Das Altpapier am 16. August 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
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Das Altpapier am 16. August 2022 Ein "Wir", das es so nicht mehr geben sollte

16. August 2022, 10:21 Uhr

Ex-RBB-Intendantin Patricia Schlesinger wurde in ihrer Anwesenheit offiziell abberufen. Der aktuell härteste Vorwurf lautet: "dumme Gier". Der neue ARD-Vorsitzende Tom Buhrow gibt ein Interview mit sage und schreibe 27 "Wir"s. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Überraschung: Schlesinger noch mal im RBB

Zwar zeigt sich die Meldungs- und Beiträgelage zur RBB-Krise und dem sich anbahnenden ARD- bis Öffentlich-Rechtlichen-Beben gewohnt unüberschaubar. Doch sorgt eine medienhistorisch einzigartige Zäsur zumindest chronologisch für Ordnung:

"Der rbb-Rundfunkrat hat am Montag die ehemalige Intendantin Schlesinger mit sofortiger Wirkung abberufen",

teilte der RBB selbst um 18.44 Uhr mit (und war damit nur vier Minuten bzw. eine Minute langsamer als bild.de bzw. faz.net jeweils per "Eilmeldung").

Vor der Rundfunkratssitzung hatte es vor dem traditionsreichen, rotgeklinkerten RBB-Sitz Demonstrationen gegeben, auf denen Mitarbeitende Papptafeln mit auch ziemlich einzigartigen Forderungen wie "Geld zurück ins Programm" hochhielten. Auf der nicht-öffentlichen Sitzung des Aufsichtsgremiums erschien "überraschend" ein Gast, wie der RBB im Bericht in seiner 19.30-Uhr-"Abendschau" wiederholt betonte. Die gewiss ikonisch werthaltige Szene, wie er diesen Gast, als er die Sitzung nach 40 Minuten wieder verließ, vorm Paternoster abfing, gestaltete der Sender inzwischen zu einem Kurzvideo mit bemerkenswerter Untermalungsmusik.

Soo überraschend war Patricia Schlesingers persönliche Teilnahme andererseits auch wieder nicht. Die "Süddeutsche" zitierte online bereits, während die Sitzung noch lief, aus dem vorab ge- bzw. verteilten "Redemanuskript":

"Ex-Intendantin Patricia Schlesinger hat sich am Montagnachmittag im Rundfunkrat des RBB zu einigen der gegen sie erhobenen Vorwürfen geäußert und sich bei den Mitarbeitern und bei dem Gremium entschuldigt. 'Ich habe manches übersehen, auch und gerade den Unmut der Mitarbeitenden. Das tut mir unendlich leid - professionell wie menschlich', sagte die 61-Jährige laut Redemanuskript, das der SZ vorliegt."

Der Manuskript-Zusammenfassung zufolge versuchte Schlesinger, ausgewählte der zahlreichen Vorwürfe gegen sie zu entkräften. So habe sie "Schreibtisch und Bücherregale von Vorgängerin Dagmar Reim übernommen", also sozusagen durchaus auch graue Energie in der Chefinetage weiter genutzt, anstatt nur alles umbauen zu lassen. Zu den "umstrittenen Abendessen auf Senderkosten" (RBB) habe sie laut "SZ" mitgeteilt:

"Zu der Einladung am 12. Februar, an die sich einige Gäste als rein private Veranstaltung erinnern, sagte Schlesinger, diese hätten einige Gäste 'natürlich' nicht als offizielles Format wahrgenommen. Man habe sich dort unter anderem über die Protestbewegung Extinction Rebellion ausgetauscht und über Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung; es sei ihr darum gegangen, dem RBB als Intendantin ein Gesicht zu geben und ihn präsenter in der Gesellschaft zu machen."'

Das vermeintliche Spitzen der Gesellschaft nach Salonkomödien-Sitte mit der Gesellschaft synonym gesetzt werden, und die Kosten des Plauderns über Umweltaktivisten tatsächlich gesamtgesellschaftlich, von allen Beitragszahlern getragen wurden, dürften sich die schärfereren Gegner des öffentlich-rechtlichen Systems noch lange auf den Zungen zergehen lassen. Springers "Welt" nennt Schlesingers Argumente "bizarr" und "grotesk".

Auch nach Verkündung des wichtigsten Ergebnisses tagte der Rat weiter, so dass erst um 21.00 Uhr diese Mitteilung veröffentlicht wurde. An der um 23.13 Uhr veröffentlichten RBB-Meldung zur RBB-Rundfunkrats-Mitteilung wird als "Schlesingers Anwalt" Ralf Höcker genannt, der nicht zuletzt dafür bekannt ist, auch "viele Kunden in der rechten Szene" zu haben ("Handelsblatt" 2020).

Vormittagsaktuell wird über Schlesinger weiterdebattiert, nun unmittelbar medienöffentlich: Wenn Brandenburgs Landtag sich wieder mit dem Fall befasst, überträgt der RBB die Neuauflage der Juli-Sitzung, in der außer der damals noch vollumfänglich amtierenden Intendantin auch die Vorsitzenden von Verwaltungs- und Rundfunkrat durch Abwesenheit geglänzt hatten (Altpapier) live im Netz und in seinem Fernsehprogramm.

"Erfolgreiche Frau"? "Dumme Gier"?

Es gäbe jede Menge mehr Schlesinger-RBB-Stoff, außer zum Lesen auch zum ausgiebigen Sehen und Hören, nur z.B. eine knapp zweistündige "Jung und Naiv"-Ausgabe mit Tilo Jung und oft interviewten Gästen. Kürzer, zumal in der Kernfassung, ist die jüngste Folge des RBB-"Medienmagazins" vom Wochenende, die mit "Business Insider"-Chefredakteur Kayhan Özgenç als Gast dem Eindruck entgegen wirkt, dass RBB und ARD bei aller kritischen Aufarbeitung die eigentlichen Investigatoren lieber doch nicht befragen; am Anfang ist Schlesinger mit einem älteren Frank-Zappa-Zitat ("A Mind is like a Parachute") zu hören. Noch kompakter ist das neueste Audiointerview des jetzt wirklich oft befragten Leonard Novy im Deutschlandfunk. Da nennt er den Schlesinger-Fall "in mehrfacher Hinsicht eine tragische Geschichte".

"Sie war eine erfolgreiche Frau. Patricia Schlesinger hat in ihrem Leben viel erreicht ...",

beginnt der am Freitag hier erwähnte, inzwischen online verfügbare "epd medien"-Überblicksartikel (Stand also: Mitte vergangener Woche). Als lange Zeit karriere-erfolgreiche Managerin war Schlesinger sicher auch klug (und ob diese Klugheit weit oben in der steilen Hierarchie dann entschwunden ist, wäre eine Anschlussfrage; inzwischen lässt sich jedenfalls außer von "kleinlicher" auch von "dummer Gier" schreiben, wie es Ulrike Herrmann heute in der "taz" tut).

Vermutlich war Schlesinger aber klug genug, um beim RBB (der als kleiner Hauptstadtsender ja auch überregional nie besonders beliebt war oder im Ruf stand, besonders gut, innovativ oder erfolgreich zu sein) unter ihrer Leitung keine Regeln einzuführen, für die es dort und anderswo im ARD-Verbund überhaupt keine Beispiele gegeben hatte.

Dass die Anti-Korruptionsbeauftragte des NDR inzwischen Verträge zu einem Nazizeit-Dokudrama aus der Zeit, als Schlesinger bei ihm wirkte, wegen Beteiligung des Schlesinger-Gatten Gerhard Spörl am Drehbuch durchleuchtet, zeugt vor allem von Schlesinger-Fixierung (uebermedien.de).

Und auch wenn Kommentare à la "Das System muss durchleuchtet werden" ("Tagesspiegel") und Artikel  à la "Der RBB ist kein Einzelfall" ("Welt" vor einer Woche ohne seehr viel Stoff) noch nicht sehr häufig erscheinen: Die Anstalten wären gut beraten, eigeninitiativ bei sich selbst nach solchen Gepflogenheiten zu suchen, die im Licht des Schlesinger-RBB-Falls Kritik verdienen, auch wenn ihre Führungskräfte sie vielleicht noch für so normal halten, wie Schlesinger und ihre Umgebung es ja auch lange taten. Und sie das selber zu thematisieren, bevor es andere tun.

Tom Buhrow weiß, was die Gremien bräuchten

Der neue alte ARD-Vorsitzende, WDR-Intendant Tom Buhrow, äußert sich natürlich bereits. Zum Wochenende gab er der dpa ein Interview (Wortlaut bei der "Westdeutschen Zeitung", Zusammenfassung z.B. bei digitalfernsehen.de).

Und während das "Wir in der ARD sind fassungslos"-Zitat, das die neue, Kölner ARD-Pressestelle für sog. soz. Medien als Quotecard gestaltete, einleuchtet und von Buhrows Routine und/oder seiner hochwertigen Beratung zeugt, wirft ein anderes "Wir" im selben, sehr "Wir"-haltigen Interview, Fragen auf.

"Wir überprüfen, ob überall in der ARD die Geschäftsstellen der Aufsicht adäquat ausgestattet sind",

sagt Buhrow unter anderem. Vermutlich meint er mit allen 27 "Wir"-Formulierungen die ganze ARD, halt die "tausende Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die jeden Tag gute Arbeit machen", von denen auch die Quotecard kündet. Bloß werden die tausende ja nicht die Aufsichts-Geschäftsstellen-Ausstattung überprüfen. Dieses eine "Wir" hätte Buhrow sich wohl besser gespart. Schon weil seine Vorgängerin als ARD-Vorsitzende, Patricia Schlesinger, den Satz zweifellos ganz genau so formuliert hätte.

Schließlich haben die Rundfunkräte hunderte Mitglieder, von denen einige sehr engagiert und kompetent sind und sich selber dazu äußern könnten, was die Aufsichtsgremien bräuchten, um in ihrem aktuellen, ehrenamtlichen Zustand ihre Kontroll-Aufgaben weniger schlecht als beim RBB zu erfüllen. Idealerweise gibt es sogar unterschiedliche Ansichten dazu. Etwas Kontroverse könnte die von den Bundesländer-Regierungen gewünschte Sicht befördern, dass die Gremien zu "Parlamenten der Anstalten" werden sollen. Auch wenn Buhrow auf die im Vergleich bessere Ausstattung der Gremien seines WDR abhebt: Dass der ARD-Vorsitzende für diejenigen spricht, die seinen Anstaltenverbund und ihn kontrollieren sollten, könnte man mit Wohlwollen paternalistisch nennen. Wie auch immer die künftige Kontrolle der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten aussehen wird: Genau so ein "Wir", das von der Allgemeinheit bestens bezahlte Sendermanager und ihre einzig befugten Kontrollorgane rhetorisch floskelhaft in eins setzt, darf es künftig nicht mehr geben – so schade das für manche Kirchenvertreterinnen oder Verbandsfunktionäre in den Gremien auch sein mag.


Altpapierkorb (Kritik am EU-Internet-"Grundgesetz", an Gesichter-Suchmaschine, an SWR-Podcast, an Claudia Roth; Furtwängler/ Burda; Massagesitze)

+++ Die EU macht, wenn überhaupt, dann einen dysfunktionalen Eindruck. Ob ihre neuen Digitalgesetze, der "Digital Markets" und der "Digital Services Act", etwas verbessern oder gerade nicht, lässt sich kaum vorhersehen. Unter der Überschrift "Die große Mogelpackung" (€) argumentiert der Zürcher Kommunikationswissenschaftler Otfried Jarren auf der "FAZ"-Medienseite scharf, dass sie schon deswegen nicht zum angestrebten "'Grundgesetz' fürs Internet" werden können, weil der EU "eine eigene digitale Medienstruktur" fehlt: "Es bedarf einer Debatte, wie auf der Stufe der EU und der Nationalstaaten digitale Medien- und Kommunikationsinfrastrukturen etabliert werden können. Der abstrakte Ruf nach digitaler Souveränität reicht nicht. Es geht darum, robuste digitale Medien- und Kommunikationssysteme aufzubauen. Kommunikationsregulierung ist wichtig, wesentlicher aber ist, ein gemeinsames Forschungs- und Entwicklungsvorhaben für demokratische digitale Medien- und Kommunikationssysteme ins Auge zu fassen." So eine Herausforderung wäre eigentlich wie gemacht für öffentlich-rechtliche Medien – wenn die nicht in immer noch mehr andere, rückwärts gewandte Probleme verstrickt wären. +++

+++ Als "Suchmaschine, die per Design die Anonymität von Menschen untergräbt und damit offen zu Missbrauch, Stalking und Gewalt einlädt", bezeichnet Chris Köver bei netzpolitik.org die einst polnische, nun vom Georgier Giorgi Gobronidze wohl von den Seychellen aus betriebene Gesichter-Suchmaschine Pimeyes. +++

+++ Neue Kritik (nach vorangegangener; Altpapier) am SWR, und zwar erneut am Podcast "Sack Reis" bzw. der neuen "Sonderfolge" mit ihr, äußert die Journalistin Melina Borčak auf Twitter. SWR-Intendant Kai Gniffke soll ja 2023 den ARD-Vorsitz übernehmen. +++

+++ Bei uebermedien.de ist Redaktionsleiter Frederik von Castell ist zwar so was von überhaupt nicht einverstanden mit Kritik Marc Felix Serraos von der "Neuen Zürcher Zeitung" an Millionenförderung zur "strukturellen Stärkung des Journalismus" durch die deutsche Staatsministerin für Kultur und Medien. Am Ende des ausführlichen Artikels gelangt er aber doch zum Schluss, dass "Prozess und die Kommunikation der Entscheidung ... tatsächlich mangelhaft" waren und Claudia Roth der guten Sache "einen Bärendienst erwiesen" habe. +++

+++ "Eines der prominentesten Paare", "Deutschlands Vorzeigepaar", Maria "Inga Lindholm" Furtwängler und Hubert "Bunte"/"Focus" Burda, haben sich getrennt. +++

+++ Wer oben zum Buhrow-Interview klickte, sah, dass es darin früh um die heikle Massagesitze-Frage ging und der WDR-Intendant auf die Frage, ob in seinen Dienstwagen welche eingebaut sind, "Ich muss sagen, leider ja", antwortet. +++ Wobei Harry Nutt für die "Berliner Zeitung" herausfand, dass es bei Massagesitzen zwar "erhebliche Komfortunterschiede" gebe, sie aber "längst auch in Kleinwagen" verfügbar sind. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

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