Das Altpapier am 12. August 2022 Routine und Pathos
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12. August 2022, 09:43 Uhr
Im RBB-Skandal ermittelt nun die Generalstaatsanwaltschaft, während in der medialen Debatte die einen ihre Grundsatzkritik abspulen und die anderen den Wert der Öffentlich-Rechtlichen beschwören. Geht es um alles – oder täte es auch eine Debatte über eine Gremienreform? Ein Altpapier von Klaus Raab.
Die Frage ist korrekt
Urlaub ist, wenn man sich ein paar Tage lang nicht ständig mit dem aktuellen Geschehen beschäftigt. Es ist einem nicht so wichtig, wer gerade ein reaktantes Think Piece veröffentlicht hat, weil es mit einiger Wahrscheinlichkeit ohnehin zurecht vergessen sein wird, bis man wieder am Schreibtisch sitzt. Im Urlaub gilt die sehr vernünftige Regel: Was in einem Jahr nicht mehr wichtig ist, dafür mache ich doch jetzt nicht den Computer an.
Aber dann sind da die Nachrichten vom Rücktritt der ARD-Vorsitzenden und schließlich auch der RBB-Intendantin Patricia Schlesinger, die man natürlich doch mitkriegt, weil der Takt, in dem sie eintrudeln, hoch genug dafür ist. Und die vernünftigen Menschen, denen man im Urlaub begegnet, die in ihrem Alltag Medien lediglich nutzen, ohne die ganze Zeit versuchen zu wollen, sie auch zu verstehen, stellen Fragen wie: "Sag mal, merkt diese Schlesinger eigentlich noch was?" Was soll man darauf erwidern? Vielleicht: "Die Frage ist tendenziell korrekt"?
Das "Versagen der Aufsicht"
Christian Bartels am Dienstag und Mittwoch und Ralf Heimann am Donnerstag haben in ihren Altpapier-Kolumnen einen guten Überblick darüber gegeben, wer in der Berichterstattung über den Fall Schlesinger/RBB an welchen Schräubchen dreht und wer sich wie positioniert.
Wer bislang nicht jedes Fitzelchen der Berichterstattung verfolgt hat, für die oder den bietet aber auch die neue Ausgabe von "epd Medien" eine gute Zusammenfassung. Wochenpublikationen wie "epd Medien" haben in der Berichterstattung über Ereignisse, zu denen viele tages- und stundenaktuelle Medien fortlaufend veröffentlichen, den Vorteil, dass sie ausgeruhter gewichten und das wirklich Relevante vom Hochgejazzten unterscheiden können. Eine Zusammenfassung des bisherigen Recherche- und Aufklärungsgeschehens sind bereits die Zwischentitel von Diemut Roethers Text. Sie lauten:
- Interne Untersuchung
- Ermittlungen der Staatsanwaltschaft
- Wut und Fassungslosigkeit
- Einweihung der neuen Wohnung
- Späte Reaktion
- Gremien stärken
Die jüngste Nachricht vom Donnerstag, dass nun die Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen übernimmt, was, so der "Tagesspiegel", der der RBB-Beobachtung aus naheliegenden Gründen besonders verpflichtet ist (und auch andere), "mit der besonderen Bedeutung der Sache begründet" werde, ist in Roethers Überblick noch nicht enthalten. Aber nächste Woche erscheinen die Wochenpublikationen ja wieder.
Die Frage über die livetickerhafte Berichterstattung hinaus ist freilich, was von der Schlesinger-Geschichte in einem Jahr noch bleibt. Auf die Frage allein, ob Patricia Schlesinger "noch was merkt", wird es wohl nicht hinauslaufen. Die Frage ist eher, ob der "Fall Schlesinger" dann ein "Fall ÖRR" geblieben sein wird, der als stellvertretend für das Große Ganze, für das öffentlich-rechtliche System wahrgenommen und natürlich auch benutzt wird. Anzunehmen ist das schon, denn der Fall bietet, wie der "Tagesspiegel" vor einigen Tagen schon schrieb, ein "Riesenarsenal an Argumenten für Gegner".
Auch Diemut Roether bewertet den Schaden im Aufmachertext "Filz und Vorteil" von epd Medien als groß:
"Viel größer als der materiellen Schaden für den RBB ist (…) der Image-Schaden für das öffentlich-rechtliche System, dem Schlesinger doch 'mit aller Kraft zur Verfügung stehen' wollte. Für die Gegner dieses Systems sind die Schlagzeilen von der 'hemmungslosen Luxusgier' der 'unersättlichen RBB-Chefin' natürlich ein gefundenes Fressen."
Wobei das "unersättlich"-Zitat freilich aus Springers "B.Z." und die Einschätzung "hemmungslose Luxus-Gier" aus Springers "Bild" stammt. Dieses Fressen haben sich Gegner dieses Systems also selbst zubereitet, könnte man sagen; schließlich zählt zu den Gegnern, so Roether, "auch das Unternehmen Axel Springer".
Das soll nun keine Relativierung sein: Der "Fall Schlesinger" ist keine Medienkonstruktion. Dass er aber, wie Roether prophezeit, zum Anlass genommen wird, "einmal mehr die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Systems in toto zu fordern", sagt im Zweifel so viel über die Fordernden wie über den Fall.
Mit den Worten Stefan Niggemeiers bei "Übermedien":
"Man kann so einen Skandal auf zwei Arten nutzen. Entweder man schaut, was man aus ihm lernen kann, damit das System besser wird – weniger anfällig für Filz, Machtmissbrauch, Selbstbereicherung. Oder man nutzt ihn als Anlass, das System zu schwächen und möglichst ganz abzuschaffen. Viele Kommentatoren haben sich für die zweite Variante entschieden, und ihre Reaktionen dominieren schon deshalb die Berichterstattung, weil sie besonders laut sind."
Niggemeier beklagt eine "Routine der Kritik" jener, die jetzt nur sagen würden, was sie eh immer sagen; die jetzt "Öl eimerweise ins Feuer" schütten": Ihnen gehe es
"jetzt nicht darum, die richtigen Konsequenzen aus dem aktuellen Skandal zu ziehen, etwa: die internen Aufsichtsabteilungen und die externen Aufsichtsgremien zu stärken, die Regeln zu verschärfen oder Gehälter nachvollziehbar an den Öffentlichen Dienst zu koppeln. Es geht der 'Bild'-Zeitung und ihren politischen und publizistischen Verbündeten darum, die öffentlich-rechtliche Konkurrenz insgesamt loszuwerden."
Während andere, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verteidigen, ihre Bekenntnisse auch mit einer "dicken Schicht Pathos" auspolstern, so Niggemeier – was ebenfalls auf die Es-geht-ums-Große-und-Ganze-haftigkeit der Berichterstattung hindeute; er nennt hier Giovanni di Lorenzos Kommentar in der "Zeit".
Dass es, statt um große Thesen pro und contra ÖRR insgesamt, auch noch stärker um die Stärkung – oder Reformierung – der Gremien gehen könnte, das könnte auch Wolfgang Michal in seinem Kommentar im "Freitag" geschrieben haben, hätte er an das folgende Zitat noch einen weiteren Satz angehängt:
"(D)as öffentlich-rechtliche System, als dessen 'zutiefst überzeugte Anhängerin' sich Patricia Schlesinger gibt, fault von innen heraus. Sein Kernstück, der Rundfunkrat, funktioniert nicht, weil sich dort nur die übliche Funktionselitenschicht 'des Systems' versammelt."
Das Kernstück, so könnte man das deuten, müsste demnach verändert werden. Die Gremienfrage erscheint insgesamt deshalb als eine entscheidende. Auch Diemut Roether schreibt: "Was beim RBB-Skandal erschreckt, ist das Versagen der Aufsicht." Und sie zitiert eine Äußerung von Leonard Novy vom Institut für Medienpolitik (aus einer epd-Meldung, die hier am Mittwoch bereits aufgegriffen worden war), derzufolge sich "ausnahmsweise mal vor den Augen einer breiteren Öffentlichkeit" zeige, welche "strukturellen Probleme der Gremienaufsicht" es gebe – etwa "mangelnde Professionalität" und "Ämterhäufung".
Eine andere Besetzung der Gremien, wie sie zuletzt nach einer Veröffentlichung der "Neuen Deutschen Medienmacher*innen" gefordert wurde (Altpapier), "könnte auch dazu beitragen, dass eine Gremienmitgliedschaft nicht als Erbhof betrachtet wird oder als Gelegenheit zu Geschäften auf Gegenseitigkeit ausgenutzt wird", so Roether.
Und Steffen Grimberg, der als Medienjournalist auch hier bei MDR MEDIEN360G arbeitet, fordert in der "taz" eine Art Publikumsrat:
"Die Lösung könnte in einer Art dualem System liegen. Viel kleinere Expert*innen-Gremien übernehmen die konkrete Kontrolle und finanzielle Freigaben mit entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten auf der einen Seite. Sie dürften so mehr als die heutigen Verwaltungsräte. Dazu kommt ein noch breiter aufgestelltes Gremium als die Rundfunkräte, das tatsächlich das Publikum vertritt und in Sachen Programm mitredet."
Vorschläge also gibt es. Was in einem Jahr, wenn man den aktuellen Skandal zwar noch zitieren, aber wahrscheinlich nicht mehr weiterschreiben kann, von ihnen geblieben sein wird, das wird man wohl abwarten müssen.
Zweifel am "Masternarrativ" der Polarisierung…
Auch ein Urlaubseffekt: Man liest sich nach und nach durch Texte, die liegen geblieben sind. In meinem Fall war ein "Merkur"-Beitrag des Soziologen Steffen Mau darunter, der eigentlich schon im Februar erschienen ist, aber online erst kürzlich größere Verbreitung erfuhr. Mau befasst sich darin mit der Polarisierung der Gesellschaft: "Die Diagnose der gesellschaftlichen Polarisierung ist zu etwas wie dem Masternarrativ sozialer Wandlungsprozesse geworden", schreibt er. "In dem Bild der Polarisierung ist die Gesellschaft in zwei Lager aufgeteilt, die nun mit widerstreitenden Interessen und Orientierungen als Gegensatzpaar aufeinandertreffen."
Allein, Mau glaubt nicht an die Richtigkeit des Bildes, weil es – und das ist doch ein ziemlich guter Grund – keine Daten gibt, die es klar belegen würden.
"Ein soziales Schisma ist vor allem dort zu finden, wo politische Unternehmer, Massenmedien und Parteien Konfliktthemen besonders stark bespielen und akzentuieren – 'Lager' mit konsistenten politischen Glaubenssystemen werden politisch und medial hergestellt. (…) Dass uns die Beschreibungsbilder einer gespaltenen Gesellschaft dann oft selbst so plausibel vorkommen, hat womöglich auch damit zu tun, dass wir die fortwährende Inszenierung der Konflikte als Abbild realer Meinungslandschaften missverstehen",
schreibt er. Ein lesenswerter Text. Wenn gängige, sich selbständig machende Narrative, hinterfragt werden, ist das häufig lesenswert. Und sei es nur, deshalb weil es zum Nachdenken anregt.
… und an Affektbestätigungseffekten
Zum Nachdenken anregen – das ist genau das, was der Schriftsteller und Publizist Ilja Trojanow in einer "taz"-Kolumne für sich beansprucht, nachdem er einen der viel diskutierten Offenen Briefe unterschrieben hat. Einen Brief, der ihren Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern nicht nur viele Gegenargumente und Diskussionseinladungen, sondern auch viele Beschimpfungen eingebracht hat (Altpapier) – was man als ein Phänomen sozialmedialer Affektbestätigung betrachten kann, die aber schon auch in die Redaktionen überschwappte.
Trojanow schreibt:
"Fast keine der unzähligen Reaktionen ging ernsthaft auf die Argumente ein. Stattdessen falsche Wiedergabe, emotionalisierte Hetze und deftige Diffamierung. Die meisten Artikel fassten den offenen Brief nicht einmal wahrheitsgemäß zusammen, sondern verfälschten ihn zu einer Karikatur. Gelegentlich wurde das genaue Gegenteil von dem kolportiert, was im Originaltext gefordert wird. Zum Beispiel: 'Verhandlungen bedeuten nicht, der Ukraine eine Kapitulation zu diktieren.' Daraus bastelten einige Kommentatoren die Behauptung, die Unterzeichnerinnen würden die Ukraine zur Kapitulation auffordern."
Nachdenken darüber könnte man ja mal.
Altpapierkorb (Aktivismus, Ralf Schuler, Medienunterricht)
+++ Zur Debatte über Journalismus / Aktivismus gibt es einen kurzen zusammenfassenden Text beim "European Journalism Observatory" über eine Arbeit der Kommunikationswissenschaftler Michael Brüggemann und Torsten Schäfer: "Brüggemann wünscht sich 'bescheidene Weltverbesserung' bei allen Berufsgruppen und damit auch bei Journalisten und Journalistinnen."
+++ Dass Parlamentsbüroleiter Ralf Schuler "Bild" verlasse, wusste der "Medieninsider" zuerst und analysiert nun den "Streit hinter den Kulissen".
+++ Als ich kürzlich zum Medienunterricht in einer Berliner Schule zu Besuch war, wollte ein Schüler wissen, warum Journalisten so krass übertreiben und falsches Zeug schreiben. Tun sie das?, wollte ich erst fragen. Aber ich kenne die Antwort. Sie lautet "nein", aber sie lautet natürlich auch "ja"! Erst am Tag zuvor hatte ich einen Beitrag der Mats Schönauer bei "Übermedien" gelesen. Darin ging es um Illustrierte, in denen krass übertriebenes und falsches Zeug steht. Regelmäßig. Welche Geschichte verbarg sich ihnen zufolge etwa hinter der Titelseiten-Schlagzeile "Helene Fischer: Drama um ihre Eltern! Am See spielen sich furchtbare Szenen ab"? Tatsächlich: Die Eltern wohnen an einem See. Dort dort gibt es Mücken, und die nerven ziemlich.
Neues Altpapier erscheint am Montag.
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