Das Altpapier am 31. Mai 2022: Porträt der Altpapier-Autorin Jenni Zylka
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Das Altpapier am 31. Mai 2022 Mixed Emotionsgemeinschaften

31. Mai 2022, 08:35 Uhr

Der Prozess "Depp vs. Heard" geriert trotz breitem Interesse nur oberflächlich eine mediale Emotionsgemeinschaft. Eigentlich spaltet er. Ein Altpapier von Jenni Zylka.

Gemeinsam fühlen

Die US-amerikanische Historikerin Barbara H. Rosenwein prägte einst den Begriff der "Emotionsgemeinschaften" ("emotional communities"). Bei der Betrachtung dieser Gruppen, schrieb sie Anfang der 2000er Jahre, ginge es darum,

"spezifische Gefühlssysteme aufzudecken, und zu etablieren, was diese Gruppen als wertvoll oder schädlich empfänden, welche Gefühle sie wertschätzen, verachten oder ignorieren, die Art ihrer Verbindungen sowie die Modi jener Gefühlsausdrücke zu erkennen, die sie erwarten, unterstützen, tolerieren und bedauern."

Und wenn alle das ungefähr Gleiche empfinden und bedauern, entsteht das immer sehr beliebte Gemeinschaftsgefühl. Bei den Gruppen selbst handelt es sich nach Rosenwein um jene altbewährten Verbindungen, die bereits als soziale Divisionen funktionierten. Ob Familien, Nachbarschaften, Cliquen, Fanclubs, Internatsschüler und -schülerinnen oder römische Kohorten: Die Emotionsgemeinschaft wirft ihre Sentimente in einen Topf.

Weil der Begriff einleuchtend und sinnvoll ist, benutzt die Kommunikations- und Medienwissenschaft ihn ebenfalls in medialen Zusammenhängen. Eine Gruppe Wissenschaftlerinnen vom Publizistik- und Kommunikationswissenschaftsinstitut der FU Berlin hat 2021 das Buch "Affektive Medienpraktiken" veröffentlicht – darin findet sich ein interessantes Kapitel über die "Aneignung von Reality TV in Emotionsgemeinschaften" (hier in einem Blog zum Nachlesen).

Rituale und Affekte

Grob gesagt halten die Forscherinnen darin fest, dass "Realityformate Affektgeneratoren" sind, dass also etwa "Germanys Next Topmodel" (GNTM) Gefühle erzeugt, die man dann chipsessend in jenen angenehmen Emotionsgemeinschaften erleben kann. Die empathische, emotionale Bindung an die Protagonistinnen und Protagonisten und das durch den langen, ausdauernden Konsum entstandene Wissen macht dabei innerhalb der Gemeinschaft einen besonderen Feetz. Zudem ließe sich die Sache durch drei Merkmale definieren:

  1. Das Fernsehen, bzw. das regelmäßige Anschauen von GNTM ist für diese Gemeinschaft ein "Ritual",
  2. durch den Konsum von GNTM wird soziale Distinktion betrieben, etwa weil man eine "Läster-Gemeinschaft" bildet, und davon ausgeht, dass die in Bikini durch Fotoshootings staksenden Nachwuchsmodels auf jeden Fall dümmer sind als man selbst, sonst würden sie den Mist ja nicht machen, und
  3. Heidi und ihre Mädchen sagen permanent derartig dämliche Dinge, dass man sich zusätzlich als "Scham-Gemeinschaft" erlebt (das verhandelt auch der Begriff "guilty pleasure", der von den Forscherinnen beschrieben wird, als Spannungsverhältnis zwischen dem Spaß an der Rezeption und dem Wissen darüber, dass der Inhalt Kokolores ist).

Diese einleuchtende Definition der medialen Emotionsgemeinschaft fiel mir neuerlich wie Schuppen von den Augen, als ich über das unfassbare Medienecho auf einen juristischen Vorgang in den USA nachdachte: Heute ist nämlich der Tag, an dem ein Urteil im Prozess "Depp vs. Heard" fallen könnte (höchstwahrscheinlich dauert das jedoch noch). Der langwierige Pärchenstreit zwischen dem Pirates of the Carribean-Schauspieler und seiner Exfrau, die ebenfalls als Schauspielerin arbeitet, hat inzwischen medial fast alle Rekorde gebrochen, wird privat und öffentlich, digital und analog, in "seriösen" und Regenbogenmedien, an Familientischen, Bartheken und beim Saunaaufguss diskutiert. Zu Heard und Depp hat jeder eine Meinung.

My dog stepped on a bee

Es scheint sich bei den vielen Depp-Heard-Kommentierenden auf den ersten Blick ebenfalls um eine riesengroße, ziemlich internationale, alters- und sozialstrukturübergreifende Emotionsgemeinschaft zu handeln, bei der sämtliche von den Kolleginnen für Reality-TV ausdifferenzierten Merkmale zutreffen:

  1. Neue Prozess-Clips und Schnipsel werden als Ritual geschaut, eine nicht-empirische Umfrage ergab, dass viele morgens als Erstes das Neueste an der Depp-Heard-Front goutieren;
  2. man bildete eine Läster-Gemeinschaft, und echauffierte sich entweder (mehrheitlich) über Heards angeblich durchsichtiges Lügen (auf TikTok kursieren jede Menge ideenreiche und unterhaltsame Cover von Heards tränenreichen Ausbrüchen, hier ist eine Compilation der "My dog stepped on a bee"-Aussagen), oder über Depps angeblich erwiesene Schuld; und
  3. die Scham über beispielsweise das "schlechte Lügen" ist in den Kommentarspalten ebenfalls nicht weit, genauso wie die Urteile über angebliches moralisches Versagen.

Der Tagesspiegel leitet das oben beschriebene Emotionsgemeinschaftsgefühl in diesem erklärenden Artikel mit dem Satz ein:

"Wir fassen zusammen, was Sie vor dem Urteil wissen sollten",

und hebt den Privatstreit zwischen Prominenten, in dem es um Hörensagen, aus dem Zusammenhang genommene Tondokumente und Fotos mit angeblichen Verletzungen oder unzulässigen Verhaltensweisen sowie um 50 Millionen "Schadensersatz" auf der einen, und 100 Millionen auf der anderen Seite geht, damit auf die genannte Gesellschaftsebene: Wir "sollten" wissen, was passiert. Der Text beschreibt zudem die juristischen Vorgaben und Konsequenzen, und weist am Ende mit dem Satz

"Viele Menschen haben sich ihr Urteil dabei schon während des Prozesses gebildet"

darauf hin, dass Heard bereits in den letzten Wochen Opfer eines "social media Mobs" (hier der Artikel) war, der sich klassischerweise (denn moralische Empörung trifft traditionell die Frauen) gegen die Frau richtet – und sämtliche durch #metoo erkämpften Differenzierungen zunichte machen könnte (selbst wenn es stimmt, dass ein Großteil der Pro-Depp-Accounts Bots sind, wie hier u.a. der Rolling Stone berichtete).

Das Ende von #metoo

Auch der Spiegel fragte am Freitag:

 "Ist der Prozess Depp gegen Heard das Ende von #metoo?"

und stellte bereits in der Unterzeile fest:

"Vieles ist unklar, aber fertiggemacht wird die Frau."

Der (und einige andere, wie dieser) Artikel bezieht sich auf die Fronten, die sich inzwischen in den USA gebildet – und aus der gemütlichen Emotionsgemeinschaft zwei spinnefeindliche Gruppen gemacht haben: Ein "Team Depp" mit "Gerechtigkeit für Johnny"-Hashtags und misogynen Hass-Kommentaren steht einem Amber-solidarischen "Team Heard" gegenüber.

Zwar gab es auch bei den oben genannten Reality-TV-Emotionsgemeinschaften bereits massive Frontenbildungen, weil ein Format wie GNTM in seinem Ursprung kompetitiv ist – die Nachwuchsmodels treten schließlich gegeneinander an, und nur eine kann gewinnen. Auf eine der Kandidatinnen zu setzen, liegt demnach in der Natur des Konsums.

Doch der "Depp vs. Heard"-Prozess scheint zumindest in den USA, wo sich die Aktion mit Mahnwachen und Demonstrationen vor dem Gericht längst aus dem digitalen Raum herausbewegt hat, weitreichende Konsequenzen nach sich zu ziehen: Die gemeinsam fühlende Emotionsgemeinschaft hat sich zerstritten.

Aus dem (eh auch immer zweifelhaften) kollektiven Erleben der Unzulänglichkeit, der vermeintlichen Dummheit oder dem peinlichen Verhalten anderer Menschen ist Wut geworden, die sich in das echte Leben auswirken kann, und die, wie viele befürchten, konkrete Effekte auf das Zusammenleben haben kann: Falls Depp gewinnt, wird Heard als prominentes Beispiel für den Prototyp der kalten, karrierebewussten, lügenden Frau gelten, die nur vortäuscht, Opfer von männlicher körperlicher Gewalt geworden zu sein. Und falls Heard gewinnt, ist Depp für immer einer der typischen, toxischen Männer, die sich nicht ändern können.

Beide werden bei der privaten Beurteilung von Nicht-Psychologinnen und Nicht-Psychologen jetzt schon mannigfaltig mit psychischen Krankheiten ferndiagnostiziert. Zu befürchten ist auch, dass ein wie auch immer geartetes Urteil ohnehin gar nichts an den Ansichten der Depp- oder Heard-Unterstützenden ändern wird. Der Graben ist ausgehoben, und wird durch das Urteil der Geschworenen schwerlich komplett zugeschüttet.

"The process will be televised”

Depps und Heards mediale Bekanntheit spielt zudem einer fatalen US-amerikanischen Justiz-Regelung in die Hände, die hier in der Variety kritisiert wird: Weil der Prozess (u.a. auf "Law & Crime" und auf Court TV) übertragen wurde und wird, obwohl er – anders als eine Show wie GNTM nicht als Unterhaltungscontent zur Veröffentlichung erfunden wurde, ist er per se ein Medienereignis. Eines mit Traumquoten, wie die Variety schreibt:

"Viewership increased exponentially as the trial went on, according to Law & Crime, which livestreamed the entire thing. When Depp took the stand on Wednesday, live viewership on its channel peaked at 1,247,163 — more than twice the peak during his initial testimony in April.”

Die beiden Kontrahierenden sähen das "Televising", die mediale Übertragung des Prozesses, dabei angeblich unterschiedlich:

"Heard’s team tried unsuccessfully to exclude the cameras from the trial. At a pre-trial hearing on Feb. 25, attorney Elaine Bredehoft noted that there was already tremendous media attention as well as interest from 'fearful anti-Amber networks.' 'What they’ll do is take anything that’s unfavorable — a look,' Bredehoft said. 'They’ll take out of context a statement, and play it over and over and over and over again.' Depp’s lawyer, Ben Chew, welcomed the cameras. He said that Heard had already 'trashed' Depp in the media, and should not be allowed to hide at trial. 'Mr. Depp believes in transparency,' Chew said."

In dem Artikel kommen viele kritische Stimmen zu Wort, unter anderem ein Rechtsprofessor:

"'Allowing this trial to be televised is the single worst decision I can think of in the context of intimate partner violence and sexual violence in recent history,' said Michele Dauber, a professor at Stanford Law School. 'It has ramifications way beyond this case.'”

Die Rolle der Medien ist somit deutlich problematisch - einerseits sollen Medien neutral abbilden, was gesellschaftlich relevant ist, ohne dabei Urteile über private Fehden zu fällen. Andererseits ist der Fall durch die Übertragung omnipräsent, und darüber hinaus so stark in die sozialen Medien eingesickert, die sich mit Urteilen nicht zurückhalten, dass nicht über ihn berichtet werden kann, ohne seine Konsequenzen auf social media ebenfalls in den Fokus zu stellen.

Keine Daily Soap

Der Stern macht aus dieser Ambivalenz sein Kommentarthema. Unter der Überschrift "Die Soap Opera Johnny Depp und Amber Heard: Warum der Prozess nicht enden darf", gibt die Autorin zu, sich vor dem Ende des Prozesses zu fürchten:

"Eine verfilmte Soap-Opera einer kranken und toxischen Ehe. Doch wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, dann macht mich die Aussicht auf das, was der Boulevard-Journalismus danach zu bieten hat, sogar ein bisschen traurig. Eine fast schon ekelhafte Denkweise, wenn man berücksichtigt – und das sollte man – dass es in diesem Gerichtsaal darum ging, dass zwei Menschen sich einst geliebt haben."

Sie schreibt am Ende:

"Trotzdem sagt ein Teil von mir: Ich möchte nicht, dass dieser Prozess endet. Weil er mich auf eine kranke Art unterhält. Doch das liegt daran, dass die Übertragung der toxischen Beziehung zwei großer Schauspieler mir meinen Bezug zur Realität nahm und die Grausamkeit, die hinter manch beschriebener Tat steckte, wie eine Daily-Soap-Opera darstellte."

Doch das Ende einer echten Beziehung ist, auch wenn es im Fernsehen oder anderen Medien "läuft", eben keine Daily Soap, kein Reality TV, und auch keine Emotionsgemeinschaft. Sondern einfach nur traurige Realität.


Altpapierkorb ("Must have" im Reality TV, Diversitätsbericht Regie, "Sesamstraße" auf ukrainisch)

+++ Irgendwie passend zum obigen Text schreibt die FAZ hier darüber, was "Reality-Fernsehen heute zeigen muss".

+++ Der siebte Diversitätsbericht des Bundesverbands Regie wurde soeben veröffentlicht, und, tätää, der Anteil an Fernsehregisseurinnen ist auf 29% gestiegen! 50 % sind das aber noch lange nicht (zumal Frauen in der Altersklasse über 50 Jahren nur in 6,7% als Regisseurinnen beschäftigt werden. Das nennt man Ageism.)

+++ Ernie und Bert spreche jetzt ukrainisch – die Sesamstraße veröffentlichte in der ARD Mediathek entsprechende Spots für aus der Ukraine geflüchtete Kinder.

Neues Altpapier gibt es am Mittwoch.

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