Das Altpapier am 2. September 2022 Blinde Flecke überall
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02. September 2022, 12:17 Uhr
Bedroht eine linke Ideologie die Demokratie? Zwei Spiegel-Autoren beantworten die Frage unterschiedlich. Julian Reichelt hat Probleme mit seiner Feststelltaste. Und eine Verlegerin offenbart, dass sie den Unterschied zwischen Journalismus und PR anscheinend nicht kennt. Ein Altpapier von Ralf Heimann.
Eine Debatte über das Ächten
Vor einer Woche hat René Pfister im "Spiegel" in einem fast 40.000 Zeichen langen Essay erklärt, warum linke Identitätspolitik seinem Eindruck nach "im Kern ein Angriff auf die Prinzipien des liberalen Rechtsstaats" sind. Er schrieb, er glaube, es sei "ein fataler Irrtum, den neuen Dogmatismus von links (…) zu verniedlichen". Und er schrieb:
"Meine These lautet: Linke Identitätspolitik schadet vor allem der politischen Mitte und dem aufgeklärten Lager. Sie hilft einem bestimmten politischen Milieu, sich seiner selbst und seiner höheren Moral zu vergewissern. Die Dogmen und Sprachregelungen in dieser Blase aber sind so rigide, dass sie auf eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler abstoßend wirken – unabhängig von Geschlecht und Hautfarbe."
Der Artikel trägt die Überschrift: "Ein falsches Wort".
In dieser Woche versucht Jonas Schaible ebenfalls im "Spiegel" auf weniger als 20.000 Zeichen zu erklären, warum es nicht stimmt, dass eine "Generation von Tugendterroristen" die Redefreiheit abgeschafft habe, und "warum wir den Begriff 'Cancel Culture' seiner Meinung nach canceln sollten.
Schaible schlägt vor, ihn durch das Wort "Ächtungskultur" zu ersetzen. Der Begriff beschreibe nicht nur ein Phänomen im linken Spektrum, denn:
"Übersehen wird (…), dass auch ökologische, linke oder radikal linke Positionen auf Widerstand stoßen und unterbunden werden sollen."
Das sei der erste von drei blinden Flecken, die Schaible identifiziert, also:
"Wenn man also von einer Ächtungskultur sprechen will, dann ist sie viel breiter als üblicherweise diskutiert (und von weit rechts sogar ungleich radikaler)."
Den zweiten blinden Fleck sieht Schaible in der "Verfallsbehauptung": "Man darf heute nichts mehr sagen." Man habe noch nie alles sagen dürfen, schreibt Schaible. Seine Gegenthese lautet:
"Es gab immer eine Ächtungskultur. Ungleiche Gesellschaften sind ohne sie nicht denkbar, aber auch eine egalitäre wehrhafte Demokratie ergibt ohne sie keinen Sinn."
Neu sei nicht, dass Aussagen soziale Folgen haben. Neu sei, "dass heute andere Aussagen soziale Folgen haben als früher". Und damit leitet Schaible über zum dritten blinden Fleck, den er in einem neuen "Raum des plötzlich Sagbaren" erkennt.
"Manche (Aussagen, Anm. Altpapier) geraten erstmals unter Rechtfertigungsdruck. Andere werden dagegen sagbar."
Auch dass der Meinungskorridor enger geworden sei, stimme so nicht. Eine zentrale Erklärung für diesen Eindruck – das schreibt Schaible nicht – könnte ein klassischer menschlicher Wahrnehmungsfehler sein, den der Psychologe Daniel Kahneman mit den Satz beschrieben hat: "What we see is all there is."
Menschen basteln sich eine Erklärung aus dem zusammen, was sie sehen können. Sie verzichten gern darauf, nach dem zu suchen, was nicht zu sehen ist. Sie erkennen also, dass gewisse Aussagen nicht mehr akzeptiert werden und schließen: Dann muss der Korridor wohl enger geworden sein. Allerdings, Schaible:
"Der Korridor dessen, was als legitime Meinung akzeptiert wird, ist in Wahrheit nicht enger geworden, sondern weiter. Aber er verläuft heute woanders als früher."
Die Erklärung für die Verschiebung sieht Schaible in der sich wandelnden und immer pluraler werdenden Gesellschaft, in der auch die Rechte und Belange von Minderheiten mehr zur Geltung kommen. Schaible:
"Pluralisierung bedeutet, dass Möglichkeiten wachsen, aber Selbstverständlichkeiten verschwinden."
Mit den verschwindenden Selbstverständlichkeiten verschiebt sich auch das, was als Norm empfunden wird. Und das führt laut Schaible zu Konflikten.
"Jeder Appell an Tradition, Religion und Kultur, jede Grillwerbung für Männer ist Identitätspolitik der Normalität. Erst als Identitätspolitik der Nichtnormalität nicht mehr zu übersehen war, wurde Identitätspolitik problematisiert."
Hinter dem Eindruck einer "Cancel Culture" steckt laut Schaible also
"keine unaufhörlich intoleranter werdende, sondern eine sich wandelnde, pluralisierende Gesellschaft, in der Dinge sagbar werden, die vorher unsagbar waren, und andere infrage gestellt werden, die immer als normal galten".
Dieses Infragestellen geschieht in dieser Erklärung durch Ächtung an bestimmten Stellen, und im gesellschaftlichen Kräftespiel versuchen andere Gruppen, das zu verhindern. Zum Beispiel:
"Eine radikale Rechte, die strategisch versucht, nur bestimmte Ächtungsakte immer wieder zu skandalisieren."
Reichelts wahnhafter Aktivismus
Was könnte damit gemeint sein? Schauen wir in die Twitter-Timeline von Julian Reichelt. Da steht zum Beispiel in einem Tweet vom Donnerstag ein Kommentar zu einer Aussage, die Außenministerin Annalena Baerbock gemacht hat. Reichelt schreibt:
"EGAL, WAS DIE DEUTSCHEN WÄHLER DENKEN! Das Wesen der Grünen in einem Satz."
Reichelt kommentiert damit einen Tweet der "Welt", die Baerbock mit dem Satz zitiert hatte, die deutsche Regierung stehe an der Seite der Ukraine, "egal, was die deutschen Wähler denken".
Dieser Satz passt wie ein dreieckiger Bauklotz in ein einem Motorikspiel für Zweijährige sehr schön in ein dreieckiges Denkmuster, in dem Linke, speziell Grüne sich im Sinne ihrer Ideologie über die Regeln von Demokratie und Meinungsfreiheit hinwegsetzen.
Möglicherweise war Reichelt nach seinem Tweet so intensiv mit der Reparatur seiner Feststelltaste beschäftigt, dass er keine Zeit fand zu überprüfen, ob dieser Satz wirklich so stimmt. Tatsächlich hatte Baerbock nämlich gesagt, "egal, was meine deutschen Wähler denken". Die "Welt" korrigierte das später und fügte nach einem Hinweis auch eine Korrekturmeldung hinzu.
An dieser Stelle lässt sich nebenbei auch der Unterschied zwischen Journalismus (korrigiert Fehler) und Julian Reichelts wahnhaftem Aktivismus (verbreitet auch Desinformation, wenn es den eigenen Zielen nützt) sehr schön veranschaulichen.
Die korrigierte Aussage von Baerbock klingt nun ganz anders, nämlich ungefähr so: Ich verzichte auf Populismus und bleibe bei meiner Haltung, auch wenn die Stimmung in den aktuellen Meinungsumfragen sich dreht.
Baerbocks Aussage wurde allerdings nicht nur durch die falsche Übersetzung verfälscht. Ein bei Twitter verbreitetes Video wurde auch so geschnitten, dass sich der Eindruck, der hier entstehen sollte, verstärkt.
"Um zu behaupten, sie interessiere das eigene Land nicht, wird dieser Satz weggeschnitten: 'Wir sind solidarisch mit allen in unserem Land wie auch in der Ukraine‘",
schreibt der Kommunikationsberater Johannes Hillje und belegt das mit einem Video.
Katharina Wolffs Wissenslücken
Im Juli ging es im Altpapier um ein gescheitertes Interview mit der "Strive"-Verlegerin Katharina Wolff, das Marvin Schade für sein Magazin "Medieninsider" geführt hatte. Wolff hatte das Interview hinterher so stark verändern wollen, dass Schade es nicht mehr veröffentlichen mochte. Darüber hatte er geschrieben. Jetzt hat Katharina Wolff sich bei einer Veranstaltung des Medienverbands der freien Presse dazu geäußert. Marvin Schade hat zwei Ausschnitte aus dem Gespräch mit ihr bei Twitter veröffentlicht.
Vor allem der erste Clip vermittelt den Eindruck, dass Katharina Wolff gar nicht richtig verstanden hat, dass Journalismus und PR überhaupt nicht das Gleiche sind. Sie räumt ein, sie sei keine Journalistin und erklärt dann aus ihrer Sicht, wie das mit den Interviews so läuft, auch in ihrem Magazin. Und wenn das tatsächlich so sein sollte, wie sie sagt, dann sieht das zumindest so aus, als wenn Katharina Wolff journalistische Magazine im Grunde nur als nützliche Multiplikatoren von Botschaften versteht, die Menschen oder Unternehmen eben so loswerden wollen.
Wenn man ein Interview zur Freigabe bekomme, sagt sie, "dann schreibt man dieses Interview so hin, dass es einem gefällt", und sie ergänzt: "Wir bekommen das übrigens von Konzernen nicht anders zurück." Der Journalist könne dann "gerne nachverhandeln". Und so funktioniert das in der Regel zwar tatsächlich. Es ist auch gängige Praxis, dass Unternehmen oder Personen versuchen, Interviews so stark zu verändern, dass sie auch im eigenen Firmenmagazin erscheinen könnten, und vor allem Medien, die unter Zeitdruck arbeiten, schlucken davon vieles. Aber Magazine, die Wert auf Qualität legen, lassen eben auch nicht alles mit sich machen.
In dem Gespräch erklärt Katharina Wolff, was aus ihrer Perspektive passiert ist. Sie sagt:
"Also es fing an mit drei Fragen zu Politik, Schlagersingen (sie ist früher als Sängerin aufgetreten, Anm. Altpapier), das ist einfach was, ich hab da überhaupt keine (…) Berührungsängste mit, aber das ist nicht mehr das Thema, worüber ich reden will. Das liegt lange in der Vergangenheit. Deswegen habe ich zum Beispiel die drei Fragen rausgestrichen."
Allein das offenbart ein erschreckend verkümmertes Verständnis von Journalismus. Die interviewte Person bestimmt, worüber gesprochen wird? Das ist dann zum Beispiel PR.
Es wäre alles kein Problem, wenn Katharina Wolff Supermärkte betreiben und so reden würde, denn aus Perspektive von Firmen ist es ja tatsächlich so: Sie geben Interviews, um ihre Botschaften zu verbreiten. Das könnten sie auch über ihre eigenen Kanäle machen, aber dann wäre es klar als Werbung zu erkennen.
Die Glaubwürdigkeit verleiht dem Gesagten das journalistische Medium, in dem es erscheint. Der Preis für Unternehmen ist, dass es die Kontrolle über die Fragen aus der Hand geben.
Eine Verlegerin, die es völlig in Ordnung findet, wenn Firmen das diktieren, was sie mitteilen wollen, die also auch hinnimmt, dass ganze Fragen gelöscht werden, erweckt den Eindruck, dass ihr Interesse gar nicht im Journalismus liegt, sondern dass es ihr einfach darum geht, in Kooperation mit Unternehmen Inhalte zu veröffentlichen, die man dann meinetwegen Journalismus nennt, um im beiderseitigen Einvernehmen damit Geld zu verdienen.
Dass Marvin Schade tatsächlich einfach das Anliegen haben könnte, Antworten auf seine Fragen zu bekommen, scheint Katharina Wolff überhaupt nicht in Erwägung zu ziehen. Sie sagt, sie habe auf Linkedin und anderen Kanälen nicht auf die Kritik geantwortet,
"weil das Ziel des Medieninsiders glaub ich einfach war, unsere Reichweite abzugreifen. Wir sind schon so absurd viel größer, deswegen haben wir das einfach nicht gemacht".
Katharina Wolff fehlt anscheinend ein Verständnis für journalistische Qualitätsansprüche. Das offenbar sie in dem zweiminütigen Ausschnitt auch noch an anderer Stelle, ganz am Ende. Da sagt sie:
"Irgendwo muss ich da einen emotionalen Punkt getroffen haben, weil irgendwie sind die danach ein bisschen durchgedreht."
Wenn ein journalistisch arbeitendes Magazin also zu dem Ergebnis kommt, hier soll uns ein PR-Artikel untergejubelt werden, diesen dann nicht veröffentlicht und die Gründe dafür transparent macht, dann ist das aus Perspektive von Katharina Wolff also anscheinend "ein bisschen durchdrehen".
Man muss befürchten, dass ihr möglichst daran gelegen ist, dass in der Redaktion ihres eigenen Magazins niemand in dieser Weise "durchdreht".
Altpapierkorb (Presseverlage klagen, Mediensteuerung in der Türkei, Karola Wille, Udo Foht, Maja Göpel, Roman Schell, RBB, Podcast-Empfehlung)
+++ 16 Presseverlage verklagen den SWR, weil ihnen die "junge Nachrichten-App" des Senders mit dem Namen "Newszone" zu presseähnlich ist, berichtet Boris Rosenkranz für "Übermedien" (€). Für solche Fälle hatte man eigentlich eine Schlichtungsstelle eingerichtet. Die sei aber bislang genau null Mal genutzt worden, schreibt Rosenkranz. Das soll sich bald ändern. Im Oktober wollen sich die Verlage mit Radio Bremen und dem MDR zusammensetzen, also dem Sender, bei dem unser Altpapier erscheint, um über die Inhalte zu sprechen, die ihnen zu textlastig sind. Oh je. Schnell weiter zur nächsten Meldung.
+++ Fahrettin Altun, Direktor von Recep Tayyip Erdoğans Kommunikationsdirektorat, hat am Mittwoch getwittert, es sei eine Auszeichnung von der Nachrichtenagentur Reuters angegriffen zu werden. Die Agentur sei bekannt als Fake-News-Redaktion und wolle der Türkei schaden. Darüber schreibt Thomas Avenarius auf der SZ-Medienseite. Reuters hatte berichtet, Altuns Behörde steuere die Mainstream-Medien bis ins Kleinste, mit Anrufen wie auch über Whatsapp. Und das kann man sich in der Türkei ja wirklich kaum vorstellen.
+++ Der MDR will überprüfen, ob die Dienstwagen seiner Führungsetage angemessen sind, schreibt Hagen Eichler für die Mitteldeutsche Zeitung. Das habe der Sender auf Anfrage der Zeitung angekündigt. Intendantin Karola Wille fahre den gleichen Wagen, den auch Patricia Schlesinger in der Garage hatte, einen Audi A8 für 145.000 Euro, schreibt Eichler. Ob der Wagen auch Massagesitze habe, habe der Sender nicht verraten wollen.
+++ Der Auftakt im Prozess gegen den früheren MDR-Manager Udo Foht, um den es hier gestern schon ging, ist heute noch einmal Thema auf den Medienenseiten von FAZ und der SZ.
+++ Die Nachhaltigkeitsforscherin Maja Göpel, die Anfang August im Altpapier vorkam, weil sie den Co-Autor ihres Buches "Unsere Welt neu denken" verschwiegen hatte (allerdings auf dessen Wunsch hin), hat dem DJV-Magazin "Journalist" ein Interview gegeben, in dem sie Medien einerseits lobt, speziell etwa Maik Meuser, der laut Göpel "fundierte, reportageorientierte Berichterstattung bei RTL macht, die ihm öffentlich-rechtlich offenbar nicht möglich war". Andererseits kritisiert sie, und das geht wohl vor allem in die Richtung von Boulevard-Medien: "Verstörend ist (…) der Opportunismus von Journalist*innen, die einerseits bereit sind, jede Nachricht entsprechend dem emotionalen Zustand der Gesellschaft zum Drama aufzublasen, es andererseits dann aber als Zumutung darstellen, analog zur Dramatisierung Konsequenzen zu ziehen."
+++ Der deutsch-russische Journalist Roman Schell ist in Russland verhaftet worden, als er über eine regierungskritische Kunstaktion berichteten wollte. Im Gespräch mit Sebastian Wellendorf für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" erzählt er, wie es dazu kam, was nach der Festnahme passiert und warum er immer einen "SOS-Rucksack" bei sich hat. Auf die Frage, ob er schon mal darüber nachgedacht habe, das den Journalismus sein zu lassen, sagt er: "Also, vor sechs Tagen war es so."
+++ Und dann noch eine Neuigkeit von der größten Skandalnudel unter den ARD-Anstalten, dem RBB. Der Sender hat bei der Planung des inzwischen gestoppten digitalen Medienshauses offenbar eine knappe halbe Million Euro an einen Berater gezahlt – und damit das möglich wurde, hat der RBB nach einer Recherche des RBB-Investigativteams anscheinend das Vergaberecht umkurvt. Hätte er den Anwalt direkt beschäftigt, wäre ab einer bestimmten Summe eine Ausschreibung nötig gewesen. Um das zu vermeiden, engagierte der Sender den Mann offenbar über den Umweg einer Kanzlei, für die er als Subunternehmer arbeitete, berichtet der RBB.
+++ Zum Schluss ein Hörtipp. Nils Minkmar und Nadia Zaboura sprechen in ihrem Medienpodcast "quoted" über das Debakel, das der inzwischen gestoppte SWR-Podcast "Sack Reis" angerichtet hat (Altpapier) und über die sich anschließenden Fragen: Was können Medien machen, um ohne größere Unfälle über komplexe Themen aus anderen Ländern zu berichten? Und wie gehen sie am besten damit um, wenn das schiefgeht?
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenenende.
Neues Altpapier gibt es am Montag.
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