Das Altpapier am 17. August 2022: Porträt der Altpapier-Autorin Annika Schneider
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Das Altpapier am 17. August 2022 Wie lange noch Schlesinger-Schlagzeilen?

17. August 2022, 10:31 Uhr

Wenn man den Twitter-Trends glaubt, ist das Interesse an der Schlesinger-Affäre gar nicht so groß. Ein echtes Top-Thema ist die Gasumlage – leider auch ein knifflig-komplexes. Ein Altpapier von Annika Schneider.

Ungewohnte Reichweite für Medienjournalismus

Es sind gute Zeiten für Medienjournalismus. Die Schlesinger-Debatte gibt Nischenthemen wie der Zusammensetzung der Rundfunkräte eine ungewohnte Reichweite. Wer sich mit den Niederungen des deutschen Rundfunksystems auskennt, bekommt gerade viele Anfragen – bis hin zu den ganz großen Formaten wie den Tagesthemen.

Völlig gerechtfertigt also, dass auch wir Altpapier-Autorinnen und -Autoren seit Tagen fast monothematisch über den Fall berichten. Außerhalb der Medienbubble stelle ich allerdings ein erstaunliches Desinteresse fest. Für viele Menschen scheint der Fall schon wieder abgehakt zu sein: Ja, Frau Schlesinger wird beschuldigt, Mist gebaut zu haben, das wird nun aufgeklärt, nächstes Thema. Ein Indiz dafür: Nicht einmal in der medienaffinen Twitter-Community landete das Thema diese Woche in den Top-Trends – weder als der Rundfunkrat die Absetzung von Schlesinger beschloss noch als gestern ein Ausschuss im Brandenburger Landtag tagte (vom rbb live übertragen).

Für Medien, die über Medien berichten, ist es trotzdem keine Option, das Thema kleiner zu fahren – schon allein deshalb, weil besonders die öffentlich-rechtlichen Medienredaktionen (wie auch das beim MDR angesiedelte Altpapier) ihre journalistische Unabhängigkeit unter Beweis stellen wollen und müssen. Das gilt im besonderen Maße für den rbb, auf dessen Nachrichtenportal der Schlesinger-Rücktritt sogar als eigenes Ressort geführt wird – noch vor Politik, Wirtschaft und Kultur. Gute und konstante Berichterstattung ist der einzige Weg, die Glaubwürdigkeit des Senders, der öffentlich-rechtlichen Anstalten generell und letztlich der gesamten Branche zu retten.

Aktuelle Erkenntnis dazu: Die Medienselbstkontrolle funktioniert bestens, nicht nur in diversen Rundfunkredaktionen, sondern auch bei den Kolleginnen und Kollegen der privaten Medien, die ebenfalls genau hinschauen. Denn natürlich gibt es nicht nur Menschen, denen das Thema ein bisschen egal ist ("Was hat das mit mir zu tun?"), sondern auch viel berechtigte Wut, die in Lesermails und Kommentaren in den Redaktionen aufschlägt.

Damit all die anderen wichtigen Medienthemen derweil nicht aus dem Blick geraten, heute zuerst ein Blick auf eine andere Debatte, die die Twitter-Nutzenden und vermutlich auch die meisten Menschen in Deutschland gerade sehr bewegt – Hashtag Gasumlage.

So teuer wird Ihre Gasrechnung

2,419 Cent – seit Montag wissen wir, dass das die Höhe der neuen Gasumlage sein soll. Was diese Zahl bedeutet, ist im Detail gar nicht so einfach zu erklären: Warum kann die Industrie selbst eine Umlage beschließen, die dann Bürgerinnen und Bürger zahlen müssen? Wer ist dieser Trading Hub Europe, kurz THE, der das festgelegt hat? Und warum wollen Konzerne wie RWE die Zusatzeinnahmen gar nicht? Die klassische journalistische Form, um ein komplexes Thema in den Griff zu bekommen, sind Frage-und-Antwort-Formate, also FAQ, von denen es in den vergangenen Tagen reichlich viele gab.

Ausgerechnet die Frage, die viele wohl am meisten interessiert, ließ sich dabei aber nur unzureichend beantworten. Sie lautet: Wie teuer wird es jetzt für mich? Die Antwort darauf versprachen zwar viele Medien (à la "So teuer wird der Winter"), seriöse Aussagen sind aber kaum möglich, weil der Verbrauch von so vielen Faktoren abhängt (Nutzerverhalten, Dämmung, Heizungsanlage…).

Viele Redaktionen beschränkten sich deswegen darauf, Musterwerte für Singles, Paare und Familien zu nennen, oft basierend auf Zahlen des Vergleichsportals Verivox (das zum Medienkonzern ProSiebenSat.1 gehört). Endgültige Antworten für die Leserinnen und Leser, womit sie im Winter rechnen müssen, kann naturgemäß keine Redaktion liefern, auch weil die Umlage ja nur ein Kostenfaktor ist – hinzu kommen die "normalen" Preissteigerungen.

Gut gelöst hat das die "Bild"-Zeitung. Sie verspricht auf dem Titel heute gewohnt großspurig "Die Wahrheit über ALLE Energiekosten" – auf Seite 2 finden sich drei übersichtliche Tabellen zu den Auswirkungen von den Preissteigerungen und der neuen Umlage auf Strom, Heizen mit Gas und Heizen mit Heizöl. Darin, hochkomplexe Themen runterzubrechen, macht den Boulevard-Kolleginnen und -Kollegen dann eben doch keiner was vor. Und auch wenn niemand die Preise von morgen kennt, bieten die Zahlen zumindest die Anhaltspunkte, nach denen Menschen gerade mehr oder weniger verzweifelt suchen. Dass die steigenden Gaspreise für viele höchste Relevanz haben, zeigen die Kommentare unter diesem "Zeit"-Text.

Viele Redaktionen scheinen keinen besonderen Ehrgeiz entwickelt zu haben, sich besondere Darstellungsformen zum Thema auszudenken, obwohl sich die Datenflut dafür vor allem im Digitalen geradezu anbietet. Nur bei der "Zeit" habe ich hinter der Paywall einen "interaktiven Rechner" gefunden, um Preissteigerungen zu kalkulieren – Hinweise auf weitere kreative Umsetzungen des Themas gerne an mich.

Zu den Lieblingsthemen von Journalistinnen und Journalisten scheint die Energiebranche ohnehin nicht zu gehören. Mein Altpapier-Kollege René Martens hat sich bei Übermedien schon vor drei Wochen mit der Gaskrisen-Berichterstattung beschäftigt und den ZDF-Energieexperten Hans Koberstein zitiert:

"Generell ist bei Energiethemen zu beobachten, dass das Grundlagenwissen bei den allermeisten Journalistinnen und Journalisten fehlt, was verständlich ist, weil das Thema kompliziert ist."

Viel rbb-Geld für Anwälte

Und damit noch einmal zurück zu dem Fall, der im Medienjournalismus gerade definitiv Lieblingsthema ist: In der Schlesinger-Affäre ist seit der gestrigen Altpapier-Ausgabe die Aufarbeitung weiter vorangekommen. Gestern befragte der Hauptausschuss des Brandenburger Landtags die rbb-Spitze.

"Die Abgeordneten hatten einen Berg an Fragen, und sie stellten sie in einer mehr als fünf Stunden langen Sondersitzung. Den Überblick zu behalten, über die Themenbereiche, um die es geht, um Dienstverträge, Dienstwagen, Aufsichtsgremien, Immobilienprojekte und Spesenabrechnungen, war wie auch in den letzten Wochen nicht einfach",

schreibt Aurelie von Blazekovic in der SZ (€). Eine gute Zusammenfassung der Sitzung und der bisherigen Ereignisse – auch für alle, die in den vergangenen Tagen nicht jede Wendung verfolgt haben – hat Anne Fromm für die taz verfasst.

Dass der rbb anscheinend keine Kosten und Mühen scheut, um nun für Aufklärung zu sorgen, ist im Fachmagazin Juve zu lesen, laut Eigenbeschreibung ein Nachrichtenportal "für wirtschaftsberatende Anwälte und Unternehmensjuristen". Dort sind die Anwälte gelistet, die der Sender beauftragt hat – 16 an der Zahl. Wie Benjamin Lassiwe im "Tagesspiegel" schreibt, war das bei der Ausschusssitzung ebenfalls Thema (auch wenn dort wohl von 17 Anwältinnen und Anwälten die Rede war):

"Bei branchenüblichen Honoraren würde das auf Kosten von mehr als 20.000 Euro am Tag und 100.000 Euro pro Woche hindeuten, sagte CDU-Fraktionschef Jan Redmann, der ebenso wie sein in der Sitzung zu Hochform auflaufender Kollege von BVB/Freie Wähler, Peter Vida, selbst Rechtsanwalt ist. Doch zu den genauen Kosten und der genauen Ausgestaltung des Untersuchungsauftrags wollte sich keiner der RBB-Vertreter im Hauptausschuss äußern."

Nachdem also jahrelang ein guter Teil der Kontrolle in den Händen von Ehrenamtlichen lag – die schon rein zeitlich an Grenzen stoßen, wie die aktuelle Verwaltungsratsvorsitzende Dorette König in der Ausschusssitzung erklärte –, soll nun gleich eine ganze Armada von Profis aufräumen. DWDL-Journalist Thomas Lückerath twitterte dazu gestern Nachmittag:

"Je mehr herauskommt, desto dringlicher ist es meiner Meinung nach, die Aufsicht und Kontrolle der öffentlich-rechtlichen Angebote in kompetente und effiziente Hände zu geben statt am Laientheater des Rundfunkrats-Konstrukts herumzudoktern."

Die rheinland-pfälzische SPD-Politikerin Heike Raab, die die Rundfunkpolitik der Länder koordiniert, sieht das im FAZ(€)-Interview ganz anders:

"Die Gremienmitglieder üben, nach meiner Erfahrung, ihre Kontrollrechte gut und verantwortungsbewusst aus."

Und weiter:

"Die Gremien sind bekanntlich ehrenamtlich tätig. Daraus kann man aber keine fehlende Kompetenz ableiten."

Raab zeigt sich überzeugt, dass der neue Medienstaatsvertrag die Gremien ausreichend stärken wird und das Thema nicht noch einmal aufgeschnürt werden muss, man höchstens noch einmal über die finanzielle Ausstattung der Gremienbüros reden müsse. Auch ansonsten bemüht sie sich sichtbar um Schadensbegrenzung:

"Man kann vom systematischen Fehlverhalten beim RBB nicht auf die anderen öffentlich-rechtlichen Sender schließen."

Sie ärgert sich allerdings sichtlich über die zusätzlichen Zahlungen, die es für die rbb-Spitze gegeben haben soll und die Interims-Intendant Hagen Brandstäter im Ausschuss keinesfalls als Boni verstanden wissen wollte. Blöd, dass das eigene Haus anderes berichtet:

"Nach Informationen des rbb-Rechercheteams bezahlte der rbb einer Beratungsfirma sogar eine fünfstellige Summe, um ein ausgeklügeltes Bonussystem zu entwickeln."

Wir sind mit den Enthüllungen also noch nicht fertig – das Schlesinger-Thema bleibt Ihnen, liebe Altpapier-Leserinnen und -Leser, auch in den kommenden Wochen erhalten.


Altpapierkorb

+++ Übermedien-Journalist Stefan Niggemeier hat seine Buntstifte rausgeholt und damit Pressemitteilungen des NDR-Verwaltungsrats bunt angemalt – ein großer Lesespaß, der gleichzeitig ein paar Fragwürdigkeiten in der Gremienkultur in den Öffentlich-Rechtlichen entlarvt. +++

+++ Der im Januar viel diskutierten Doku "Out in Church", in der queere Katholikinnen und Katholiken sich eindrucksvoll äußerten, hat die katholische Kirche jetzt selbst einen Preis verliehen: Die Deutsche Bischofskonferenz zeichnet die Co-Produktion von rbb, SWR und NDR mit dem Katholischen Medienpreis in der Kategorie Fernsehen aus. Klingt nur dann verwunderlich, wenn man nicht weiß, dass in der fünfköpfigen Jury kein einziger Kirchenfunktionär sitzt. Für die Protagonistinnen und Protagonisten der Doku ist es wohl eher ein Trostpreis angesichts fortbestehender Diskriminierung. +++

+++ "Die Polizei ist nicht neutral, sondern ein eigenständiger Akteur in der öffentlichen Meinungsbildung", kommentiert Markus Reuters bei netzpolitik.org und fordert, die Polizei nicht als privilegierte Quelle zu behandeln. Aktueller Anlass ist eine Demo von "Ende Gelände" am Wochenende in Berlin, der Text nennt eine Reihe weiterer Negativbeispiele aus der Vergangenheit. +++

Neues Altpapier gibt’s am Donnerstag.

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