Das Altpapier am 15. Dezember 2017 Weitwinkel wäre was
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Die USA verabschieden sich von der Netzneutralität und Facebook demonstriert deutschen Verlagen schon mal, was das für Folgen haben kann. Die ARD ist uneins. Neue Ideen für die Refinanzierung von Inhalten im Netz sind alt und blöd. Ein Mega-Merger mit Folgen. Wolf heißt jetzt Cord, sonst ändert sich nichts. 200 Jahre Knast für Jo Gerner. Ein Altpapier von Juliane Wiedemeier.
Bitte erheben Sie sich von Ihren Sitzen. Wir gedenken kurz: dem Internet in den USA. Denn so, wie wir es kennen, wird es nicht mehr sein, seitdem die Federal Communications Commission (FCC) gestern die Netzneutralität aufgegeben hat.
Hintergründe und Folgen für die Amerikaner hat Tomas Rudl für Netzpolitik.org bereits im Vorfeld aufgedröselt; in einem zweiten Text erklärt er jetzt zudem:
"Auch wenn uns in Europa die EU-Verordnung zur Netzneutralität zu einem großen Teil schützt, werden wir die folgenschwere Entscheidung in den USA mittel- bis langfristig zu spüren bekommen. Denn zu bezahlende Überholspuren werden sich nur große, kommerzielle Anbieter leisten können, was ihre dominante Position nur weiter zementieren wird. Erheblich schwerer als bisher werden es kleine, unbekannte Dienste haben – die uns vielleicht niemals erreichen werden, weil sie auf eine offene Infrastruktur angewiesen sind. Oder gar nicht erst erfunden werden, weil es sich nicht lohnt, die hohen Hürden zu überspringen."
Und das ist nur ein Aspekt, wie Christoph Fiedler vom Verband Deutscher Zeitschriftenverleger im Interview mit Sebastian Wellendorf von @mediasres meint:
"Ich würde sagen, im Moment ist weitgehend die Netzneutralität faktisch gesichert. Aber die amerikanische Entscheidung könnte die europäischen Unternehmen ermutigen, mehr Druck zu machen, dass auch hier Geschäftsmodelle durchgesetzt werden, die dann die große Zahl der kleinen Anbieter in Medien, aber auch im anderen Bereich benachteiligen."
Wenn Konzerne wie Amazon, Netflix oder Youtube begännen, sich auf eine Überholspur im Netz einzukaufen, bekämen selbst Unternehmen wie Springer Probleme - von Kleinverlagen ganz zu schweigen, so Fiedler.
Zwar haben sich, einerseits, Netflix, Facebook und Google nach der FCC-Entscheidung gegen diese ausgesprochen. Andererseits wissen wir ja, dass das Gesichtsbuch auf seiner eigenen Plattform große Freude daran hat, manchen Informationen Vorrang einzuräumen und andere auszubremsen, wie Marvin Schade bei Meedia mit einem aktuellen Beispiel aus deutschen Online-Redaktionen belegt:
"Neuesten Untersuchungen des Plattform-Analysten Parse.ly zufolge nimmt der via Facebook generierte Traffic seit Wochen ab, von Februar bis Oktober dieses Jahres soll er um bis zu 25 Prozent gesunken sein. (…) Begründet liegen kann der Reichweitenverlust in den bereits vor einiger Zeit angekündigten Änderungen im Newsfeed. Demnach richtet sich der Algorithmus zunehmend auf Freunde und Familien aus, Inhalte von Medien rücken in den Hintergrund, hieß es im vergangenen Jahr. Diese Prioritäten gelten immer noch."
Der frühere Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof hat also nicht Unrecht, wenn er in der aktuellen Ausgabe epd medien (derzeit nicht online) schreibt:
"Die Kernprobleme liegen nicht in der faktischen Konkurrenz zwischen Rundfunkanstalten und anderen Informationsanbietern beim Zugang zur digitalen Welt, sondern in den diese Technik beherrschenden Unternehmen. (…) Geboten ist eine Kooperation für die Medienfreiheit, ein gemeinsamer Kampf gegen einen immer engeren Freiheitsbereich."
Einfach mal nicht drei Monate lang über Nordkorea-Zitate von Mathias Döpfner zu sinnieren, sondern stattdessen das Tele- gegen das Weitwinkelobjektiv zu tauschen und die Zukunft des großen Ganzen ins Visier zu nehmen ist eine Forderung, die immer lauter wird - etwa auch im Zapp-Kommentar von Andrej Reisin, der nach ausführlicher Analyse der Presseähnlichkeit von ARD und ZDF wie folgt schließt (yep, in einem langen Textbeitrag auf ndr.de, doch dieser Ironie können wir uns frühestens nach der nächsten Maus und sicherlich nicht in diesem langen Riemen auf mdr.de widmen):
"Am Ende könnten die Nutzer also in jeder Hinsicht im Regen stehen: Ohne ein wirklich gut nutzbares Online-Angebot von ARD, ZDF und Deutschlandradio, aber auch mit einer erheblich eingeschränkten Auswahl an Online-Qualitätspresse, die zudem darauf angewiesen sein wird, ihre Inhalte mithilfe von Bezahlschranken zu monetarisieren. Profitieren dürften von so einem Szenario lediglich die großen Internet-Konzerne - und außerdem die Verbreiter von Falschnachrichten und gezielter Propaganda."
Blöd bleibt nur, dass solche Erkenntnisse immer erst am Ende der Klein-Klein-Analysen stehen und dort dann bleiben.
Zwei ARD-Intendanten wollen endlich mit den Verlegern in den Sonnenuntergang reiten
Das Zitat von Kirchhof ist übrigens das große Finale seiner Antwort auf einen epd-Beitrag des Freiburger Staatsrechtlers Friedrich Schoch aus dem November (Altpapier), in dem dieser wiederum auf Kirchhoffs ARD-ZDF-Transparenzgutachten aus dem September (Altpapier) geantwortet hatte.
Sind Sie noch wach? Genau das meine ich.
Aus diesem Grund widmen wir uns an dieser Stelle jetzt auch nicht weiter der Brieffreundschaft, die sich nach der vermeintlichen, bereits gestern hier thematisierten Zeichen-Vorgabe für Texte bei wdr.de zwischen WDR-Redakteursvertretungs und WDR-Intendanten Tom Buhrow entsponnen hat (wen doch Details interessieren, findet diese etwa bei Übermedien oder in der taz), und schauen lieber kurz auf die Analyse von Uwe Mantel, Alexander Krei und Timo Niemeier bei DWDL.
Mit vereinten Kräften lesen sie aus der Geschichte große Unzufriedenheit über die aktuelle ARD-Chefin Karola Wille heraus, der es "in ihren zwei Jahren als ARD-Vorsitzende nicht gelungen sei, einer Lösung im Streit mit den Velegern näherzukommen."
Nun scheinen Buhrow auf der einen und Bald-ARD-Chef Ulrich Wilhelm mit seinem Puls-Frequenzwechsel-Rückzug (Altpapier) auf der anderen Seite schon mal einen Strategiewechsel vorzubereiten, wobei sie sich allerdings vielleicht Freunde bei Verlagen, aber nicht im eigenen Haus machen (nochmal DWDL):
"Die Strategie der starken Begrenzung der textlichen Inhalte war innerhalb der ARD offenbar nicht abgesprochen. (…) Mit Buhrows Alleingang schlage der WDR nun gewissermaßen Pflöcke ein, die andere ARD-Anstalten in Zugzwang bringen. Der Unmut in der ARD wird hinter vorgehaltener Hand von vielen Seiten artikuliert."
Brüste! Nischen! Logo-Verkauf! Verleger-Ideen zur Refinanzierung im Netz
Was die ARD in den kommenden Monaten zu tun gedenkt, um das Erlöskonzept der Verlage zu retten, deutet sich damit an. Sie selbst haben aber auch Ideen, wie Axel-Springer-Vorstand Jan Bayer im Interview mit Jürgen Scharrer bei Horizont darlegt:
"Klickbasierter Journalismus ist anders als Journalismus, der sich an zahlende Leser wendet. Ich bin überzeugt, dass die Verlage für jeden ihrer Titel diese fundamentale Entscheidung treffen müssen. Und das hat dann auch ganz konkrete Auswirkungen darauf, wie Sie das Unternehmen steuern: Incentivieren Sie Reichweite oder Abonnentenzahlen? Wir haben zu lange überall beides gleichzeitig getan."
Leser zahlen nicht für Müll - das ist doch eine interessante Erkenntnis aus dem Unternehmen, das Bild Plus im Portfolio hat. Aber wie findet man heraus, was Lesern was wert ist? Bei Springer lautet die Antwort:
"Im Kern steht, Produkte zu entwickeln, für die Menschen bereit sind, Geld zu bezahlen. Das ist die große Aufgabe, bei der eine intelligente Nutzung von Daten zum Beispiel hilft, Produkte passgenauer zu gestalten."
Die Medienwelt der Verlagshäuser würde demnach in Zukunft aus Blut-Brüste-Blaulicht-Kaschemmen auf der einen und sehr spezielle Filterblasen bedienenden Nischenprodukten auf der anderen Seite bestehen.
Hm. Vielleicht noch irgendwelche anderen Zukunftsideen, anyone?
Ähm, nein, Spiegel, für die Nutzung des Spiegel-Bestseller-Logos abkassieren zu wollen, wie es das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels vermeldet, ist nicht die Lösung. Und nein, internationale Nachrichtenagenturen, auf ein Leistungsschutzrecht auf europäischer Ebene und damit eine Kofinanzierung durch Google zu pochen, auch nicht (Meldungen in der SZ und bei Meedia).
Verschieben wir das Thema auf Wiedervorlage.
Altpapierkorb (mit Walt Disney, BND, Ufa und Jo Gerner)
+++ Der Mega-Merger des gestrigen Tages, natürlich: Walt Disney kauft einen Großteil von Rupert Murdochs 21st Century Fox. "It is the biggest counterattack from a traditional media company against the tech giants that have aggressively moved into the entertainment business. Disney now has enough muscle to become a true competitor to Netflix, Apple, Amazon, Google and Facebook in the fast-growing realm of online video", kommentiert die New York Times. "Mit Blick auf den deutschen Markt besonders spannend ist jedoch die Tatsache, dass Disney durch den Deal ganz nebenbei auch beim Pay-TV-Konzern Sky einsteigt - und damit Zugang zu 23 Millionen Haushalten in Deutschland, Österreich, Großbritannien, Irland und Italien erhält. Zunächst handelt es sich dabei um 39 Prozent der Anteile, doch vor dem Abschluss der Transaktion wird erwartet, dass 21st Century Fox versuchen wird, die geplante Übernahme der restlichen 61 Prozent, die man noch nicht besitzt, abzuschließen", erklärt bei DWDL Alexander Krei. Was das über das (einstige) Medien-Imperium des Rupert Murdoch aussagt, weiß der Guardian.
+++ "Das Bundesverwaltungsgericht hat dem Bundesnachrichtendienst (BND) nach einem zweijährigen Rechtsstreit untersagt, Telefonie-Metadaten von Mitgliedern der Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen (ROG) in seinem Verkehrsanalysesystem VerAS zu speichern und auszuwerten", meldet Heise.
+++ Mehr Meinung, und zwar zu mehr Themen als Innen- und Außenpolitik, und was Heribert Prantl mit seinem neuen SZ-Ressort noch so vorhat, steht in Ulrike Simons Spiegel-Daily-Kolumne.
+++ Zum 100. Geburtstag des ehemaligen ZDF-Intendanten Karl-Günther von Hase gratulieren Markus Schächter auf der Medienseite der FAZ (Blendle) und Thomas Bellut bei epd medien (derzeit nicht online).
+++ Say goodbye zu Storify: Die Plattform macht nicht nur zum Mai nächsten Jahres dicht, sondern nimmt auch alles offline, steht im Blog. Tweets aneinanderreihen kann mittlerweile halt jedes CMS.
+++ "Wie Drogendealer präsentierte die birmesische Polizei Wa Lone und Kyaw Soe Oo auf einem Foto, das über die Facebook-Seite des Informationsministeriums verbreitet wurde. Dabei sind sie keine Verbrecher. Sie sind Journalisten. Die Behörden im neuen Birma scheinen zwischen beidem immer weniger zu unterscheiden. So wie früher." (Verena Hölzl in der taz)
+++ Kein Jahresende ohne Zukunftsprognosen (wir sprachen schon davon). Beim Niemanlab haben sie davon gleich einen ganzen Stapel zusammengetragen. Die deutschsprachige Kurzfassung hat Martin Giesler in seinem Blog - Themenüberblick: "das verloren geglaubte Vertrauen der Leser" / "die Rolle von Machine Learning / "AI für den Journalismus im kommenden Jahr" / "die Frage nach den Abhängigkeiten zu den Social Media Plattformen und den Technologie-Unternehmen".
+++ "Macht die Ufa heute also, wofür sie 1917 gegründet wurde?", fragt sich Altpapier-Kollege Christian Bartels u.a. in seiner evangelisch.de-Kolumne, die schon mal den 100-Jahre-Ufa-Feierlichkeiten vorgreift, auf die wir uns am Montag freuen dürfen.
+++ Wolfgang Bahro ermöglicht die Ufa übrigens seit 25 Jahren, als Jo Gerner fies zu sein. "Für all seine Straftaten, haben echte Kollegen des fiktiven Anwalts errechnet, hätte er bei konsequenter Strafverfolgung 199,5 Jahre hinter Gitter verbracht", berichtet Jan Freitag heute im Tagesspiegel anlässlich des Dienst-Jubiläums des "GZSZ"-Ekels.
+++ "Ganz auf der Linie anderer Produkte der Verlagsgruppe Deutsche Medien-Manufaktur ('Landlust', 'Hygge') wird die Rückkehr zu traditionellen Werten propagiert, auch zum Einfachen, zum Sinnlichen - oder zum 'Wesentlichen', wie es im Claim heißt. Aber warum eigentlich 'Cord'? Vor gut einem Jahr erschien eine Testausgabe unter dem Namen 'Wolf'. Diese sei mit 30.000 Exemplaren sehr erfolgreich gewesen, aber viele Männer hätten sich vom Namen nicht angesprochen gefühlt, schreibt Chefredakteurin (!) Sinja Schütte." Michael Ridder im aktuellen epd medien (derzeit nicht online) über Cord. Am Trend wie Magazin namens Hygge arbeitet sich derweil im Blog Kleiner Drei Juliane Leopold ab.
+++ Neu bei Netflix und auf der SZ-Medienseite: "Wormland". Willi Winkler rezensiert das Doku-Drama über LSD-Versuche der CIA und den mysteriösen Tod des Bakteriologen Frank Olson.
+++ Einen Phoenix-Fernsehtipp für morgen Abend hat derweilt Cindy Riechau auf der Medienseite der FAZ (Blendle): "'Die Akte Oppenheimer' beleuchtet detailgetreu und fundiert die Geschichte des jüdischen Kaufmanns Joseph Süßkind Oppenheimer, der 1737, ein Jahr nach dem Tod seines Arbeitgebers Herzog Karl Alexander von Württemberg, Opfer antijüdischer Hetze und schließlich eines Justizmordes wurde."
Das nächste Altpapier erscheint am Montag. Schönes Wochenende!