Das Altpapier am 21. Oktober 2022 Mehr als 1000 Worte
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21. Oktober 2022, 09:38 Uhr
Liz Truss tritt zurück und guckt beschämt, Patricia Schlesinger ist unlauter und guckt stolz, und diverse Menschen produzieren Songzeilen am laufenden Band. Ein Altpapier von Jenni Zylka.
Inhalt des Artikels:
Ein Intendantinnenauge zudrücken
Neulich hatte ich die lustige Idee, auf meinen Bewirtungsbelegen in der Zeile "Bewirtete Personen:" konsequent einfach immer "P. Schlesinger, J. Zylka" einzutragen. Um herauszufinden, wie humorvoll das Finanzamt ist. Bei genauer Betrachtung wollte ich das dann aber doch nicht mehr wissen. Ich weiß, ich weiß, vielleicht ist gerade nicht die richtige Zeit für Albernheiten. Und es gibt eh Neues, Ernstes in Sachen P. Schlesinger und ihre Bewirtungsbelege: Diese rbb-Pressemitteilung berichtet vom ersten Zwischenbericht der Anwaltskanzlei Lutz/Abel, die in der Sache ermittelt hat. Diese Ergebnisse sind zwar nicht überraschend – alles ist genauso unlauter gelaufen wie geahnt - aber jetzt eben juristisch wasserfest.
Der Tagesspiegel prägt dazu hier das schöne Wort des "Intendantinnenauges":
"Schon vor dem Zwischenbericht war klar, dass Schlesinger nur deswegen in der inkriminierten Weise handeln konnte, weil Rundfunkrat und Verwaltungsrat auf dem 'Intendantinnenauge' blind waren."
Das ist zwar ein etwas sperriger Begriff, der höchstens in einem Die Sterne-Text groovy klingen könnte. Aber es passt natürlich wie die Faust aufs, na Sie wissen schon. Auch der rbb-Personalrat wird mit einem interessanten Sprachbild zitiert:
"Für Personalrat Lutz Oehmichen 'hat sich die schlimme Erkenntnis bestätigt, dass die Intendantinnenverfassung Patricia Schlesinger so viele Freiräume ließ, dass sie eher an eine konstitutionelle Monarchie erinnerte als an eine Ordnungsregel im öffentlich-rechtlichen Rundfunk'."
Eine konstitutionelle Monarchie mit Königin Patricia I. sozusagen. Und was würde das aus dem Digitalen Medienhaus machen, bei dessen stolzer erster Vorstellung und Presseführung Wochen vor dem Skandal ich damals zugegen war, und darüber eigentlich hätte schreiben wollen – wenn nicht das passiert wäre, was passiert ist? Richtig, ein Dornröschenschloss - im Schlaf.
Nochmal einen wichtigen Punk nennt Christoph Hölscher von der rbb-Freienvertretung im Tagesspiegel-Text:
"Hierarchien und Privilegien müssen abgebaut, Beteiligungsrechte der Belegschaft gestärkt, die unsägliche Zwei-Klassen-Gesellschaft von festen und freien Mitarbeitenden überwunden werden, damit der rbb seine eigentliche Aufgabe optimal erfüllen kann: Gutes Programm für die Beitragszahler in Berlin und Brandenburg zu machen."
Purzelnde Frauen
Das sind doch gute und hehre Pläne – allerdings bin ich als freie Mitarbeitende sehr gespannt, wie viel davon in, sagen wir mal, einem Jahr verwirklicht sind. Mächtige Frauen purzeln jedenfalls bekanntlich gerade wie die Kegel - was im Umkehrschluss einfach nur bedeutet, dass es inzwischen ein paar mehr, wenn auch immer noch viel, viel zu wenig Frauen in Führungspositionen sowohl in der Publizistik, hier eine diesbezügliche Studie von 2021, als auch in der Politik, hier ein paar Zahlen aus Großbritannien dazu, und hier vom ifo Institut, gibt.
Nach nur sechs Wochen ist nämlich gestern auch Liz Truss zurückgetreten, und zwar kurz nachdem sie im House of Commons noch laut und selbstbewusst "I’m a fighter, not a quitter" trompetete – tja, das stimmt dann wohl nicht. Dabei ist das schon wieder eine schöne Songzeile – doch leider stammt sie nicht mal originär von Liz Truss, sondern von einem Labour Politiker. Der Guardian recherchierte die Historie des Ausspruchs in diesem Artikel, und stellte fest:
"Variations of the phrase have littered political obituaries in the past, not least those of Richard Nixon and Iain Duncan Smith, who insisted at different times that they were not quitters. Theresa May and David Cameron also attempted to underline their fighting credentials as they reached the end of the line. But Truss’s version appears to most closely resemble the emotionally charged performance given by Mandelson after he had faced a challenge to his seat from Arthur Scargill’s Socialist Labour party. In his victory speech, he said: "It was said that I was facing political oblivion, my career in tatters, apparently never to be part of the political living again. Well, they underestimated Hartlepool and they underestimated me because I am a fighter and not a quitter.””
Mit anderen Worten: Falls Alanis Morissette schon ihre nachhaltigen Bleistifte spitzt, um aus der Zeile einen weiteren selbstermächtigenden Song zu schreiben, dann soll sie bloß zusehen, dass sie all ihre Quellen nennt. Urheberrechtsstreits sind heutzutage kein Zuckerschlecken.
Das Foto, mit dem die ARD gestern den Rücktritt der Premierministerin illustrierte, ist übrigens dennoch ein echtes Quitter-Foto – darauf schaut Truss beschämt auf den Boden, sie wirkt still und geschlagen. Auch der Spiegel hat sich für das gleiche Motiv entschieden, die Süddeutsche dagegen zeigt das ganze Bild: Madame Truss guckt nämlich, das sieht man u.a. in diesem ZDF-Beitrag, in der Situation tatsächlich auf ihre Notizen in einer todschicken Umlaufmappe – die Szene stammt aus ihrer offiziellen Rücktrittsrede vor dem Eingang von Nummer 10 Downing Street. Aber Scham ist ganz bestimmt dabei.
Die Patin
Und wo wir schon mal bei Fotovergleichen sind, und ein Bild bekanntlich mehr als 1000 Worte sagt: P. Schlesinger wird, zumindest fotoredaktionell, dagegen bislang noch wenig Scham zugestanden. Auf dem illustrierenden Foto zum obig zitierten Tagesspiegel-Artikel sehen wir eine sinnierende, aber durchaus selbstbewusste Intendantin. Und absolut den Vogel abgeschossen hatte der die Kunst der Inszenierung bis aufs I-Tüpfelchen beherrschende Gene Clover mit seinem legendären Schlesinger-Cover der Zeit-Ausgabe vom 6.9. 2022: Im Business-Suit mit lockerer Bluse sitzt die Frau auf einem Ledersofa, die Beine sind leicht gekreuzt, auf der Rückenlehne ruht lässig ihr rechter Arm, Selbstsicherheit und Entspannung versinnbildlichend. Mit fest entschlossenem, wachem, ja auffallend unerschrockenem Gesicht scheint sie etwas in der Ferne, außerhalb des Fotorahmens fokussieren zu wollen – was hat sie dort entdeckt, die Fehler in ihrer Vergangenheit? Ihre ungewisse Zukunft? Einen Massagesitz? Eine Tüte Haribo?! (siehe AP von gestern.) Den linken Ellenbogen hat sie auf die Armlehne gestützt, die Hand ist leicht gekrümmt, fast wie zum Schnipsen – es ging, so wirkt es, schließlich auch bislang alles Eins-zwei-drei. Das Erstaunlichste, und da würde mich wirklich interessieren, wer in ihrem PR-Beratungsteam dieses Foto autorisiert hat und aus welchem Grund, ist jedoch die Beleuchtung: Eine Lichtquelle setzt nur einen hellen Akzent auf ihrem Gesicht, der Rest wirkt dunkel, geheimnisvoll – das Foto mag ja 370 Jahre nach "Der Mann mit dem Goldhelm" entstanden sein, aber schauen wir doch mal, was Wikipedia weiß:
"Anzumerken ist, dass für die Betrachter des späten 17. Jahrhunderts der Helm aus dem späten 16. Jahrhundert bereits als Antiquität galt. Dies legt den Schluss nahe, dass die porträtierte Person als Krieger der Vergangenheit gedacht war, dessen Prunkhelm ein Zeichen seines hohen Rangs war."
Kriegerin, hoher Rang, jaja. Den Sessel dagegen kennt man natürlich aus Francis Ford Coppolas "Der Pate": Wo sonst sollten Vito Corleone und sein Sohn Michael ihre mafiösen Hintern wohl am liebsten platzieren??!! You do the math.
Altpapierkorb
+++ Die taz analysiert den Schritt des Streamingdienst Netflix, ab November ein billiges Abo anzubieten, das von Werbung unterbrochen wird, und zudem mehr Wert darauf zu legen, dass ihre Abos nicht mehr wie Sauerbier auf vielen verschiedenen Geräten geteilt werden kann:
"Beides könnte den Charakter des Angebots verändern. Netflix als von Werbung ungestörtes Unterhaltungserlebnis wird verwässert. Teilbarkeit, also auch Austausch, wird erschwert. Nutzer*innen dürften diese Nachteile verzeihen, aber nur wenn die großen popkulturellen Momente weiterhin regelmäßig stattfinden. Der Rest des Angebots ist bekanntermaßen mittelmäßig bis Schrott. (…) Dass Netflix offenbar nur dann stabil ist, wenn es von sich reden macht, ist eine wirtschaftliche Schwäche. Zwei "Crowns" oder "Squid Games" im Jahr müssen schon kommen. Und das kostet Geld. Sollte Netflix mit Blick auf schwarze Zahlen irgendwann so weit haushalten müssen, dass große Würfe nicht mehr drin sind, dann könnte es rasch in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Untergangsszenario: Das Restprogramm als Ramschladen aufgekauft von einem der Großen."
+++ U.a. der Spiegel berichtet, dass der britische Channel 4-Moderator Krishnan Guru-Murthy nach einem Interview mit dem Staatsminister von Nordirland Steve Baker hörbar – jedenfalls für das Sendeteam, das auch prompt reagierte, sagte: "What a c…t". Der Journalist wurde für eine Woche vom Dienst suspendiert, und entschuldigte sich per Twitter bei dem Politiker. Und man fragt sich, warum es eigentlich noch kein Buch mit den Bemerkungen und herausgerutschen Sprüchen von Fernsehmenschen gibt, die denken, ihr Mikrophon sei schon aus.
+++ Und die Süddeutsche hat beobachtet, wie Sandra Maischberger am Mittwoch Abend versuchte, Christian Lindner ins Schlingern zu bringen. (€) Unter anderem warf sie ihm Trickserei vor, und er antwortete mit dem schönen Satz: "Ich weise zurück, dass ich trickse." - Ob er wohl weiß, welche Bedeutung der "Trickster" in der Drehbuchtheorie hat? "Hinter dem Trickster stehen die Energien des Unfugs und der Wunsch nach Veränderung. Er drückt sich in erster Linie durch die Rolle des komischen Begleiters aus. Seine Funktion ist, das übermäßige Ego des Helden auf ein normales Maß zu stutzen und ihn wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurückzubringen. Außerdem hilft er, Beschränktheiten zu erkennen und führt Tollheiten und Heucheleien vor Augen, indem er ein befreiendes und gesundes Gelächter provoziert." Na, wohl eher nicht.
Das nächste Altpapier erscheint am kommenden Montag.
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