Das Altpapier am 8. September 2022 Wahl ohne Auswahl
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08. September 2022, 10:50 Uhr
Die Wahl von Katrin Vernau zur neuen rbb-Intendantin ist kein guter Start in ihre Amtszeit. Dass sie als einzige Kandidatin antrat und kaum Bezüge zur Region Berlin-Brandenburg mitbringt, schmälert ihre Akzeptanz. Ein Altpapier von Annika Schneider.
Auftritt der "Meisterin der Zahlen"
Der rbb hat seit gestern Abend eine neue Intendantin. Katrin Vernau soll zunächst ein Jahr lang im Sender aufräumen, hat aber nicht ausgeschlossen, danach als reguläre Intendantin weiterzumachen. An den fachlichen Kompetenzen der bisherigen WDR-Verwaltungsdirektorin, die unter anderem in der Unternehmensberatung Erfahrungen gesammelt hat und Journalist Steffen Grimberg zufolge als "Meisterin der Zahlen" gilt (rbb24), zweifelt kaum einer. Und dennoch ist aus zwei Gründen sehr fraglich, ob ihre Wahl als gelungener Einstieg in die notwendige Aufarbeitung gelten kann.
Demokratie und Transparenz: Das sind wohl die wichtigsten Grundsätze, die der Sender nach dem Gebaren der bisherigen Intendantin beherzigen müsste. Vernaus Wahl sendet aber ganz andere Signale. Die Findungskommission schlug nur eine einzige Kandidatin vor, die dann auch noch im ersten Anlauf durchfiel und erst im zweiten Wahlgang, noch am selben Abend, genug Stimmen zusammenbekam – wobei ihr immer noch sechs von zwanzig Rundfunkratsmitgliedern die Zustimmung verweigerten. Weder bei der rbb-Belegschaft noch bei den Beitragszahlenden wirkte das sonderlich demokratisch.
Protest von Publikum und Belegschaft
"Die Alternativlose" betitelte die rbb-Redaktion einen Online-Artikel zur Wahl. Auf ihrem Weg in den Sitzungssaal musste Vernau an Beschäftigten vorbei, die Plakate hielten: "So nicht!! Das ist keine Wahl!" Und ein Kommentar von rbb-Zuschauer Toni aus Berlin zeigt exemplarisch, wie das Prozedere vom Publikum gelesen werden kann:
"Was soll der Quatsch? Im ersten Wahlgang durchgefallen und kurze Zeit später wird sie geliebt? Was ist passiert, haben sie die Nein-Sager schnell ausgewechselt?"
Das ist natürlich verschwörungstheoretischer Unsinn, zeigt aber, dass es vielleicht besser gewesen wäre, mehr Kandidierende zur Wahl zu stellen. Selbst wenn Vernau für den Job perfekt geeignet ist, obliegt die Entscheidung darüber nun einmal dem Rundfunkrat – in dem sich einige Mitglieder skeptisch gezeigt haben.
Das zeigt auch ein inoffizielles Protokoll der Rundfunkrat-Schalte am Vorabend der Wahl, das die B.Z. veröffentlichte. Für den Aufarbeitungsprozess ist es maximal schädlich, wenn nicht einmal solche Runden vor Durchstechereien geschützt sind, erhellend ist der Text trotzdem. Er macht deutlich, dass Vernaus Wahl noch ein zweites großes Problem birgt: Die Tatsache, dass sie aus "dem Westen" kommt.
"Jetzt reitet der WDR hier ein", sagte der Brandenburger CDU-Rundfunkrat Ingo Senftleben (48), "um unseren ostdeutschen RBB wieder auf Linie zu bringen."
Auch aus der rbb-Belegschaft gab es dahingehend Kritik. Vernau selbst sagt im Interview mit der rbb-"Abendschau" kurz nach ihrer Wahl:
"Ich seh tatsächlich jetzt nicht, dass wir innerhalb von Deutschland Probleme haben, interkulturell, also über Bundesländergrenzen hinweg, zusammenzuarbeiten. Ich bin offen für alles, was kommt."
Ob Offenheit hier reicht? Angesichts der Geschichte westdeutscher Führungskräfte in den "neuen" Bundesländern trägt Vernaus schwäbische Herkunft wohl nicht unbedingt dazu bei, das Vertrauen des rbb-Publikums in "ihren" Sender zurückzugewinnen. In einem schon am Dienstag im Altpapier erwähnten epd-Medien-Interview erklärt der Medienwissenschaftler Otfried Jarren,
"dass der RBB eine Anstalt ist, die für zwei ganz unterschiedliche Bundesländer sendet. Da kommen kulturelle Besonderheiten hinzu: Ost und West und Stadtgesellschaft versus Land. (…) Der RBB-Leitungsskandal ist auch vor dem spezifisch kulturellen deutschen Ost-West-Hintergrund zu sehen."
Gab es denn wirklich niemanden Kompetenten mit mehr Bezug zu Brandenburg und Berlin, der oder die sich zur Wahl hätte stellen können? Selbst wenn dann Vernau mehr Stimmen bekommen hätte, wäre der Eindruck ein anderer gewesen. Für ihr Interimsjahr will Vernau wohl noch nicht mal ins Sendegebiet des rbb umziehen, wenn man der B.Z. Glauben schenkt.
Sie selbst wies den Vorwurf, eine Statthalterin des WDR zu sein, zurück: Sie sei aus dem rbb gefragt worden, ob sie den Posten übernehmen wolle, sagte Vernau. Trotzdem schreibt der "Spiegel":
"Mit der Personalie Vernau wird zugleich die Position des WDR innerhalb der ARD gestärkt. Intendant Buhrow selbst war bereits beim wichtigen Posten des ARD-Vorsitzenden eingesprungen, den Schlesinger inmitten der RBB-Affäre abgeben musste."
Und Medienjournalist Jörg Wagner kommentiert für den rbb:
"Warum sich niemand in Berlin und Brandenburg finden ließ, wurde nicht bekannt. Warum der Rundfunkrat nur die Wahl hatte, den Vorschlag anzunehmen oder abzulehnen, drang nicht aus dem hinter verschlossenen Türen tagendem Rundfunkrat. […] Etwas viel Vertrauensvorschuss, der der Öffentlichkeit, dem zahlenden rbb-Publikum und der Belegschaft abgerungen wird."
Schonungslosigkeit erwünscht
Wenn ich dem rbb eine Genesungskarte schicken wollte, dann würde ich ihm wohl wünschen, dass er aus der aktuellen Krise gestärkt hervorgeht. Vielleicht lässt sich etwas vom "Spiegel" lernen, dessen jüngster Skandal inzwischen so weit aufgearbeitet ist, dass er für eine Verfilmung als "moderne Mediensatire" (Ankündigung) taugt. Dabei war dieser gute Ausgang keineswegs gewiss:
"Der Fall Relotius hat die Grundfesten unserer Glaubwürdigkeit erschüttert und Glaubwürdigkeit ist für die Art von kritischem Journalismus, die wir betreiben, nun mal das alles entscheidende Gut",
zieht Chefredakteur Steffen Klusmann im aktuellen "journalist" Bilanz. Mit Blick auf den rbb inspirierend finde ich vor allem folgenden Satz Klusmanns:
"Der Abschlussbericht war schonungslos und hat wehgetan, aber am Ende mehr geholfen als geschadet."
Wenn man das in den Berliner und Brandenburger Funkhäusern in einem Jahr auch sagen könnte, wäre schon viel gewonnen. Die Kanzlei LUTZ ABEL, die derzeit die Geschehnisse im rbb mit sechs bis acht Anwältinnen und Anwälten untersucht, hat ebenfalls einen "schonungslosen" Bericht angekündigt. Am Ende soll die "Abgabe einer Handlungsempfehlung" stehen, die Ergebnisse könnten dann auch "von anderen vergleichbaren Einrichtungen zur Überprüfung ihrer eigenen Strukturen genutzt werden", wie die Kanzlei in einer Pressemitteilung zu Beginn der Aufarbeitung schrieb.
Diese Ergebnisse nicht abwarten wollte Patricia Schlesinger, die sich gestern in einem Interview in der "Zeit" (€) zu Wort gemeldet hat – für die Redaktion ein echter Coup.
Gemälde einer Unschuldigen
Schon das Foto über dem Interview, das an ein Gemälde erinnert, spricht Bände: Schlesinger inszeniert sich gemäldeartig auf einer schwarzen Ledercouch, mit einem Blick irgendwo zwischen nachdenklich und herausfordernd – von Demut oder Schuldbewusstsein keine Spur. Auch im Interview selbst stellt sich Schlesinger als Opfer dar, das von missgünstiger Berichterstattung um den Schlaf und das Amt gebracht worden ist:
"Es geht hier doch nicht nur um mich, sondern um das System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Die ganze Aufregung um mich steht doch stellvertretend für die Wut mancher Menschen auf das System dahinter. Ich gebe dem Apparat ein Gesicht, an mir lässt man jetzt auch all die angestaute Wut aus."
Michael Hanfeld kommentiert dazu in der FAZ:
"Man meint, hier würden die RBB-Mitarbeiter und die Beitragszahler abermals verspottet."
An einer Stelle im Interview entschuldigt sich Schlesinger: dafür, den "Unmut" im Sender nicht gesehen zu haben. Von einer "Nopology" schreibt denn auch mein Deutschlandfunk-Kollege Stefan Fries auf Twitter, weil Schlesinger lediglich die Folgen des Skandals bedauere. Ex-Medienjournalist Daniel Bouhs meint an gleicher Stelle:
"Es laufen Ermittlungen. Es könnte zu einem Prozess kommen. Natürlich gibt sie an dieser Stelle nichts wirklich zu. Es ist Litigation-PR. Die richtige Atmosphäre schaffen für den Fall der Fälle."
Ligitation-PR, das ist eine Kommunikationsstragie, die einen Rechtsstreit mit gezielter Öffentlichkeitsarbeit begleitet. Während Schlesinger also an ihrem Image arbeitet, darf Katrin Vernau nun ihre Scherben aufkehren. Die Skepsis in Belegschaft und Publikum überwinden kann sie wohl nur mit dem, was sie jetzt anpackt und umsetzt.
Altpapierkorb
+++ Es ist eine Kleinigkeit, aber die lässt tief blicken: Stefan Niggemeier berichtet bei Übermedien über einen NDR-Artikel, der kurz nach Erscheinen auf tagesschau.de wieder verschwand – wohl, weil ein Justiziar eingegriffen hatte. Pikant daran ist, dass es im Text um die Vorwürfe gegen Missstände im NDR selbst ging, zu denen ein hauseigenes Team recherchiert hatte. "Das offenbar mit den Rechercheuren unabgesprochene Vorgehen stellt auch die Arbeit und Unabhängigkeit des Investigativteams in Frage", kritisiert Niggemeier. +++
+++ Noch einmal NDR: Ein Journalist und sein Interviewpartner sollen bei Dreharbeiten von einem Schrankenwärter angegriffen und verletzt worden sein, berichtet der Sender: Der Mann habe den NDR-Journalisten "mehrfach mit der Faust ins Gesicht und gegen den Hinterkopf geschlagen". +++
+++ NDR zum Dritten: Um aufzuarbeiten, was als mutmaßlicher "politischer Filter" im Landesfunkhaus Kiel durch die Medien ging, schickt der NDR ein Journalistenteam aus anderen Teilen des Sendegebiets nach Schleswig-Holstein – eine der Erkenntnisse aus einer Ausschusssitzung zum Thema im Kieler Landtag (NDR). +++
+++ Im ukrainischen Fernsehen läuft seit Kriegsbeginn auf fünf Fernsehsendern das gleiche Programm: Nachrichten in Dauerschleife, auf Anordnung der Regierung. Ist es eine Gefahr, wenn der Staat in Kriegszeiten die Berichterstattung kontrolliert? Auf diese berechtigte Frage antwortet der ukrainische Kulturminister Oleksandr Tkatschenko, selbst ein ehemaliger Journalist, im "Tagesspiegel"-Interview (€) leider nur ausweichend. Ihm zufolge gebe es aber – abgesehen von einigen wenigen Regeln für die Sicherheit des Militärs – keine Einschränkungen der Pressefreiheit. Er weist allerdings auch darauf hin, dass viele ukrainische Medien dringend Geld brauchen, um weiter berichten zu können. +++
+++ Einen Blick auf die jüngsten Entwicklungen bei CNN unter dem neuen Senderchef Christ Licht wirft Nina Rehfeld in der FAZ (€): "Angesichts des Abgangs zweier wichtiger Journalisten in den vergangenen zwei Wochen fragen sich nun manche, ob Licht den Sender einer ‚Säuberung‘ unterziehe – von solchen Kollegen, die scharfe Kritik an Donald Trump und antidemokratischen Kräften üben." +++
+++ "Nach der Ermordung von vier weiteren Journalisten im August ist dieses Jahr schon jetzt das tödlichste für Medienschaffende in Mexiko seit Beginn der Aufzeichnung durch Reporter ohne Grenzen", meldet die NGO und fordert dringend Maßnahmen von der Regierung. +++
Neues Altpapier gibt’s am Freitag.
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