Das Altpapier am 13. Juli 2022 Die Charlie-Brown-Rolle der Medien
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13. Juli 2022, 10:07 Uhr
Die Strategie konservativer Politiker gegenüber Medien ist vergleichbar mit der von Sportlern, die beim Schiedsrichter wegen vermeintlich unfairer Behandlung reklamieren. Redaktionen, die in Beiträgen über trans Personen abwegigen Positionen sehr viel Raum geben, machen einen ähnlichen Fehler wie bei der Klima- und Corona-Berichterstattung. Ein Altpapier von René Martens.
Der Mythos vom linksorientierten Journalismus
Möglicherweise spricht es nicht für mich: Das US-amerikanische "Dame Magazine", das "women-led, independent (and) reader-funded" ist, war mir bisher nicht bekannt. Nun ist hier ein Artikel erschienen, der im Teaser mit der These "'Liberal media' is a myth" aufwartet und sich zumindest teilweise recht gut auf die Medien in Deutschland übertragen lässt. Wobei der Begriff "liberal" im Amerikanischen ja im sehr, sehr weiten Sinne linke Positionen beschreibt und nicht die der Christian Lindners dieser Welt. Autorin Parker Molloy rekapituliert:
"Während des Präsidentschaftswahlkampfs 2016 (begann) so ziemlich jedes Mainstream-News-Outlet sich nach rechts zu bewegen. Und nachdem Trump gewonnen hatte, begann das Bestreben, seine Wähler zu 'verstehen‘."
Molloy befragt in dem Zusammenhang Wajahat Ali, früher CNN-Kommentator, heute "The Daily Beast"-Kolumnist. Um seine Position zu illustrieren, greift Ali auf die "Peanuts" zurück: Die Medienunternehmen seien Charlie Brown und die Rechten wie Lucy. Weniger metaphorisch: Die Medienhäuser glaubten, sie könnten sich mit einer "Appeasement"-Strategie vor dem Vorwurf schützen, sie seien parteiisch oder voreingenommen. Das Vorgehen der Konservativen vergleicht er wiederum mit der "Working the refs"-Strategie im Sport, also mit Akteuren, die sich beim Schiedsrichter darüber beschweren, dass sie vermeintlich unfair behandelt werden. Ali meint:
"Wenn es um Medien-Institutionen geht, funktioniert das für Konservative hervorragend."
Die beschriebene Appeasement-Strategie ist bei deutschen Medien ja ebenfalls zu beobachten. Folgt man Wajahat Ali, spielen also auch sie eine Art Charlie-Brown-Rolle. Ein US-amerikanisches Spezifikum dagegen: Was Craig Harrington von der auf "conservative misinformation" spezialisierten Medienforschungsorganisation Media Matters For America gegenüber "Dame Magazine"-Autorin Molloy konstatiert: Die etablierten Medien seien "grundsätzlich nicht vorbereitet" für den "rightward march" der Republikaner "toward fascism and theocracy.”
Hello again, false balance!
Als aktuellen Beleg für einen weiteren Ruck nach rechts bei den Medien hier zu Lande kann man die obsessiv transfeindlichen Texte, die in den vergangenen Wochen erschienen sind, ansehen. Io Görz ist nicht-binär trans, leitet die Redaktionen von infranken.de und inrlp.de und problematisiert in einem Gastartikel bei meedia.de nun diverse Aspekte dieser Berichterstattung:
"Haben Redaktionen nichts gelernt aus den Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre? Die Diskussionen über Klimaschutz oder die Corona-Pandemie sollten doch gezeigt haben, was passiert, wenn man randständige und abwertende Meinungen auf eine Ebene mit dem Konsens in Gesellschaft und Wissenschaft hebt."
Ich würde ja, und das tue ich wahrscheinlich nicht zum ersten Mal, eher die Frage stellen, ob viele Journalisten nichts gelernt haben, weil sie gar nicht der Auffassung sind, dass sie in den Debatten über Klimaschutz und Corona etwas Nennenswertes falsch gemacht haben.
Dass Medien nicht so linksliberal sind, wie sie gern beschrieben werden (und diesbezüglich lässt sich durchaus ein Bezug zu dem herstellen, was Malloy schreibt) - das thematisiert Görz zumindest kurz:
"In vielen Artikeln in deutschen Medien, von linksliberal bis rechtskonservativ, wurde eines deutlich: Wir haben ein Problem mit der Berichterstattung über trans Personen."
Ein Teil von Görz' Argumentation:
"Anstatt über reale Gewalt an trans Menschen zu sprechen, werden fiktive Szenarien beleuchtet, in denen angebliche Feminist*innen vor allem trans Frauen unglaubliche Dinge unterstellen. Die Kriminalstatistik zeigt jedoch: Zwischen 2018 und 2021 hat sich die Gewalt gegen queere Menschen mehr als verdoppelt. Die herbeifantasierten Taten, bei denen sich trans Personen angeblich in Schutzräume 'hinein identifizieren' könnten, finden hingegen schlicht nicht statt."
Görz' Fazit:
"Der Begriff der 'false balance‘ trifft auch hier zu. Behauptungen wie etwa, dass es nur zwei Geschlechter gebe oder trans Personen nur psychisch krank seien, sind längst wissenschaftlich widerlegt (…) Aus falsch verstandenem Streben nach Objektivität wird jenen die Deutungshoheit zugesprochen, die maximal entfernt sind von der Lebensrealität von trans Personen. Betroffenen hingegen wird unterstellt, sie seien befangen."
Das schließt an das an, was die für den WDR als Studioleiterin tätige Transfrau Georgine Kellermann Ende der vergangenen Woche im Gespräch mit "Übermedien" (€) gesagt hat:
"Ich würde mir wünschen, dass man sich auch mehr mit den Menschen beschäftigt, um die es geht. Man spricht sehr häufig über uns und bei weitem nicht so häufig mit uns."
Der Erfinder des "Literarischen Quartetts" ist tot
Im Alter von 74 Jahren ist in München der Kulturjournalist und Historiker Johannes Willms gestorben, der beim ZDF unter anderem von 1988 bis 1992 die "aspekte"-Redaktion und später, von 1993 bis 2000, das Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung" leitete (und danach als deren Frankreich-Korrespondent wirkte).
Der Nachruf von Alexander Gorkow und Nils Minkmar in eben dieser Zeitung ist auch ein Rückblick auf einen Kulturjournalismus, den es im Fernsehen kaum noch gibt:
"Der 1948 in Würzburg geborene Sohn eines Richters begriff den Kulturjournalismus im Fernsehen und in der Zeitung als einen Dienst an der Öffentlichkeit - und nicht als Gelegenheit zum Ausweis elitärer Kompetenzen oder Rechthabereien. Dabei setzte Johannes Willms schlicht voraus, dass sich kluge Menschen nun mal für Geschichte und Literatur interessieren, ja begeistern - einfach weil sie Bürgerinnen und Bürger in Karl Poppers offener Gesellschaft sind, der Republik (…) Die aktuelle Übung (…), potenzielle Leserinnen und Leser wie arme Herumirrende durch alle Arten von Niveau-Limbo 'abzuholen‘, (…) kam nicht in Frage."
Ähnlich der Tenor in Claudius Seidls Text für die FAZ:
"Wie optimistisch Willms (…) sowohl sein Medium wie auch die Kultur betrachtete, bewies er in den späten Achtzigern. Es war Willms, der sich das 'Literarische Quartett‘ ausdachte. Es war er, der Marcel Reich-Ranicki überredete, dessen Leitung zu übernehmen. Und als Reich-Ranicki die Bedingung stellte, dass nichts, keine Einspielfilmchen, kein Bühnenschnickschnack, von den Worten ablenken dürfe, war es Willms, der ganz auf Reich-Ranickis Qualitäten als Performer vertraute."
Ungewöhnlich, zumindest aus heutiger Sicht, war Willms beruflicher Weg ja insofern, als er vom ZDF zur "Süddeutschen Zeitung" wechselte - in Zeiten, als es Zeitungen viel besser ging als heute. Inzwischen ist es ja eher so, dass Leute, die bei den Öffentlich-Rechtlichen in leitenden Positionen sitzen, so stark vom Apparat geformt oder verformt sind, dass sie nur noch selten für journalistische Arbeit außerhalb dieses Systems in Frage kommen.
Altpapierkorb ("Atomkraft forever", Somuncu, Precht)
+++ Fünf Jahre hat Carsten Rau an seinem Dokumentarfilm "Atomkraft forever" gearbeitet, der im September 2021 in die Kinos kam, jetzt in der ARD-Mediathek steht und heute Abend linear läuft. Zwischen Produktionsbeginn und TV-Erstausstrahlung kann ein Dokumentarfilm, der sich einem gesellschaftspolitisch brisanten Thema widmet, schon mal an Aktualität verlieren, aber bei "Atomkraft forever" ist das Gegenteil der Fall. Angesichts der aktuellen Kraftwerks-Laufzeitverlängerungs-Forderungen vieler sehr bekannter Lautsprecher ist der Film jetzt aktueller, als er je war. "Eine Absurdität liegt schon darin, dass wir für den Müll einer Technologie nun ein Endlager suchen, das eine Million Jahre Sicherheit gewähren soll – was die Gesellschaft für Endlagerung dennoch gewissenhaft tut", sagte Rau im vergangenen Jahr im ND zu einem Aspekt seines Films. Aktuell besprochen wird "Atomkraft forever" in der "Stuttgarter Zeitung" (€).
+++ Wie die Rhetorik "zweier Virtuosen der verkürzten Kürze" bei TikTok wirkt, analysiert Simon Sahner bei "54books": Serdar Somuncu liefere "vereinfachte, aber leicht vermittelbare Problemlösungsstrategien, die nie auf ihre Funktionalität getestet werden müssen, weil er sie sowieso nicht umsetzen könnte. Der Zuspruch des Publikums ist ihm aber sicher, weil er hochkomplexe Konflikte auf das Niveau eines Streits zwischen Nachbarn herunterbricht, bei dem man sich halt mal an einen Tisch setzen und reden muss". Und "was Somuncu für die Wütenden ist, ist Richard David Precht für diejenigen, die sich gerne als kritisch und besonnen sehen".
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.
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