Das Altpapier am 30. September 2022 Theologischer Beistand
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30. September 2022, 13:40 Uhr
Erst beauftragt der Landesrundfunkrat Schleswig-Holstein eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zur Krisenaufarbeitung beim NDR - und nun der Intendant einen Ex-Prälaten. Was die Frage aufwirft, ob es nicht adäquatere externe Fachleute gibt, die dem NDR helfen könnten. Ein Altpapier von René Martens.
Klimarettungsziele und andere NDR-Besonderheiten
Am Donnerstag war ich in Sachen NDR an dieser Stelle ja noch relativ locker drauf - und in der Lage, die unfreiwilligen humoristischen Qualitäten des Satzes "Der strukturelle und kulturelle Neuanfang im Landesfunkhaus Schleswig-Holstein beginnt unverzüglich" zu würdigen.
Als im späteren Verlauf des Tages der Sender dann eine Sendermitteilung unter der Überschrift "Kulturwandel im NDR: Intendant Joachim Knuth bringt Klimaanalyse auf den Weg" eintrudelte, verdunkelte sich mein sonniges Gemüt. Ich frage mich nämlich ganz ernsthaft, ob wolkige Begriffe wie "Klimaanalyse" oder "Kulturwandel" der Situation gerecht werden.
Als Analytiker engagiert hat der NDR Stephan Reimers, 78, einst Prälat der Evangelischen Kirche, der laut Sender "das Arbeitsklima in allen Bereichen untersuchen" soll. Der NDR sucht sich nun also theologischen Beistand für seine Probleme, die ich als freilich theologischer Komplett-Laie bisher nicht als theologisch klassifiziert habe. Man sollte Reimers aber vielleicht auch nicht auf sein kirchliches Wirken reduzieren. Er saß zum Beispiel zwischen 1970 und 1980 als Abgeordneter im Bundestag und in der Hamburger Bürgerschaft (für die CDU, aus der er aber 1993 austrat).
In gewisser Hinsicht macht Reimers den Wulf-Mathies - so könnte man es flapsig zusammenfassen, denn formal erinnert die Maßnahme des NDR an ein Vorgehen des WDR 2018. Der verpflichtete mit der damals 76 Jahren ähnlich lebenserfahrenen Ex-Gewerkschaftsfunktionärin Monika Wulf-Mathies, um eine aus teilweise anderen Gründen große Krise zu bewältigen, in der es aber auch, wie jetzt beim NDR, um "Machtmissbrauch und (…) eine generelle Unzufriedenheit mit dem Betriebsklima" ging (siehe den im September 2018 vorgelegten Prüfbericht).
Ein Pressegespräch zur Verpflichtung von Stephan Reimers gab es gestern auch, die "Süddeutsche", die FAZ und der "Tagesspiegel" berichten in ihren heutigen Ausgaben darüber.
Der "Tagesspiegel" zitiert den NDR-Intendanten Knuth zu Hamburg und Schleswig-Holstein unter anderem mit folgenden Worten:
"Wir haben in beiden Funkhäusern mit erheblichen atmosphärischen Problemen zu kämpfen."
Knuth spinnt damit das Narrativ fort, das "Spiegel", "Zeit" und der NDR mit seinem eigenen Prüfbericht für die Situation Schleswig-Holstein schon gesetzt hatten: Dass der Sender nämlich ein strukturelles und atmosphärisches Problem habe, aber kein inhaltlich-journalistisches.
Die SZ schreibt heute zur Einordnung der Lage:
"Im Landesfunkhaus Kiel steht der Vorwurf politischer Einflussnahme im Raum; eine von zwei NDR-Mitarbeitern in dieser Woche vorgelegte Untersuchung fand dafür keine Anhaltspunkte, schränkte aber ein, eine verlässliche Aussage dazu wegen der Kürze der Zeit nicht treffen zu können."
Das wiederum bezieht sich auf folgende, am Mittwoch hier schon zitierte Formulierung aus dem Prüfbericht der genannten Mitarbeiter:
"Belege für einen angeblichen 'politischen Filter' konnten wir nicht finden (…) Für einen solch massiven Vorwurf müsste die Berichterstattung des Landesfunkhauses über einen längeren Zeitraum systematisch ausgewertet werden."
Das ist gewiss nicht falsch. Aber vor allem müsste ja die Nicht-Berichterstattung ausgewertet werden - was wesentlich schwieriger ist. Über welche Themen wurde nur unzureichend berichtet? Welche Themen hat der NDR "weggedrückt", wie es ein Experte für schleswig-holsteinische Landespolitik formulierte, mit dem ich kürzlich für "Übermedien" gesprochen habe (siehe auch Altpapier)?
Wer kann so eine Auswertung leisten? Dass das im Rahmen der "noch ausstehenden externen Untersuchung (…) durch ein Prüf- und Beratungsunternehmen" geschieht, "das der NDR Landesrundfunkrat Schleswig-Holstein beauftragt hat" (Sendermitteilung von Mittwoch), ist unwahrscheinlich, denn die Kompetenzen der Firma Deloitte, die hier gemeint ist, liegen ja ganz woanders (siehe dazu kurz diesen Altpapierkorb aus der vergangenen Woche)
Und dass die überregionalen Medienhäuser, die die Manpower hätten (oder haben sollten), beim Thema NDR-Politikberichterstattung in Schleswig-Holstein in die Tiefe zu gehen, dies tun werden, ist bisher nicht absehbar. Die Berichterstattung im "Spiegel" und in der "Zeit" (hier von einem der direkt Betroffenen kritisiert) deutet jedenfalls nicht darauf hin.
Abgesehen davon, klassische Belege dafür, ob redaktionelle Entscheidungen über die Art und den Umfang von politischer Berichterstattung auf eine im weiteren Sinne private Nähe zu Politikern oder eine politische Haltung oder eine Mischung aus beidem zurückzuführen sind, lassen sich ohnehin nicht finden. Hier muss man sich auf die Eindrücke von Personen verlassen, die nahe dran sind.
Wenn also der "Spiegel" schreibt: "Politische Einflussnahme (…) lässt sich leicht behaupten, aber wohl niemals beweisen" - dann er hat er natürlich Recht. Das bedeutet aber, so verschwörungstheoretisch das auch klingen mag, natürlich nicht, dass es diese Einflussnahme nicht gegeben hat. Medien verweisen ja gern stolz darauf, dass ihnen bestimmte E-Mails oder andere Dokumente "vorliegen". Aber "das Entscheidende findet ja oft zwischen den Mails statt", wie es eine Person aus dem Landesfunkhaus Kiel formuliert.
Und wenn eine Kieler NDR-Redakteurin Daniel Günther (vermeintlich) lustige Handy-Fotos schickt, die eine Spekulation über eine persönliche Nähe zumindest zulassen, dann sind die vermutlich auch nicht Teil von Journalisten vorliegenden Unterlagen.
Michael Hanfeld nimmt für die FAZ (€) Die Vorstellung des Klimaanalysten Reimers zum Anlass, den "Vorwurf politischer Färbung ('Filter')" noch einmal stichelnd aufzugreifen:
"Dass der (…) inzwischen vom Tisch ist, mag einen freilich erstaunen. Denn gerade die fehlende Distanz zu Landesregierungen ist eine Spezialität des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, das schlägt sich bei der Besetzung von Posten nieder und im Programm."
Knackiger klingt im FAZ-Artikel allerdings noch die Bezugnahme auf eine Knuth-Äußerung:
"Der Intendant will, wie er sagt, nicht einmal ausschließen, dass im großen NDR, der für vier Bundesländer berichtet, noch weitere Fälle auftauchen, in denen etwas schiefgelaufen ist."
Ob Knuth damit jene Verdachtsfälle politischer Einflussnahme meint, die laut Kritik von Mitarbeitenden in Kiel im Prüfbericht gar nicht erwähnt sind? Andere Kritik von Mitarbeitenden am Prüfbericht gilt zum Beispiel der Bezeichnung eines Beitrags über Verschickungsheime, über dessen Nicht-Ausstrahlung viel geschrieben wurde (Altpapier, Altpapier), als "Vorschnitt". Das klingt nach einem provisorischen Zustand und folgt der Sprachregelung des NDR ("Der NDR widerspricht der Aussage, dass es einen fertigen Film gibt, der nicht gesendet wurde", hieß es am 13. September auf eine Anfrage von mir) und des "Spiegel" ("Einen fertigen, ungesendeten Bericht gibt es nicht", schrieb er vor zwei Wochen). Die Äußerungen sind zwar nicht falsch, scheinen aber auch weit entfernt davon, richtig zu sein.
Nachdem Ende August der "Stern" erstmals über die DRK-Sache berichtete, haben sich zahlreiche Mitarbeitende den Beitrag angeschaut. Möglich ist das, weil er im Schnittsystem in Kiel noch zu finden ist. Deren Eindruck war, dass es sich um einen fast fertigen Beitrag handelt (mit einer Art Platzhalter für ein noch erwartetes DRK-Statement), der aber in relativ kurzer Zeit sendefertig hätte gemacht werden können.
Wenn es dem NDR wirklich auf Transparenz ankäme, könnte er ihn in leicht überarbeiteter Form online dokumentieren. Nicht als journalistischen Beitrag auf der Höhe der Zeit, nicht als optimalen Film zum Thema - das ist angesichts dessen, dass das Material 2020 entstanden ist, ja gar nicht möglich. Sondern eine Art als historisches Debatten-Artefakt, das dabei helfen würde, einen Teil der Auseinandersetzungen, die über den NDR in Kiel geführt werden, besser einschätzen zu können.
Aber noch mal zurück zu den quasi theologoischen Fragen. "Warten wir auf die Predigt des ehemaligen Prälaten Stephan Reimers", endet Hanfelds FAZ-Text einigermaßen launig. Was wird drin stehen in der "Predigt"? Vermutlich so was Ähnliches wie in Wulf-Mathies’ Prüfbericht für den WDR 2018. Darin heißt es:
"Kulturwandel ebenso wie alle anderen hier vorgeschlagenen Maßnahmen erfordern aktive Beiträge und verlangen von allen, traditionelle Rollen, in denen man sich eingerichtet hat, zu hinterfragen und neues Vertrauen aufzubauen (…) Kulturwandel ist ein langfristiger Prozess, der nur gelingen kann, wenn er partizipativ angelegt ist und von oben befeuert wird. Ein sinnvoller praktischer Schritt ist es, auf allen Ebenen ein wertschätzendes Feedback-Geben und -Nehmen einzuüben und dies zum selbstverständlichen Bestandteil der Alltagskultur zu machen."
Altpapierkorb (Döpfner & Musk, Precht & Welzer, RTL)
+++ Neues aus Mathias Döpfners Textnachrichten-Korpus, dieses Mal zugänglich gemacht von einem Medium aus seinem eigenen Reich, nämlich dem "Business Insider" (der Link führt zur indischen Ausgabe, weil der Text dort frei zugänglich ist). Den Kern fasst der "Spiegel" so zusammen: "Am 30. März 2022 fragt Döpfner Musk per SMS: 'Warum kaufst du nicht Twitter?'. Und er schlägt ihm gleich noch ein Geschäft vor: 'Wir managen es für dich. Und errichten eine wahre Plattform für freie Meinungsäußerung.’" Hätte der E-Auto-Heini Twitter gekauft, wäre also alles vielleicht noch viel schlimmer gekommen als befürchtet.
+++ Ich habe die Lanz-Sendung mit "Prelzer und Wecht" (Stefan Hermanns) nicht gesehen, weil das Honorar für diese Kolumne das entsprechende Schmerzensgeld nicht abgedeckt hätte, aber ich vermute, dass folgende Passage, die Peter Luley in seiner Rezension für t-online.de aufgreift, repräsentativ ist: "Welzer führte an, Skeptiker gegenüber Waffenlieferungen seien in Talkshows stets in der Minderheit gewesen. Das wiederum wollte Markus Lanz nicht auf sich sitzen lassen: Er verwies auf den Auftritt des Rechtsphilosophen Reinhard Merkel in seiner Sendung, der 'ungefähr 50 bis 60 Prozent Redeanteil' gehabt habe. Bei Welzers Einwurf 'Haben Sie die Sendung mal angeguckt?' drohte dem Moderator der Kragen zu platzen: 'Was heißt, hab' ich die Sendung gesehen, ich war dabei!' Das sei ja schon mal 'kein guter Ausgangspunkt, um etwas zu beobachten', beharrte Welzer. Er jedenfalls habe nach der 'legendären Anne-Will-Sendung', bei der er mit dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk aneinandergeraten war, in der U-Bahn sehr viel Zuspruch erhalten."
+++ Die Ankündigung von Bertelsobermann Thomas Rabe, von den Titeln des ehemaligen Verlags Gruner + Jahr nur solche "mit RTL zusammenzuführen, die wirklich synergetisch sind" (Altpapier von Dienstag), kommentiert Steffen Grimberg in der taz: "Das übertrifft die schlimmsten Befürchtungen, was das ohnehin gewöhnungsbedürftige Zusammenpferchen von RTL und G+J für die Zeitschriften bedeutet." Ein Bertelsmann-"Imagefilmchen" hat sich Grimberg auch angeschaut: "Das Wort Journalismus taucht (dort) an keiner Stelle mehr auf. Gruner + Jahr auch nicht. Deutschlands traditionsreichsten Magazinverlag (Stern, Geo, Brigitte usw.) gibt’s einfach nicht mehr (…) Obwohl sie da für einen Privatsender einen ziemlich guten Job machen und sich mit n-tv sogar noch einen eigenen Nachrichtenkanal leisten."
Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag nach dem Feiertag.
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