Das Altpapier am 1. August 2022 Die richtige Meinung
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01. August 2022, 09:53 Uhr
Wie sich ein "digitaler Lymchmob" auf Twitter und Telegram auswirkte. Wie "Alternative" oder "Parallele" Medien deutsch-österreichisch zusammenwirken. Und was Friedrich Küppersbusch zur Medienpolitik des Bundespresseamts sagt. Ein Altpapier von Christian Bartels.
Der Fall "#drlisamaria"
Allerhand Artikel mit "Wenn Sie Suizidgedanken haben"-Abbindern, die Telefonnummern der Telefonseelsorge enthalten, sind gerade aus traurigem Anlass zu lesen, etwa auf der Medienseite der "Süddeutschen" unter der Überschrift "Tod einer Impfärztin".
Die sowohl tragische als auch von "Hass im Netz" getriebene Geschichte kam in die klassischen Medien aus den sozialen – die schon deshalb ein "sogenannt" davor verdienen, weil es oft enorm asozial dort zugeht. Der Twitter-Auftritt @drlisamaria besteht noch, seine Inhaberin Lisa-Maria Kellermayr hat sich offenbar unter dem Eindruck von sehr viel Hass das Leben genommen. Er schlug der Österreicherin entgegen seit einem inhaltlich nicht ganz korrekten "Tweet vom November 2021, der längst gelöscht ist", aber gegen die "aufopferungsvolle Ärztin und Befürworterin von Corona-Impfungen und Masken weiter zirkulierte", so die "SZ".
"Ihr Fall sprang von Twitter auf das Portal Telegram über, wo noch hemmungsloser gehasst und gedroht wurde", schreibt die "FAZ" (€) auf der Gesellschafts-Seite. Und der österreichische "Standard":
"Das Zusammenspiel von impffeindlichen, rechtsextremen Medien und Teilen der Landespolitik, die diese auch finanzieren, hat einen gefährlichen Nährboden für Hass und Hetze geschaffen. Der Mob organisiert sich auf Telegram und bedrängt seine Ziele in konzertierten Aktionen, bis die nicht mehr können. Und die Polizei findet nicht den richtigen Weg und schon gar nicht den richtigen Ton, um darauf zu reagieren. Das soll nicht heißen, dass die Behörden am Tod von Kellermayr schuld sind; das würde diese Tragödie zu sehr vereinfachen ..."
Das sieht Florian Klenk vom "Falter", der weitere Hintergründe schildert, ähnlich, auch wenn den Behörden des ÖVP-FPÖ-regierten Bundeslandes Oberösterreich viel Kritik gilt. Sie stellten Kellermayr "gar als geltungsbedürftige Querulantin dar", schreibt Österreich-Korrespondent Ralf Leonhard in der "taz", in der er auch vom "digitalen Lynchmob" schreibt.
Dass der Hass auch aus Deutschland kam, steht etwa in der "FAZ". Deutsche Konsequenzen in Form von Rückzügen aus den sog. soz. Medien nennt der "SZ"-Artikel:
"Der bekannte Würzburger Rechtsanwalt Chan-jo Jun, der unter anderem Opfer von Hasskriminalität vertritt und einst selbst in den Fokus des NSU-2.0-Täters geraten war, schloss sein Twitter-Konto: 'Engagement und Aufklärung führten für #drlisamaria zu Hass, Bedrohungen, Ruin und mutmaßlich zum Tod, der auf Telegram von Querdenkern als Sieg gefeiert wird. Wir haben Hass und #SLAPP nichts entgegenzusetzen. Ich mag nicht mehr und deaktiviere meinen Account am Sonntag.' Im Netz aktive Ärztinnen taten es ihm gleich ..."
Chan-jo Jun, dessen Account @Anwalt_Jun tatsächlich nicht mehr besteht, kam u.a. wegen eines im April gewonnenen Grundsatzprozesses gegen Facebook im Altpapier vor.
Neues aus der "Parallelmedienlandschaft"
"Es ist eine Parallelwelt. Und sie wird mächtiger. anti-spiegel.ru, auf1.tv, kopp-verlag.de, reitschuster.de, wochenblick.at, uncutnews.ch oder epochtimes.de – so heißen einige der reichweitenstarken selbsternannten 'freien' oder 'alternativen' Medien, die tatsächlich vor allem eines sind: verschwörungsideologische Portale mit einer oft bizarren Mixtur aus Corona-Verharmlosung, Kreml-Propaganda oder der Leugnung des Klimawandels"
So leitet Matthias Meisner seinen Überblick über neuere Entwicklungen der deutschsprachigen "Parallelmedienlandschaft" im "Tagesspiegel" ein. Lesenswert ist er auch wegen des Ausgreifens österreichischer Medien nach Deutschland. So baut auf1.tv, nach eigenen Angaben ein "TV-Sender ... mit 7-Tages-Programm und täglichem Nachrichtenformat", gerade eine Redaktion in Berlin auf.
Lieblingsthemen der genannten Medien sind die Corona-Politik, die weitestgehend kritisiert wird, und der russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der weitgehend befürwortet wird, wenn auch nicht von allen. So habe der ehemalige Moskauer "Focus"-Korrespondent Boris Reitschuster "sich kritisch zum russischen Einmarsch positioniert". Das russische Staatsmedium RT Deutsch/DE spiele aber eine weiter große Rolle:
"Dass RT DE aktuell nicht mehr ausgestrahlt werden darf, hat nicht dazu geführt, dass die russische Einflussnahme über das Spektrum der Parallelmedien gesunken ist."
Das Verbot ist bekanntlich ein doppeltes, einerseits durch die Berlin-Brandenburger Landesmedienanstalt aus komplizierten medienrechtlichen deutschen Gründen verhängt, andererseits übergeordnet durch die EU nach Beginn des Angriffskriegs. Letztere Maßnahme wurde vorige Woche vom Europäischen Gerichtshof bestätigt, wozu es unterschiedliche Reaktionen gab. "Außer Putin-Fans braucht niemand russische Fake News", kommentierte etwa Hendrik Zörner für die Journalistengewerkschaft DJV, wohingegen Christian Rath in der "taz" ein "falsches innenpolitisches Signal" darin sah, Sender "präventiv ... stillgelegt" werden, statt "auf die Kraft des Diskurses zu vertrauen und Verbote auf konkrete Straftaten und Verletzungen von Persönlichkeitsrechten zu beschränken."
Welche Meinung ist richtig? Das lässt sich bei Meinungen oft ja gar nicht genau sagen. Ich neige weiter zu der, die auch Rath vertritt: Medienfreiheit und -vielfalt zählen zu den größten Vorzügen des westlichen, freien Mediensystems, schon weil es sie in immer mehr Ländern nicht gibt. Nur z.B. in Russland, beim wichtigen deutschen Handelspartner China und beim wichtigen NATO-Partner Türkei. Sie einzuschränken, hilft vor allem der Gegenseite, die gerne mit Meinungsfreiheit argumentiert, wenn es in ihren Kram passt.
Eine "Nachfolgerolle" der RT-Medien hätten unter anderem die nachdenkseiten.de eingenommen, schreibt Meisner. Neulich in der "taz" hatte er gegen die Aufnahme des Nachdenkseiten-Korrespondenten Florian Warweg in die Bundespressekonferenz plädiert, der zuvor als RT Deutsch-Onlinechef arbeitete. Tatsächlich wurde dessen eigentlich schon beschlossene BPK-Aufnahme nun abgelehnt. Als das Thema im Altpapierkorb war, ging es auch, ebenfalls knapp, um eine den Nachdenkseiten geltende "Gegneranalyse" (zu deren Autoren wiederum Meisner zählt). Und da ...
Neues vom Bundespresseamt
Und da verdient ein Youtube-Video Aufmerksamkeit. Der Medien-Veteran Friedrich Küppersbusch ist vielfältig unterwegs. Seine Firma Probono produziert allerhand Sendungen für Fernsehen und Internet. Seit nicht ganz 20 Jahren bestreitet Küppersbusch in der "taz" die "Wie geht es uns..?"-Interview-Kolumne; hier geht's zur tagesaktuellen Ausgabe. Für die große Reichweite tritt er als "Irgendwer mit Medien"-Clown in Oliver Welkes "heute-show" auf, und auf Youtube läuft "Küppersbusch TV".
Die aktuelle Ausgabe trägt den Titel "Staatsknete für die richtige Meinung". In der populären Mischung aus satirischem Zungenschlag, der aus allen möglichen Quellen flott montierte Bilder geschmeidig verbindet, und Investigation mit Quellen-Auflistung bei docs.google.com, wie Jan Böhmermann sie fürs ZDF vor- (und Anja Reschke demnächst wohl in der ARD nach-) macht, beschäftigt sich das Video mit der "Gegneranalyse" ("Gesinnungsaufsatz") bzw. mit dem Zentrum für die liberale Moderne gGmbH, das sie erstellen ließ. "Wie kann man beim Bundespresseamt eine halbe Million Euro abgreifen?" fragt der Fuchs Küppersbusch einleitend und antwortet: "Indem man die richtige Meinung hat". Mit offenbar 0,5 Millionen Euro im Jahr fördert das Bundespresseamt institutionell die 2017 von den Grünen-Veteranen MarieLuise Beck und Ralf Fücks gegründete gGmbH.
"Eine Nichtregierungsorganisation sind wir auf jeden Fall", ließ das gut vernetzte Zentrum (dessen Förderung durchs Bundesfamilienministerium schon bekannt war) dazu verlauten. Und dass sich ja jeder um Förderung bewerben könne, das Presseamt. Sollten wir dazu die nachdenkseiten.de-Meldung vom erwähnten Florian Warweg verlinken? Wenn es zur Meinungsbildung zum komplizierten Frontenverlauf in dieser Auseinandersetzung beiträgt, klar.
Noch zwei Meinungsäußerungen meinerseits: Falls noch wer gedacht haben sollte, die Grünen würden beim Versorgen ihrer Klientel mit Posten und Geld zurückhaltender agieren als andere Parteien – diese Ansicht lässt sich nun noch etwas schwerer aufrechterhalten. Und welche Aufgaben das Bundespresseamt heutzutage erfüllen sollte, gehört zu den zahlreichen Themen, die medienpolitisch diskutiert zu werden verdienten (wobei solche Diskussionen, wenn es sie gibt, ja meistens deswegen zerfasern, weil die Bundesebene aus zumindest historisch guten Gründen nur wenige medienpolitische Zuständigkeiten besitzt...).
Neues vom RBB
Tief unten noch mit Neuem vom/zum RBB kommen? Das wäre kolumnendramaturgisch zweifelhaft, zumal da ja Dinge besprochen werden müssten wie das, was die "Bild"-Zeitung "Dienstwagen-Skandal" nennt. Dazu mutmaßlich morgen mehr in diesem Theater. Bloß noch zwei Meinungsäußerungen.
Erst mal ist ein weiterer "Tagesspiegel"-Kommentar lesenswert, für den Joachim Huber kräftig in die Klaviatur des Kommentar-Genres greift. U.a. wirft er Intendantin Patricia Schlesinger vor, "den Eindruck von Selbstherrlichkeit bis hin zur Selbstbedienung" zu erwecken, und lenkt den Blick noch mal auf die Gästeliste der mit Kosten zwischen 23,12 und 56,53 Euro abgerechneten Abendessen:
"Schneller als diese Zahlen bekannt waren, wurden die Anschlussfrage laut: Und die Getränke? Wer waren die Gäste? Schlesinger will sie nicht nennen. Warum nicht? Will sie Helmut Kohl nacheifern, der mit seinen Spendern ins Grab stieg? Diese lückenhaften Auskünfte widersprechen einer lückenlosen Aufklärung."
Tatsächlich dürfte diese Frage auch deshalb noch nachwirken, weil die RBB-Spitze für die bislang ungenannten Gäste früh (Altpapier) den Platzhalter-Begriff "Multiplikatoren" schöpfte. Der macht natürlich alle gespannt, die sich für Influencer, Prominente usw. interessieren. Außerdem versucht Huber die Medienpolitik des kleinen Bundeslandes Brandenburg ("... ist auf der Zinne") gegen die des kleinen Bundeslandes Berlin (da "gibt es keine profunden Medienpolitiker") auszuspielen. Mal sehen, ob das Berlin, das eigentlich ja mit bestenfalls mediokrer Politik in allen Ressorts top-zufrieden ist, antreibt. Tatsächlich geht es auch um größere Summe als um die addierten Abendessen-Kosten:
"Digitales Medienhaus des #rbb|: Erst 65 Mio. Euro, 95,2 Mio. Euro, 185 Millionen Euro. Darin scheinen sie meisterhaft zu sein: Verantwortung solange per Outsourcing zu häckseln, bis sie nicht mehr gegeben ist. Damit wird auch die Schuldfrage ausgelagert",
kritisierte auf Twitter bemerkenswert scharf @dimbbnews, also Heiko Hilker (der im MDR-Rundfunkrat sitzt). Dass der RBB-Rundfunkrat auch zusehends kritisiert wird, war am Donnerstag eines der Themen.
Altpapierkorb (linguistik-vs-gendern.de, Prospektepolitik der Rewe-Rivalen, "Layla" ignorieren?, "schräges Völkchen")
+++ "Wir fordern die Abkehr von einem Sprachgebrauch, der stark ideologisch motiviert ist und überdies – so zeigen es alle aktuellen Umfragen – von der Mehrheit der Bevölkerung (ca. 75-80 %) eindeutig abgelehnt wird (> Umfragen). Es ist bedenklich, wenn immer mehr Journalisten in Unkenntnis der sprachwissenschaftlichen Fakten den Jargon einer lautstarken Minorität von Sprachaktivisten in der Öffentlichkeit verbreiten und sich hierbei fälschlicherweise auf 'Sprachwandel' berufen. Nicht zuletzt sorgt die vielfach mit moralisierendem Gestus verbundene Verbreitung der Gendersprache durch die Medien für erheblichen sozialen Unfrieden ...": So steht's im um 9.00 Uhr 180-mal unterschriebenen Aufruf "Wissenschaftler kritisieren Genderpraxis des ÖRR" (linguistik-vs-gendern.de). Darüber berichten die "Welt" (€) und die "FAZ" (€), in der Michael Hanfeld schreibt: "Eine durchgehende Linie oder ein Zwang lässt sich, was das Gendern angeht, bei den Öffentlich-Rechtlichen noch nicht erkennen. Im Fernsehrat des ZDF hatte es im vergangenen Dezember eine hitzige Debatte gegeben, Fernsehräte forderten, das Gendern zu unterbinden, der damalige Intendant Thomas Bellut zog sich darauf zurück, der Sender mache keine Vorgaben. Es werde nicht 'zwangsgegendert'. Den Versuch indes gab es und gibt es im ZDF und bei der ARD, wie man an Sprachleitfäden erkennen kann. Beim Bayerischen Rundfunk wird dezidiert nicht gegendert, in Jugendprogrammen der ARD ist das Gegenteil der Fall, das Deutschlandradio übt sich, für alle hörbar, im Spagat ..." +++
+++ Während Rewe auf gedruckte Prospekte bald ganz verzichten möchte (Altpapier), wollen die Wettbewerber "Lidl, Edeka und Aldi ... zumindest noch nicht auf das gedruckte Werbemedium verzichten" bzw. könnten Rewes Ausstieg sogar nutzen, um mit Prospekten Marktanteile dazuzugewinnen, schrieb die "FAZ"-Wirtschaft (€). Kommentierte neben dem Bericht aber, dass der "Schritt ... konsequent" sei: "Andere Händler sollten nachziehen. Und für alle die das Gefühl von analog einfach lieben, hier noch eine gute Nachricht: Diese Zeitung können Sie weiter auf Papier lesen. Der Inhalt lohnt sich auch mehr als jedes Sonderangebot." +++
+++ "Vielleicht müsste man 'Layla' schlicht und einfach ignorieren", räsoniert die "Berliner Zeitung" gegen Ende einer keineswegs kompakten Besprechung der nicht sehr oft besprochenen Fernsehshow "ZDF-Fernsehgarten", vor allem deshalb, weil da eine "unzensierte" Darbietung des genannten Lieds angekündigt war. +++
+++ Den sympathischen Spruch "Wir Deutschen sind schon ein schräges Völkchen", bringt Florian Weiss, Moderator der ZDF-Show "Volle Kanne", in der Geärgert/gefreut-Rubrik des "Tagesspiegels" aber aus anderen Gründen. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.
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