Das Altpapier am 8. August 2022: Porträt der Altpapier-Autorin Jenni Zylka
Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Das Altpapier am 8. August 2022 Hard Times for Sender

08. August 2022, 08:54 Uhr

Der ÖRR soll sich in Sachen Gendersprache erklären, fordern die einen. Die anderen fragen sich, wer da so wacker am Massagestuhl sägt. Ein Altpapier von Jenni Zylka.

Ideologische Ideologiefreiheit

Es flackern zwar heiße Neuigkeiten in Sachen RBB-Massagesessel über die Ticker, dazu aber, mit Verlaub, später mehr, denn: Jippie!! Endlich gibt es wieder Neues zu meinem Lieblingsthema!! Dabei hatte ich fast den Eindruck gewonnen, die Debatte um das Gendern sei angesichts anderer Themen und der sich normalerweise immer nur über eine einzige Sache richtig aufregenden Gesellschaft in letzter Zeit etwas gedämpfter geführt worden. Dieser Aufruf von zunächst 80, mittlerweile 214 deutschen Sprachwissenschaftlern (dieses Altpapier hatte schon drauf hingewiesen), unter denen sich grob gezählt etwa ein Drittel Wissenschaftlerinnen befinden, die selbstverständlich mit der Überschrift "Wissenschaftler kritisieren Genderpraxis des ÖRR" mehr als d'accord sind und über die Frage nach dem "mitgemeint sein" nicht mal den schmalsten Teil ihrer Augenbraue hochziehen, hat aber dann doch kräftig Fahrt aufgenommen, und ist auch in der Schweiz angekommen. Die NZZ schreibt:

"So gesehen ist der Aufruf von rund siebzig deutschen Sprachwissenschaftlern, in dem sie den Befürwortern der Gendersprache letzte Woche vorhielten, gegen die Rechtschreibung zu verstossen, zumindest verständlich, auch wenn die Unterzeichner längst nicht so 'ideologiefrei' sind, wie sie sich geben: In ihrer Bevorzugung des generischen Maskulinums gehören sie eher dem konservativen Lager an; über mögliche Kompromisse wie die Formulierung 'Lokführerinnen und Lokführer', die ebenfalls regelkonform wäre, denken sie in ihrem Papier nicht nach."

Die Sender, die von den Sprachwissenschaftlern aufgefordert werden, diesem "ideologisch motivierten" Thema endlich ein Ende zu setzen und gefälligst geltende Rechtschreibnormen zu beachten, haben es aber auch nicht leicht, wie die NZZ weiter schreibt:

"Wer in einer Angelegenheit, die für viele auf beiden Seiten der Barrikade nicht weniger als eine Glaubensfrage darstellt, flächendeckend verbindliche Regeln festsetzen würde, dürfte bald selbst als Partei im Kulturkampf betrachtet werden. So befinden sich die Sender in einer Lage, in der sie es niemandem recht machen können."

Binnenpluralismus

Auch einen Zusammenhang zur durch Frau Schlesingers teure Spendierhosen verstärkten ÖRR-Krise (wer die neuen Vorwürfe uuuuunbedingt jetzt schon lesen will: der Business Insider beschreibt sie hier und der Tagesspiegel hier) und der Abschaffung der Rundfunkgebühren in Frankreich stellt die NZZ her – Hard Times for Sender, könnte man in Abwandlung von Judy Collins‘ "Hard Times for Lovers" sagen, wenn es nicht so verdammt cheesy wäre. Die NZZ konkludiert jedenfalls mit dem wichtigen Wort "Binnenpluralismus" (immerhin nicht B:innenpluralismus, harhar):

"Am Ende gibt es für die Sender wohl nur einen Ausweg aus der Genderfalle: Sie müssen tun, was private Medien eben nicht zwingend tun müssen, nämlich Binnenpluralismus zulassen. Erfahrung damit haben sie ja: Es gab einmal Zeiten, in denen der Bayerische Rundfunk die Christlichsozialen protegierte, während der Westdeutsche Rundfunk als SPD-nah galt. Wer allerdings jüngere Moderatoren des Münchner Senders gendern hört, fragt sich, ob es für so viel Diversität auf längere Sicht noch genügend Konservative in den Anstalten gibt."

Ruheständler:innen

Und das ist ein wichtiger letzter Satz, denn ich greise ideologische Emanze darf natürlich keinesfalls ageistisch argumentieren, dann würde ich mir ja ins eigene welke Fleisch schneiden, aber es ist schon interessant, diesen Aufruf ein bisschen mit Statistiken zu streicheln. Das Durchschnittsalter der Unterzeichner:innen (ha!!) scheint sich nämlich auf wundersame Weise mit dem der ÖRR-Zuschauer:innen zu decken (ha!! ha!! bei jedem Gender-Doppelpunkt puste ich kleine Pfeilgiftfroschpfeile!), bei einer nicht unerheblichen Menge klebt ein "i.R." hinter den beeindruckenden akademischen Titeln. Das hat gewiss auch etwas damit zu tun, dass man im Ruhestand mehr Zeit hat, sich darüber aufzuregen, wenn eine heute-Moderatorin gendert, damit unerhörterweise gegen Rechtschreibgesetze verstößt und das Abendland eigenhändig den Bach runterschubst. Aber selbst in den von den Unterzeichner:innen (!!! kicher. Ich hör schon auf…) zum Beweis benannten Umfragen, zum Beispiel einer 2020 vom Infratest dimap im Auftrag der Welt am Sonntag durchgeführte Telefonbefragung, die die gesellschaftliche Ablehnung des Gebrauchs der "gendergerechten Sprache" illustrieren sollte, waren die Ergebnisse in den jeweiligen Altersgruppen unterschiedlich (hier ist die Original-Umfrage bei infratest). 48% der 18- bis 39-Jährigen befürworteten damals die gendergerechte Sprache in den Medien, gegenüber 27% der Menschen über 65. Als die Umfrage circa ein Jahr später wiederholt wurde, war die Zustimmung bei den 18- bis 39-Jährigen übrigens auf 38% gefallen, bei den Älteren auf 16% - da kann man nun spekulieren, ob das tatsächlich die Ablehnung des Themas an sich wiedergibt, oder nur eine gewisse Müdigkeit angesichts der grotesk gereizten Stimmung, mit der es diskutiert wird.

Empirie?

Die Frage, die den Teilnehmenden gestellt wurde, lautete übrigens: "Wie stehen Sie zur Nutzung einer solche Gendersprache in Presse, Radio und Fernsehen sowie bei öffentlichen Anlässen?" – was wichtig ist bezüglich des von der NZZ erwähnten "Binnenpluralismus", der in der von Rundfunkbeiträgen finanzierten Senderwelt eben etwas anderes ist, als in Presseprodukten, die man individuell – und bestimmt auch aufgrund gewisser "ideologischer" Übereinstimmungen – wählt. Und die nicht weiter definierten "öffentliche Anlässe" lassen sich schon mal gar nicht in den gleichen Hut werfen, schließlich bleibt es den Sprechenden selbst überlassen, ob sie Zuhörer:innen mit "Liebe Anwesende", "Hallo Leute", "Hi Folks!!" oder "Wacken!!!!" begrüßen.

Und noch etwas: In der ersten Umfrage wurden 1000 Personen befragt, in der zweiten knapp 1200. Das kommt mir jetzt nicht gerade wahnsinnig viel vor, aber ich gebe zu, dass ich das Thema Repräsentativität vielleicht auch nicht ganz durchschaue. Jedoch scheint mir bemerkenswert, dass die Antwortmöglichkeiten bei beiden Umfragen neben "befürworte voll und ganz" und "lehne voll und ganz ab" auch die Formulierungen "befürworte eher" oder "lehne eher ab" enthielten – womit sich eine gewisse Unbestimmtheit einstellt. Denn wenn man nun die vagen "eher"-Antworten als nicht eindeutig dagegen miteinbezieht, denn sie sind ja eben nur "eher" dagegen, ergibt sich, dass 61% der Befragten in der ersten, und 55% in der zweiten Umfrage die Gendersprache nicht voll und ganz ablehnen. Was wiederum ganz anders klingt, als:

"Mehr als drei Viertel der Medienkonsumenten bevorzugen Umfragen zufolge den etablierten Sprachgebrauch – der ÖRR sollte den Wunsch der Mehrheit respektieren."

So steht es im Aufruf der, ätsch, Linguist:innen. Letzter diesbezüglicher Pfeilgiftfroschpfeil.

Runter vom Massagestuhl

Und jetzt kurz zu Frau Schlesinger (siehe diverse Altpapiere). Sonntag überschlugen sich die Ereignisse, es wurden immer mehr und immer unfassbarere Vorwürfe laut. Fakt ist, dass Schlesinger nun auch als RBB-Intendantin zurückgetreten ist, und der Sender momentan vom stellvertretenden Intendanten Hagen Brandstätter geleitet wird. Alles Aktuelle schreibt u.a. der Tagesspiegel, und zitiert die Ex-Intendantin:

"'Mir fällt dieser Schritt unendlich schwer. Die persönlichen Anwürfe und Diffamierungen haben aber ein Ausmaß angenommen, das es mir auch persönlich unmöglich macht, das Amt weiter auszuüben', erklärt Schlesinger in dem Schreiben, das dem Tagesspiegel vorliegt. 'Aktuell steht nicht mehr die journalistische und publizistische Leistung des Senders im Vordergrund, sondern es geht nur um mögliche und angebliche Verfehlungen der Intendantin. Das bedauere ich sehr und ich entschuldige mich bei den Beschäftigten des RBB für diese Entwicklung', heißt es weiter. 'Der Rückzug ist für mich eine logische Konsequenz aus meinem Versprechen, immer und zuerst für die Belange des RBB einzutreten.'"

Interessant sind in diesem Fall die Ich-Botschaften: Dass es ihr unendlich schwerfällt, klingt kaum nach Schuldeingeständnis – sie scheint einfach die Ergebnisse der Untersuchungen wegen Vetternwirtschaft, Rechnungsfälschung und Gebührenverschwendung abzuwarten. Ob es im Fall der bewiesenen Veruntreuung wohl eine Entschuldigung gäbe, und zwar nicht "für diese Entwicklung" sondern für ihr Verhalten? Heute gibt es dazu eine Sondersitzung des Rundfunkrats – wir bleiben dran und beobachten den zunehmend ruinösen Ruf des ÖRR mit Sorgenfalten, dick wie Notenlinien.


Altpapierkorb

+++ Ein sehr lesenswerter Bericht in der Vanity Fair beschrieb schon im April die Konkurrenz zwischen Streamern und dem dort so genannten "Appointment TV", also Network, in den USA, und die Veränderung, die Streamer durchlaufen, um angesichts der stagnierenden Abozahlen wirklich jeden Analogfernsehzuschauer zu erreichen: "The streamers are acting more and more like the cautious industry they revolutionized."

+++ Bei Deutschlandfunk Kultur wurden die Pläne von Facebook und Instagram diskutiert, ihre Feeds TikTok anzupassen.

+++ Viel Aufmerksamkeit, aber auch viel Kritik bekam das Cover der US-amerikanischen Vogue, auf dem Olena Selenska auf einer Treppe sitzt, hinter ihr sind Sandsäcke aufgetürmt. Die FAZ bildet einen Teil der Debatte ab, in der es einerseits um den angeblichen Missbrauch von Kriegsbildern zu "Glamourzwecken" geht (unter der vorurteilsstarken Prämisse, dass die angeblich oberflächliche Modewelt nicht politisch sein dürfe), andererseits um den Hashtag #sitlikeagirl, mit dem Ukrainerinnen dem Diskurs begegnen.

404 Not Found

Not Found

The requested URL /api/v1/talk/includes/html/a739cbb6-2645-44fb-a9a0-a02dbdb247f5 was not found on this server.

Mehr vom Altpapier

Kontakt