatte, in zwei Instanzen erfolgreich war, setzt der Ex-Ministerpräsident nun auf die Karte Karlsruhe.
+++ Über die gestern hier erwähnte Veranstaltung des Grimme-Instituts zu Gewaltdarstellungen im fiktionalen Fernsehen berichtet die taz. Die Podiumsdiskutantin und Ex-Altpapier-Autorin Kathrin Hollmer zitiert sie folgendermaßen: "Hollmer findet, problematisch sei zum Beispiel noch immer die Erzählperspektive vieler 'Tatorte'. Die sei zu stark auf den Täter fixiert. 'Es wird lang und breit erzählt, warum die Tat begangen wurde. Dabei wäre es wichtiger, die Aufmerksamkeit auf die Betroffenenperspektive und die Auswirkungen einer Gewalttat zu lenken.'"
Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.
Not Found
The requested URL /api/v1/talk/includes/html/5cba1a04-ab61-473f-b5dc-507726cd7d08 was not found on this server.