Das Altpapier am 16. September 2022: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier am 16. September 2022 "Eine Katastrophe für die Pressefreiheit in Thüringen"

16. September 2022, 12:18 Uhr

Warum das Urteil im sogenannten Fretterode-Prozess in vieler Hinsicht absurd ist. Warum öffentlich-rechtliche Programmacher nicht auf Sinusgruppen starren sollten. Warum es Mathias Döpfner schwer hat. Ein Altpapier von René Martens.

"Ein trauriger Tag für den Rechtsstaat"

Der Begriff "Skandalurteil" fiel am Donnerstag ziemlich oft, nachdem das Landgericht Mühlhausen im sogenannten Fretterode-Prozess zwei bekannte Neonazis für einen Angriff auf zwei Journalisten zu einer Bewährungsstrafe beziehungsweise der Leistung von Sozialdienststunden verurteilt wurden. Einer der Rechtsextremisten hatte einem der beiden Opfer im April 2018 mit einem Schraubenschlüssel den Stirnknochen gebrochen, der andere Journalist wurde mit einem Messer angegriffen. Siehe dazu u.v.a. ein Altpapier aus dem Januar dieses Jahres und eine vor rund dreieinhalb Jahren in der "Süddeutschen" erschienene Seite Drei (Blendle-Link).

Andererseits ist der Begriff "Skandalurteil" auch ein bisschen abgedroschen, weshalb hier noch weitere Einschätzungen aufgelistet seien: "entsetzlich" (Sven Adam, der eines der Opfer vertritt, laut zum Beispiel ND), "ein trauriger Tag für den Rechtsstaat" (DJV-Bundesverband), "niederschmetternd" (noch einmal DJV-Bundesverband).

Details zum Strafmaß findet man bei MDR Thüringen:

"Mit dem Urteil blieb das Gericht deutlich unter der Forderung von Staatsanwaltschaft und Nebenklage. Die Staatsanwaltschaft hatte für den jüngeren der beiden Angeklagten eine Jugendstrafe von einem Jahr und neun Monaten, ausgesetzt zur Bewährung, gefordert. Für den älteren der beiden Angeklagten plädierte der zuständige Staatsanwalt auf eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten."

Fabian Klaus kommentiert für Funkes Thüringer Allgemeine (€):

"Zwei Journalisten recherchieren im Umfeld von Rechtsextremisten und bezahlen das fast mit ihrem Leben. Für einen Schlag auf den Kopf, Folge: Schädelbruch, und einen Stich mit dem Messer gibt es hierzulande eine Bewährungsstrafe und ein paar Sozialstunden. Schon ohne die vielfach offenkundig gewordene politische Motivation der Täter wäre das ein Skandal."

Die Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss spricht von einer "Katastrophe für die Pressefreiheit in Thüringen", was das Urteil auch deshalb ist, weil das Gericht zu dem, gelinde gesagt: überraschenden Schluss kam, es habe sich bei den Angriffen auf die beiden Journalisten gar nicht um einen Angriff auf die Pressefreiheit gehandelt.

"(Das Gericht) glaubte den Angeklagten, dass sie ihre Opfer nicht für Journalisten, sondern für Antifa-Aktivisten gehalten hätten",

schreibt das bereits zitierte ND.

Das Gericht argumentiert, dass einer der Angreifer "Das sind Zecken!" gerufen habe. Siehe @nsuwatch, wo man die wohl ausführlichste Wiedergabe der Urteilsbegründung findet. Demnach parlierte die Richterin offenbar mit demonstrativer Süffisanz über die Angemessenheit des herablassenden Begriffs "Zecke".

In der taz gibt Michael Trammer die Weltsicht der Richterin zusammenfassend so wieder:

"Die Bezeichnung ‚Zecken‘ sei ein normaler Begriff und lasse nicht etwa Rückschlüsse auf die politische Gesinnung der Täter zu."

Aber inwiefern hatte das Einfluss auf das Strafmaß? Noch einmal MDR Thüringen:

"'Es war kein gezielter Angriff auf Journalisten und auf die freie Presse’, sagte (die Richterin). Wenn es so wäre, (sagte sie), hätte das strafverschärfend berücksichtigt werden müssen."

Ach so! Der Schädel eines Journalisten ist also mehr wert als der eines Antifa-Aktivisten?

Das Fazit eines Artikels bei "analyse & kritik" bringt die jenseits ethischer Maßstäbe liegende richterliche Argumentation vielleicht am besten auf den Punkt:

"Politische Gegner*innen brutal angreifen und nur durch Zufall nicht umzubringen, scheint dem Urteil zufolge jedenfalls minderproblematisch, solange man sie nicht als Presse erkennt."

Der auf Rechtsextremismus spezialisierte Politikwissenschaftler Michael Lühmann (der mittlerweile auch Grünen-Politiker ist) formuliert es ähnlich sarkastisch:

"Wenn Du als militanter Nazi jemanden verfolgst, abdrängst und ins Bein stichst, immer sagen, es war eine ‚Zecke‘, dann akzeptiert das Gericht das womöglich als Auseinandersetzung zwischen ‚Kontrahenten‘ und wertet das als strafmildernd. Ja, ist im #Fretterodeprozess so passiert."

Was @nsuwatch noch bemerkt:

"Verstörend war, dass die Richterin wiederholt die Worte ‚Nebenkläger‘ und ‚Angeklagte‘ verwechselte. Orientierte sie sich am Plädoyer der Nazi-Anwälte von der Verteidigung, das nahe legte, man hätte im Prozess auch anders herum anklagen können?"

Das Fazit des bereits zitierten Kommentators Fabian Klaus in der Thüringer Allgemeinen lautet:

"Dieses Urteil reiht sich in eine immer länger werdende Liste ein und bestätigt einmal mehr: Rechtsextremisten, die in Thüringen schwere Gewalttaten begehen, können mit Milde rechnen -  ob das Land nun von Linken, SPD und Grünen regiert wird oder nicht."

Fuck the Sinusgruppen

Die Diskussionen über Gremienreformoptionen und bessere Compliance-Regeln zur Vermeidung von Vettern- und Basenwirtschaft, die am Donnerstag Thema einer ARD-Pressekonferenz in Köln waren - siehe unter anderem FAZ (€), "Süddeutsche", "Tagesspiegel" - sind mit Blick auf die Zukunft der Öffentlich-Rechtlichen natürlich wichtig. Aber man kann auch das Gefühl haben, dass in der nun stattfindenden Grundsatzdebatte andere Aspekte in den Vordergrund gerückt werden sollten.

Das tun in der aktuellen Ausgabe von epd Medien drei Mitglieder der Akademie der Künste in einem "Gespräch über Wege aus der Krise des RBB":  Andres Veiel, Dokumentarfilmer und Mitglied im RBB-Rundfunkrat, Oliver Sturm, für den RBB. Tätiger Hörspielautor und -regisseur, sowie die Schriftstellerin Kathrin Röggla, die hier eher eine Art Moderatorinnen-Rolle einnimmt. Es handelt sich um eine "gekürzte", aber immerhin sechseinhalb Druckseiten umfassende Fassung, die noch längere wird im November im "Journal der Künste" erscheinen.

Steigen wir mal mit einer historischen Perspektive ein. Oliver Sturm sagt:

"In den 30 Jahren, die ich den Rundfunk erlebt habe, seit Mitte der 1980er Jahre, sind die innerbetrieblichen Hierarchien immer steiler geworden. Zugespitzt könnte man sagen, der innere Apparat des Rundfunks ist ein quasi-feudaler Apparat innerhalb einer ihn umgebenden Demokratie geworden (…) In dem Moment, in dem die Leitungsspitze erodiert, schlägt das durch bis in die untersten Abteilungen. Aus den Abteilungen des (RBB) höre ich, dass jetzt Debatten über alle möglichen Fehlentwicklungen stattfinden. Daran merkt man, wie sehr der Meinungsaustausch innerhalb des Rundfunks die ganzen Jahre unter Verschluss gehalten worden ist. Man kann jetzt wirklich sagen: Die Mäuse tanzen auf den Tischen."

Neben der Teil-Feudalisierung ist auch die Unternehmensberatisierung des öffentlich-rechtlichen Systems ein zentrales Problem. Sturm dazu:

"Seit einigen Jahren wird der Rundfunk sehr stark von den Managern aus der privaten Medienwirtschaft beeinflusst, von Rundfunkberatungsfirmen, die das Distributionsmanagement, aber auch das Produktionsmanagement beherrschen. Ökonomisierung ist dabei der Leitgedanke, das heißt, sie denken in Sinusgruppen-Analysen und Zielgruppen-Targeting. Heutzutage muss jede Hörspielabteilung bei jedem Produkt eine Zielgruppenbestimmung vornehmen, muss angeben: An welche Zielgruppe richtet sich das Hörspiel, was gerade entsteht? Das ist ein geradezu antikünstlerischer Gedanke. Wenn du immer nur Sinusgruppen zielgenau bedienst, geht der integrative Gedanke des Rundfunks verloren."

"Antikünstlerisch" wird oft auch in den Fiction-Redaktionen gedacht, jedenfalls lassen sich folgende Ausführungen Andres Veiels so zusammenfassen:

"Überall da, wo Unsicherheit herrscht, wird nicht wirklich kreativ gedacht, das heißt auch mal ins Risiko gegangen. Stattdessen wird in den Redaktionen geschaut: Was ist anderswo erfolgreich? In der BBC oder bei Netflix? Darauf wird dann reagiert, dieses Format wird genau studiert, es werden deutsche Produzenten angesprochen; das dauert sehr, sehr lange. Nach zwei, drei Jahren versucht man, das neue Format zu implantieren. Zu diesem Zeitpunkt ist die Entwicklung aber längst weitergegangen und alle wundern sich, dass es nicht den gewünschten Erfolg hat."

In den vergangenen Wochen war im Zusammenhang mit den Vorwürfen an öffentlich-rechtliche ARD-Hierarchinnen und Hierarchen (beim NDR in Schleswig-Holstein und Hamburg) öfter von einem "Klima der Angst" die Rede, das diese geschaffen hätten. Von so einem Klima kann man aber auch insofern sprechen, als offenbar eine Angst vorherrscht, die das kreative Denken hemmt. 

Das allergrößte Fass macht Sturm am Ende auf:

"Wir haben es im Kontext, in dem der Rundfunk agiert, mit einem marktkapitalistischen System zu tun, bis in jede Faser der Gesellschaft hinein. Ein System, das auf Ressourcenausbeutung, Optimierung und Effizienzsteigerung gepolt ist. Das merken wir an den Naturressourcen, wir merken es aber auch an unseren inneren Ressourcen, zum Beispiel wie jeder sich taktet. Was die Medienindustrie macht, ist letztendlich eine Art Industrialisierung des Bewusstseins. Das heißt, da findet im negativen Sinne eine Bewusstseinsausbeutung, aber auch im positiven Sinne eine Bewusstseinssteigerung statt. Dieses von Erschöpfung bedrohte System ist der Kontext, in dem Rundfunk stattfindet und sich als Teil der Medienindustrie selbst einem Zustand der Erschöpfung nähert. Die große Kunst liegt darin, sich hier gegensteuernd zu behaupten."

Die Frage ist natürlich: Wie viele Personen gibt es in den Schlüsselpositionen der Anstalten, die über eine derartige Welt- und Weitsicht verfügen und diese in ihr Handeln einfließen lassen? Wie realistisch ist es, dass solche Personen in den kommenden Monaten in Schlüsselpositionen gelangen?

Ein Milliardär hat’s schwer

Wir wissen nicht, ob "Ein Milliardär hat’s schwer" derzeit zu Mathias Döpfners Lieblingsbüchern gehört, aber dass der Titel seine aktuelle Gemütslage beschreibt, ist nicht völlig auszuschließen. Gerade erst brachten ihn Recherchen der "Washington Post" in politische Bredouille (Altpapier), und nun kommt schon wieder so eine linksradikale Gazette daher und pinkelt ihm ans aparte Bein: Die Financial Times wirft ihm vor, er habe die Macht in seinem Unternehmen ausgenutzt, um Berichterstattung zu platzieren, die nicht zuletzt ihm selbst nützt. Es geht um Döpfners Werken als Adidas-"Landlord". Hier die Essentials aus der FT:

"In March and April 2020, Springer’s flagship tabloid Bild published more than 20 articles chiding Adidas for a planned rent freeze during the first lockdown (…) During its campaign, Bild did not disclose that its group chief executive was an affected landlord of Adidas (..) the paper carried a series of articles accusing the sportswear brand of "breaking a taboo”, behaving "ruthlessly” and betraying the heritage of its legendary founder Adi Dassler. (…) In news and opinion articles over the following days, Adidas chief executive Kasper Rørsted was cast as a greedy capitalist who lacked character and undermined the fundamental principles of trust."

Die "Süddeutsche Zeitung" schreibt in einer Zusammenfassung:

"Große und beliebte Marke, eben noch mit Rekordgewinnen und nun mit offenbar skrupellosen Managern, die selbst Krisen wie die Pandemie zur Optimierung des Geschäftsergebnisses nutzen wollten: Das alles sind natürlich prima Bausteine für Headlines in großen Lettern (…) Dass auch andere Unternehmen wie H&M und Puma eine ähnliche Firmenpolitik fuhren, dass die Politik in Berlin ein Gesetz auf den Weg gebracht hatte, um so Einzelhändler und Ketten zu retten: Kam schon vor in der Bild-Berichterstattung, doch am intensivsten beschäftigte sich die Zeitung mit den vier Buchstaben mit der Marke mit den drei Streifen."

Welches Lied singt Springers Pressestelle? Dass alles in Butter ist bzw. Döpfner "völlig im Einklang mit unseren Richtlinien" gehandelt habe (siehe "Spiegel")

Auffällig ist natürlich: Mal wieder ist es ein englischsprachiges Medium, das Brisantes in Sachen Springer aufdeckt. Das hat natürlich mit den internationalen Aktivitäten von Döpfners Laden zu tun. Aber den Wunsch, dass sich hiesige Investigativ-Stars stärker um Springer kümmern, kann man ja mal anbringen.


Altpapierkorb (Ulrich Wilhelm, Johannes Wimmer)

+++ Was macht eigentlich der frühere Merkel-Sprecher und BR-Monarch Ulrich Wilhelm, der - wie der altbewährte Wilhelminismus-Experte Steffen Grimberg in der taz schreibt - in seiner Intendantenzeit "das zur BR-DNA wie das Hofbräuhaus zu München gehörende ‚Bayern first‘ exekutierte und dem Rest der ARD mächtig auf den Wecker ging"? Was mit Printmedien. Beziehungsweise: "Wilhelm ist seit vergangenen August einer von zwei Geschäftsführern der Fazit-Stiftung, die Wissenschaft, Bildung und Erziehung fördert. Der gehören so ganz nebenbei aber auch mehr als 90 Prozent der FAZ", zu deren Lieblingsfeinden wiederum bekanntlich der öffentlich-rechtliche Rundfunk gehört, bei dem Wilhelm praktisch eben noch zu Hause war.

+++ Und was der möglicherweise niemals schlafende Medizinjournalist, Entertainer und "Entrepreneur" Johannes Wimmer alles für den NDR macht und was, wegen Compliance und so, nicht mehr - das steht bei "Übermedien".

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag. Schönes Wochenende!

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