Das Altpapier am 12. Juli 2022 Brautkleid bleibt Brautkleid
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12. Juli 2022, 08:44 Uhr
Die Berichterstattung über die Hochzeit zwischen Christian Lindner und Franca Lehfeldt bewegt sich weg von der Kritik wegen Interessenskonflikten, hin zu angeblichem Missbrauch "durchbeteter Räume" und einem "Foto im Porsche". Ein Altpapier von Jenni Zylka.
Wie blöd sind böse Geister?
Und jetzt eine Prise Fünf-Minuten-Party-Smalltalk, geerntet vom unterhaltsamen Millenial-Unnützes-Wissen-Portal Mental Floss: Brautjungfern, die sich auf Hochzeiten traditionell in ähnliche (wenn auch nicht ganz so schicke) Kleider wie die Braut werfen, dienten angeblich ursprünglich dazu, die bösen Geister abzulenken, die die Braut stehlen oder von ihr Besitz ergreifen wollten. So hatte es 2008 eine "Hochzeits-Journalistin" in einem schmunzeligen Text auf jenem Portal veröffentlicht:
"…the concept of the bridesmaid's gown was not invented to inflict painful dowdiness upon the bride's friends and female relatives thus making the bride look hotter by comparison. Historically, that dress you'll never wear again was actually selected with the purpose of tricking the eye of evil spirits and jealous ex-lovers (spicy!). Brides' faithful attendants were instructed to wear a dress similar to that of the bride so that during their group stroll to the church it would be hard for any ill-willed spirits or former boy-toys to spot the bride and curse/kidnap/throw rocks at her. (Ditto for the boys in matching penguin suits, saving the groom from a similar fate.)”
Welch eine kuriose Idee, zu glauben, dass ein übelwollender Geist, der zähnefletschend um den Kirchenturm braust und sich schon auf die jungfräulich-reine Brautseele freut, auf dem Weg zum Erfolg ausgerechnet einer solch albernen vestimentären Finte aufsitzt. Und mit zum Angriff erhobenen Klauen den Blick stirnrunzelnd von einer vermeintlichen Braut zur nächsten wandern lässt, bis er schließlich sauer abzieht, weil er sich nicht sicher ist. Schließlich heißt es doch "böser Geist", nicht "blöder Geist"?! (Auf der anderen Seite funktioniert Supermans ähnlich fragwürdige Brillenverkleidung als Clark Kent ebenfalls seit Jahrzehnten. Menschen und Geister sehen anscheinend nur, was sie sehen wollen.)
Kommt jetzt die Hochzeitsnacht?
Es geht also, daher die kleine Braut-Brauchanalyse zur Einleitung, nach diesem und diesem Altpapier, die sich mit den vielen potentiellen Interessenskonflikten und deren medialer Abbildung beschäftigten, noch einmal um die Hochzeit des Finanzministers Christian Lindner mit der "Hauptstadtreporterin Franca Lehfeldt", wie es DerWesten am Wochenende in seiner Berichterstattung nannte. Denn das Ganze zieht zumindest medial immer weiterreichende Kreise, und bewegt sich weg von der berechtigten Frage nach der journalistischen Unabhängigkeit der Angeheirateten eines Politikers. Nach der Brautkleid-Kostenanalyse (RTL) und einem Liveticker mit der Überschrift "Geht es nun in die Flitterwochen?" (RTL) (vermutlich war eine Überschrift-Alternatividee: "Kommt jetzt die Hochzeitsnacht?"), hat der Spiegel der "Bundesprominentenhochzeit" (€) eine Reportage gewidmet, in der es heißt:
"Sankt Severin ist die Sylter Hochzeitskirche schlechthin – und ideal abzuriegeln. Die Einsatzhundertschaft der schleswig-holsteinischen Polizei hat den Kirchhof mit Absperrgittern gesichert, dahinter gut zwanzig breitschultrige Männer in aufgeplusterten Uniformjacken. Auf dem Bürgersteig auf der anderen Straßenseite dann die Zaungäste, die Schaulustigen, die Medienleute mit ihren Leitern und Kameras."
Inselpunks johlen (allerdings die meisten vor einem falschen Hotel, kicher), die Presse knipst, eine Frau aus Westerland kritisiert den Bohei, schließlich kommen die Brautleute an, schreibt der Spiegel, und nach der Trauung geht es weiter:
"Das Brautpaar selbst wirkt vom Kirchhof aus einmal ganz kurz in Richtung der Straße und steigt in den Porsche. Die beiden haben mit ihren seit Mittwoch dauernden Festlichkeiten einen neuen, irritierend hybriden Maßstab gesetzt: die Bundesprominentenhochzeit. Feiern wie Celebritys, für die Security sorgt die öffentliche Hand. Eines ist dies eher nicht: 'sehr privat'."
Womit der o.g. Interessenkonflikt auf eine ganz andere Ebene gehoben wird. In der Bunten (wo die Chose zugegebenermaßen ebenfalls gut aufgehoben ist) stellt die ehemalige Chefredakteurin Patricia Riekel jedoch dazu die Frage:
"Regt sich jemand auf, wenn bei Fußballspielen ein riesiges Polizeiaufgebot aufmarschiert? Bezahlt nicht von den Fans, sondern von uns Steuerzahlern."
Wer träumt nicht vom Brautstrauß?
Wobei der Vergleich hinkt, denn die Polizei ist bekanntlich bei jeder großen Bürgeransammlung zugegen, aber nicht bei jeder Hochzeit. Riekel lässt im Weiteren ein bisschen ihr klischiertes Verständnis von Genderrollen aufblitzen:
"Der Höhepunkt jeder Hochzeit ist nun einmal der Einzug der Braut in die Kirche. Ja, ein Kleinmädchentraum, den auch eine Powerfrau wie Franca Lehfeldt träumt. Mit weißem Kleid, Brautstrauß, dem Versprechen für immer und ewig vor Familie und Freunden."
Ach Gottchen, die Powerfrau mit dem Kleinmädchentraum. So sind sie wohl, die Weibchen, das mit dem weißen Kleid und den Blumen steckt tief in ihrer romantischen Seele drin. Und wo wir gerade bei Sentimenten sind: Später nannte Olaf Scholz in seiner Rede bei den anschließenden Feierlichkeiten Sylt einen Sehnsuchtsort, schreibt Riekel. Mal sehen, ob das die momentan etwas angeschlagene Inselpublicity rettet. Am Montag berichtete das ZDF passend dazu hier, wie Scholz bei einem Bürgerdialog in Lübeck auf den Kommentar, so eine Hochzeit sei nicht angemessen, mit "Gefühl" reagierte: "Das Schönste im Leben ist die Liebe".
Aber apropos ach Gottchen: Dass der gesamte Kladderadatsch (dem Vernehmen nach) ohne Brautjungfern stattfand, könnte den Eingeweihten bereits ein Hinweis darauf sein, dass Lindner und Lehfeldt weder an böse Geister glauben, noch an blöde. Weil sie eventuell an gar nichts richtig glauben, sie sind nämlich aus der Kirche ausgetreten. Und damit schließt sich ein weiterer, eigentlich nicht wirklicher politischer Konflikt an, den die evangelische Theologin Margot Käßmann hier entzürnt in ihrer Bild am Sonntag-Kolumne zündete:
"Weshalb wünschen zwei Menschen eine kirchliche Trauung, die bewusst aus der Kirche ausgetreten sind, ja öffentlich erklärt haben, dass sie sich nicht als Christen verstehen? Dazu kommt noch die Rede eines Philosophen statt einer Predigt. Herr Sloterdijk hat mal erklärt: "Das Christentum ist ein gescheitertes Projekt." Worüber hat der Mann geredet in St. Severin? Über die Liebe Gottes? Hier ging es nicht um christlichen Inhalt, sondern um eine Kulisse. Dazu aber sollte sich unsere Kirche nicht hergeben. Gotteshäuser sind Orte, in denen Menschen über Jahrhunderte Freud und Leid vor Gott bringen. Sie sind durchbetete Räume, die Trost spenden."
Durchbetet – oder hohl?
Die FAZ berichtete über das Thema am Sonntag so:
"Nach Auffassung der Theologieprofessorin Karle zeigt der Fall Lindner/Lehfeldt exemplarisch das Dilemma der Kirche zwischen "Öffnung" und "Schließung" angesichts zunehmender Entkirchlichung. Einerseits möchte die Kirche für alle offen sein und präsent bleiben, andererseits darf sich die Kirche in diesem Prozess nicht bis in ihre rituellen Kernbereiche selbstsäkularisieren.Dabei geht es nicht nur um Glaubensfragen, sondern auch um den Fortbestand der Kirche als Organisation: Wenn die kirchliche Traumhochzeit auf der Insel Sylt jedem offen steht, könnte sich manches Kirchenmitglied irgendwann die Frage stellen, warum es Monat für Monat Kirchensteuer zahlt. Für solche Überlegungen, die man in der Unternehmenswelt "Membership pricing" nennen würde, müsste ein marktwirtschaftlich orientierter FDP-Politiker wie Christian Lindner eigentlich Verständnis aufbringen."
Ob weniger "markwirtschaftlich orientierte" Politiker anders nachdenken würden? Weder der Politikerehemann noch seine Journalistenehefrau haben wahrscheinlich antizipiert, welches Fass sie neben den vermuteten Schwierigkeiten mit der Unabhängigkeit zudem mit der Wahl ihrer Location aufmachen. Ebenfalls die FAZ kommentierte etwas später:
"Natürlich kann eine Kirchengemeinde ihre Räumlichkeiten für die Hochzeit eines prominenten Politikers wie Lindner zur Verfügung stellen. (…) Aber die Kirche ist kein Veranstalter von "Love Island", der seine Locations aus gesellschaftlichen Motiven vermietet. Und wenn, dann darf sie sich nicht wundern, dass viele den Kopf schütteln. Es ist schon wunderlich genug, wenn sich die Kirche als politisch-moralischer Akteur versteht und gleichsam eine eigene Außenpolitik betreibt. Darin ist immerhin der Versuch erkennbar, den Glauben im Alltag zu leben. Nur noch hohl ist dagegen die Kirche als Kulisse. Sie schafft sich selbst ab und merkt es nicht."
Interessant ist, dass in der Berichterstattung generell "Glauben" mit "Kirche" gleichgesetzt wird. Denn dass Lindner und Lehfeldt aus der Kirche ausgetreten sind und sich "nicht als Christen verstehen", heißt eben noch lange nicht, dass sie nicht an einen Gott glauben. (Oder zumindest an einen bösen Geist.)
DerWesten sprang aber gleich nochmal in Käßmanns "durchbetete Räume", also auf den Zug auf, und berichtete unter der Überschrift "Kachelmann und Käßmann auf 180 wegen Hochzeit – 'Kirche entweiht'" am Montag mit einem Hinweis auf einen diesbezüglichen Tweet von Jörg Kachelmann zum trendenden #Lindnerhochzeit mit einem unfassbaren Schwung an leutseligen Sprachbildern (meinungsstark, Dampf ablassen, Dorn im Auge, berühmt, Kopf schütteln, Rot sehen):
"Der meinungsstarke Meteorologe und Moderator Jörg Kachelmann lässt Dampf zur Hochzeit von Christian Lindner auf Sylt ab. Dem Wetterexperten ist die kirchliche Hochzeit ein Dorn im Auge. Auch die berühmte Theologin Margot Käßmann kann nur den Kopf über die kirchliche Trauung von Christian Lindner und Franca Lehfeldt auf der Nordsee-Insel schütteln. Christian Lindner und Franca Käßmann: Kachelmann und Käßmann sehen wegen kirchlicher Hochzeit rot."
(Und huch, wer ist denn "Franca Käßmann" - hat Franca Lehfeldt jetzt ganz schnell auch noch Margot Käßmann geheiratet, just because the protestans can? Naja, kann ja mal passieren.)
Die Wogen wieder ein bisschen glätten zu wollen schien die Tagesschau, die am Sonntag gleich einen Gegenpapst, ach Quatsch, Entschuldigung, eine Theologin mit einer Gegenthese zu Wort kommen ließ:
"Die hannoversche Regionalbischöfin Petra Bahr warf Käßmann vor, sie urteile über die Motive eines Paares, obgleich sie beim vorbereitenden Traugespräch nicht dabei gewesen sei. Bahr meinte weiter, grundsätzlich könne man mit guten Gründen darüber streiten, wie mit einem solchen Fall umzugehen sei. "Was meines Erachtens gar nicht geht: Motive eines Paares ohne das pastorale Involviertsein zu diffamieren. Das ist unevangelisch.""
Das wird ja immer besser. Der Kölner Stadt-Anzeiger (€) hatte schon am Samstag Gesprächspartner und -partnerinnen zu dem unevangelischen Skandal in den durchbeteten Räumen gefunden. Ein Ethikprofessor namens Matthias Wirth sagte dort, dies sei
"eine wenig sozial- und moralsensitive Luxus-Trauung eines Ministers, der zeitgleich die Hartz-IV-Sätze für Langzeitarbeitslose kürzen will"
Und etwas später:
(…)"mir wäre es als Pfarrer gerade unter diesen Umständen wichtig, nicht wie ein Kompagnon einer großen Polit-Soap-Opera zu wirken, die noch dazu eine The-Winner-takes-it-all-Binnenmoral zum Ausdruck bringt."
"Typisch deutscher Neid?"
Diese Aussagen bringen uns zum letzten Aspekt dieser nicht enden wollenden Hochzeitsshow, die zumindest in Sachen Media-Coverage somit bald mit royalen Prunkfesten messen kann: Der Focus bildet die social media Debatten mit der Frage "Typisch deutscher Neid?" ab, und fragt: "Was halten Sie von der Lindner-Hochzeit?". So eine "ausschweifende Hochzeit" passe schließlich nicht zum Sparkurs der Regierung. "Das Foto im Porsche wird ihn noch verfolgen", schreibt im gleichen Magazin der Gastkommentator Franz Sommerfeld. Der Cicero (€) hat buchstäblich Empörungsschaum vor dem Mund:
"Das Ergebnis ist eine verheerende Symbolik, mit der jene gesellschaftliche Spaltung befördert wird, die die Ampel-Regierung eigentlich bekämpfen wollte. Wir erleben einen Ground Zero der politischen Kultur."
Wie sagte nochmal Helge Schneider? "Die Herren Politiker / sollen doch nach Hause gehen / die sind ja alle doof / die wollen nur unser Geld."
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+++ Hier in der Vanity Fair eine Zusammenfassung des gesamten Rechtsstreits inklusive Elon Musks Memes zum Nichtkauf von Twitter.
+++ Das Deutschlandfunk-Medienmagazin @mediasres berichtet hier über eine Initiative im Bundesrat, die Zeitungsverlage zu unterstützen: "Zeitungs- und Zeitschriftenverlage fordern schon seit Jahren staatliche Hilfe und beklagen steigende Kosten. Eine Presseförderung wurde bereits in verschiedenen Ansätzen diskutiert – und wieder verworfen."
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