Das Altpapier am 7. September 2022 Fragwürdige Narrative
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07. September 2022, 11:19 Uhr
Die Julian-Reichelt-Affäre hat es zwar noch nicht nach Hollywood geschafft, aber jetzt immerhin schon mal nach Kalifornien – vor ein Zivilgericht. Springer-Chef Mathias Döpfner hat dazu noch ganz andere Sorgen: eine abenteuerliche E-Mail, die wieder mal ironisch gewesen sein soll. Ein Altpapier von Ralf Heimann
Das System 'Bild' auf 132 Seiten
Ein bislang unbekanntes Detail aus der eigentlich schon abgehefteten Julian-Reichelt-Affäre ist der Versuch einer seiner Geliebten, sich an eine Springer-Führungskraft zu wenden, um sich Hilfe zu holen. Der Versuch misslingt. Die Frau sagt:
"Ich kenne die Gerüchte. Ich hatte auch eine Affäre mit Julian. Danach hat jeder über mich gesagt, ich sei nur dort, weil ich mit ihm geschlafen habe. So läuft es nun mal bei Springer. Das muss man akzeptieren."
Das Zitat steht einer 132 Seiten langen Klageschrift, die hier gestern schon kurz erwähnt wurde. Die Frau, die hier hören musste, dass das bei Springer eben so sei, geht nun, anderthalb Jahre nach dem Compliance-Verfahren, gerichtlich gegen eine amerikanische Springer-Tochter, die "Bild GmbH" und über 20 nicht benannte Personen vor.
Marvin Schade hat die Klageschrift gelesen und sie für sein Magazin "Medieninsider" (€) analysiert. In seinem fast 40.000 Zeichen langen Text beantwortet er unter anderem eine Frage, die sich gleich zu Beginn stellt: Warum wird der Streit vor einem US-Gericht ausgetragen? Das sei möglich, da die Frau (deren Namen Schade nennt, "Spiegel" und "Zeit" verzichten darauf)
"derzeit, aber auch während ihrer Arbeit für Bild in Kalifornien tätig war und sie gegen dortige, potenzielle Rechtsverstöße vorgeht".
In einem separaten Text (€) beantwortet Schade die Besonderheiten der US-Justiz. Dazu gehört die Frage, warum die Frau nicht all ihre Vorwürfe im Anhang der Klage belegt und weitere 25 Beklagte offen lässt. Schade:
"Das US-Recht verlangt von der Klägerin nicht, alle klagerelevanten Tatsachen zum Zeitpunkt der Klageerhebung zu kennen. 'Vielmehr reicht es, wenn die Klägerin nach bestem Wissen und Gewissen genügend Tatsachen vorträgt, die auf die Annahme eines Anspruchs schließen lässt.'"
Das soll es ermöglichen, "dass die Klägerin an Belege kommt, die sie beispielsweise auf der Seite der Beklagten vermutet", erklärt Schade in seinem anderen Text.
Aber was steht nun drin in dem Dokument? Wir wollen hier nicht ins Detail gehen, aber ganz allgemein:
"Die Klage beschreibt ein System, das der Spiegel in einer viel diskutierten Berichterstattung mit 'Vögeln, fördern, feuern’ überschrieb."
Und das Dokument beschreibt dieses System offenbar sehr genau. Allerdings, das ist wichtig: Die Schrift gibt allein die Sichtweise der Klägerin wieder.
Es geht um nächtliche Nachrichten, den ersten Kuss im Taxi und den Vorwurf, der Verlag und sein Personal hätten die Frau in "verachtenswerter, unterdrückerischer und böswilliger Weise" geschädigt.
Marvin Schade hat die beteiligten Personen akribisch mit den Vorwürfen konfrontiert oder einfach gefragt, aber es hat so gut wie niemand geantwortet.
Julian Reichelt hat laut Schade zunächst um eine Verlängerung der Frist bis Mittwoch, heute, gebeten, dann hat er der "Zeit", für die Holger Stark die Anklageschrift gelesen hat, gesagt, die Schilderung der Frau sei "kompletter Unsinn und frei erfunden", es gehe darum, ein "bestimmtes Narrativ" durchzusetzen.
Schließlich hat Reichelts Anwalt Joachim Steinhöfel am Dienstagmittag eine 800 Zeichen lange Erklärung herumgeschickt, die nur komplett veröffentlicht werden darf, wie Schade schreibt, was auch passiert ist. Daraus schließe ich, ohne es rechtlich bewerten zu können, dass es geht. Und das führt zur Frage: Kann man die in Lokalzeitungen bewährte Praxis, dass Pressemitteilungen komplett abgedruckt werden, so vielleicht auch in der überregionalen Presse etablieren? Aber das wäre ein anderes Thema.
Die Erklärung erweckt den Eindruck, dass Reichelt oder sein Anwalt hier ganz nebenbei die eigene Strategie verraten haben, nämlich: ein bestimmtes Narrativ durchzusetzen. Hier wäre das der Versuch, Reichelts ehemalige Geliebte als unglaubwürdig erscheinen zu lassen und sie zu diskreditieren.
Laura Hertreiter und Willi Winkler, die für die SZ über den Fall schreiben, sehen in der Erklärung
"den in diesem Fall bereits vielfach angeschlagenen Dreiklang von Unwahrheit (er behauptet, sie habe sich geweigert, im Compliance-Verfahren auszusagen), Unterstellung (er insinuiert, sie habe womöglich durch die private Beziehung 'unter Umgehung der Verlagshierarchie Vorteile' ersucht) und Diskreditierung (er bedauert ihre gesundheitlichen Probleme und die Notwendigkeit einer psychiatrischen Behandlung)".
Auf einer Skala von "Ich ballere den ganzen Tag paranoide Tweets heraus wie immer" bis "Ich lass das mit dem Twittern heute besser mal sein" ist für Julian Reichelt am Dienstag offenbar der Worstcase eingetreten. Und es könnte noch schlimmer werden, denn Mitte Dezember findet der erste Gerichtstermin statt. Dann wird möglicherweise alles öffentlich so ausgebreitet, wie Reichelt sich das in allen anderen Fällen wünschen würde.
Was sich für ihn mit dem Fall ändert, schreiben Anton Rainer und Isabell Hülsen in ihrem Text für den Spiegel (€):
"Reichelt selbst hatte sich immer dagegen verwehrt, in einem Atemzug mit anderen Fällen sexueller Belästigung genannt zu werden. Schon das Wort 'MeToo' sei in diesem Zusammenhang eine Verleumdung, sagte er Ende Dezember in einem Interview mit der 'Zeit'. 'Es gab in dem ganzen Verfahren keinen Menschen, der sich selbst als Opfer bezeichnet hat, auch wenn das in den Medien so dargestellt wurde.' Damit ist es nun vorbei. Die 132-seitige Klageschrift enthält das Wort 15 Mal, eine Kapitelüberschrift trägt den Titel: 'Reichelts Opfer beginnen, ihre Stimme zu finden’".
Die Dimension der Klage
Die Klage ist nicht nur für Reichelt, sehr unangenehm, sondern auch für den Springer-Verlag und seinen Chef Mathias Döpfner, denn zum einen könnte ein Verfahren in den USA teuer werden, wenn das Gericht der Klägerin Recht gibt. Und, wie Marvin Schade schreibt:
"Der Vorgang wird die Frage aufwerfen, ob Springer nicht doch versucht hat, gewichtige Vorkommnisse herunterzuspielen beziehungsweise unter den Teppich gekehrt zu haben."
Die Klageschrift liefert zudem Hinweise auf Fragen, die Juliane Löffler schon im vergangenen Jahr im Interview mit dem DJV-Magazin "Journalist" aufgeworfen hat, nämlich:
"Welche Personen haben bei Springer dieses System von Machtmissbrauch wissentlich übersehen, es zugelassen oder sogar unterstützt? Was ist es für eine Unternehmenskultur, in der derartige Missstände über Jahre möglich sind? Welche Rolle spielt Angst, welche Rolle Sexismus, welche Rolle spielen andere mächtige Männer in dem Unternehmen?"
In dem Prozess werden die Fragen wohl noch vertieft werden. Die Dimension der Klage bewerten Rainer und Hülsen so:
"Eineinhalb Jahre nach dem ersten Bekanntwerden von Compliance-Vorwürfen gegen den mittlerweile geschassten 'Bild'-Chefredakteur hat die Klage nun das Potenzial, den Konzern ernsthaft in Bedrängnis zu bringen."
Warum?
"Erstmals werden Vorwürfe, die bisher nur anonym erhoben wurden, in allen Details benannt, können Zeugen angehört und Beweise eingebracht werden. In der Klageschrift beschreibt die Ex-Mitarbeiterin etwa, dass sie nach einem Treffen mit Reichelt in einem Hotel verzweifelt gewesen sei, weil sie das Gefühl hatte, 'Sex auf Abruf' bieten zu müssen, um ihren Job nicht zu verlieren. Und erstmals muss Firmenchef Mathias Döpfner, der wie kein Zweiter um seine Stellung auf dem amerikanischen Medienmarkt kämpft, einen #MeToo-Fall auf offener Bühne verhandeln."
Döpfners Demokratieverständnis
Als wäre das alles nicht genug, hat die Washington Post auch noch genau in dieser Woche ein langes Döpfner-Porträt veröffentlicht (€), das von seinen globalen Ambitionen, seinem Journalismus-Verständnis und dummerweise auch noch von seinem Humor handelt, genauer: von seinem seltsamen Ironie-Verständnis, das ihn schon seinen Chefposten beim Zeitungsverlegerverband gekostet hat.
Die Washington Post zitiert aus einer E-Mail, die Döpfner Wochen vor der US-Wahl an seine engsten Führungskräfte geschickt haben sollte. In ihr steht:
"Wollen wir uns alle am 3. November morgens für eine Stunde zusammensetzen und dafür beten, dass Donald Trump wieder Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird?"
Die E-Mail sei durch eine Nachricht inspiriert worden, in der er über die Pläne der Regierung berichtete, Google wegen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung zu verklagen. Dieses Thema beschäftige ihn schon seit Jahren.
Auf die Frage nach der E-Mail soll Döpfner zunächst versucht haben, alles zu dementierten ("Das gibt es nicht. Das ist nie verschickt worden und es ist auch nie angedacht worden"). Als Sarah Ellison, die Autorin des Porträts, Döpfner den Ausdruck des Textes zeigte, habe er gesagt, es sei möglich, dass er die E-Mail "als ironische provokative Äußerung im Kreise der Leute, die Donald Trump hassen" verschickt habe, denn genau das, ironische und provokative Bemerkungen, mache er, Döpfner, gerne. "Das bin ich", soll er gesagt haben.
Das würde allerdings bedeuten, dass auch die übrigen Ausführungen dazu ironisch gemeint sein müssten. Laut der Washington Post habe Döpfner argumentiert,
"dass Trump bei fünf der sechs seiner Meinung nach wichtigsten Themen des letzten halben Jahrhunderts die richtigen Schritte unternommen habe – 'Verteidigung der freien Demokratien' gegen Russland und China, Aufstockung der Beiträge der NATO-Verbündeten, 'Steuerreformen'und Friedensbemühungen im Nahen Osten sowie die Infragestellung von Technologiemonopolen – auch wenn der Klimawandel zu kurz gekommen sei".
Wenn das alles ironisch gewesen sein sollte, würde das bedeuten, dass Döpfner im Grunde nur Trumps Klimapolitik gefallen hat, er die Friedensbemühungen im Nahen Osten und das Infragestellen von Technologiemonopolen ablehnt, und das ist ungefähr so unwahrscheinlich wie die Vermutung, dass Julian Reichelt in Wirklichkeit ein grünes Parteibuch haben könnte. Naheliegender ist der Verdacht, dass der Springer-Chef ahnt: Seine politischen Überzeugungen sind in Deutschland nicht salonfähig.
Was Döpfner in seiner E-Mail schreibt, passt exakt zu dem Verdacht, den er schon mit seiner im vergangenen Jahr öffentlich gewordenen SMS an Benjamin von Stuckrad-Barre geschürt hatte. Darin hatte er Deutschland als "DDR-Obrigkeitsstaat" beschrieben, wofür er sich später entschuldigte. Aber auch das tat er als ironische Bemerkung ab. Der Verdacht lautet: Mathias Döpfner hat möglicherweise ein sehr fragwürdiges Verständnis von Demokratie.
Altpapierkorb (RBB wählt Interimsleitung, Brief an NDR-Intendanten, Shirin Abu Akleh, Heiko Hilker, Serdar Somuncu, Iwan Safronow)
+++ Der RBB-Rundfunkrat wählt heute in einer geheimen Abstimmung eine Interimsleitung, berichtet unter anderem der Sender selbst. Die bislang einzige bekannte Kanditatin ist die hier gestern schon erwähnte WDR-Verwaltungsdirektorin Katrin Vernau. Die Freienvertretung hatte kritisiert, dass es nur eine Kandidatin gibt. Das berichtete ebenfalls der RBB. Außerdem kritisieren die Freien, es könne der Eindruck entstehen, "mit Frau Vernau werde eine Statthalterin des WDR eingesetzt", schreibt Georg Altrogge für die "Welt" (€).
+++ Michael Hanfeld fragt sich in seinem Text auf der FAZ-Medienseite (€) ebenfalls, warum Katrin Vernau die einzige Kandidatin ist, könnte ihrer Wahl aber durchaus etwas abgewinnen. Hanfeld: "In ihrer Eigenschaft als ARD-Vorsitzende wollte Schlesinger angeblich an für Gemeinschaftsaufgaben vorgesehene Positionen und an das Geld anderer ARD-Sender heran. Die Finanz- und Verwaltungschefs stieß sie damit massiv vor den Kopf. Insbesondere bei Katrin Vernau biss Schlesinger auf Granit. Würde Vernau nun zur Interimsintendantin des RBB gewählt, hätte das ganz besonderen – fachlichen und ARD-internen – Charme."
+++ Der RBB spielt als eine "der drei kleinsten Rundfunkanstalten ganz oben mit", schreibt der Branchendienst Meedia, allerdings in diesem Fall nur bei der Bezahlung von Führungskräften. Ende Juli habe es beim RBB mindestens 40 Arbeitsverträge mit außertariflichen Vergütungen gegeben. Beim HR, einer Anstalt vergleichbarer Größe, gebe gerade einmal vier Verträge dieser Art.
+++ Die ARD-Spitzen wussten seit Jahren über das RBB-Bonussystem Bescheid, berichtet das RBB-Investigativteam.
+++ Das unabhängige NDR-Rechercheteam hat herausgefunden, dass der Korruptionsverdacht gegen die Hamburger Landesfunkhauschefin Sabine Rossbach (Altpapier) offenbar schon seit fünf Jahren bekannt ist.
+++ Beschäftigte des NDR-Landesfunkhauses in Hamburg haben ein Schreiben an den NDR-Intendanten Joachim Knuth veröffentlicht, an dessen Anfang der Satz steht: "Wir können uns eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Sabrine Rossbach nicht mehr vorstellen". Das NDR-Rechercheteam hat bei Twitter einen Screenshot des Schreibens veröffentlicht.
+++ Es ist immer noch nicht geklärt, wer die palästinensisch-amerikanisch Reporterin Shirin Abu Akleh vor knapp vier Monaten im Westjordanland getötet hat (zuletzt hier im Altpapier). Sie starb durch einen Kopfschuss. Jetzt hat das israelische Militär erstmals eingeräumt, dass höchstwahrscheinlich ein israelischer Soldat die Kugel abgefeuert hat, berichtet Julio Segador für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres". Weitere Ermittlungen soll es allerdings nicht geben.
+++ Peter Stawowy hat nach den Enthüllungen beim RBB und beim NDR für sein Medienblog "Flurfunk" mit Heiko Hilker, dem Gründer und Inhaber des Dredner Instituts für Medien, Bildung und Beratung, kurz DIMBB, über die Situation beim MDR gesprochen.
+++ "Serdar Somuncu hat eine Sendung, in der er zwei Stunden lang monologisieren kann, ohne dass ihm jemand ins Wort fällt, und er nutzt sie, um mehrmals zu sagen, dass er nicht frei reden darf", schreibt Stefan Niggemeier in einem Beitrag für Übermedien, der den Titel trägt: "Serdar Somuncu kündigt 'künstlerischen Suizid' an (und hat damit vielleicht schon begonnen)".
+++ Der russische Journalist Iwan Safronow muss für 22 Jahre ins Straflager laut einem Moskauer Gericht wegen Hochverrats. Er soll Militärgeheimnisse veröffentlicht haben, doch Recherchen hätten gezeigt, dass die veröffentlichten Informationen schon öffentlich waren, sagt die Deutschlandfunk-Russlandexpertin Gesine Dornblüth im Gespräch mit Benedikt Schulz für "@mediasres". Sie rechnet damit, dass Russland Medien weiter einschränkt, vielleicht auch nach dem Vorbild von Belarus kriminalisiert.
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.
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