Das Altpapier am 30. Mai 2022: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier am 30. Mai 2022 Wenn ein Endspiel zweitrangig wird

30. Mai 2022, 12:02 Uhr

Was für ein Medienbild hat Toni Kroos? Warum war das ZDF am Samstag bei der Übertragung des Champions-League-Finales so schlecht aufgestellt? Warum bringt die "Tagesschau" Uefa-gefällige Falschdarstellungen? Bliebe eine Enthüllung wie der Watergate-Skandal heute relativ wirkungslos? Ein Altpapier von René Martens.

Die Medienkritik eines "High Class Hools"

Wenn die Öffentlich-Rechtlichen Live-Spitzenfußball zeigen, dann erfüllen sie immer noch ihre längst abhanden gekommen geglaubte Funktion als Lagerfeuer oder vielleicht auch "Herdfeuer" (Peter Ahrens). Wesentlich zum Lager- bzw. Herdfeuercharakter trug am Samstagabend bei der Übertragung des Champions-League-Endspiels zwischen Real Madrid und dem FC Liverpool der vorpommernsche Madrilene Toni Kroos bei, als er bei einem Interview den ZDF-Mann Nils Kaben zusammenstauchte:

"Du hattest jetzt 90 Minuten Zeit, dir vernünftige Fragen zu überlegen, ehrlich. Und jetzt stellst du mir zwei so Scheißfragen."

Als er das Interview schon abgebrochen hatte, variierte Kroos die Rechnung noch ein bisschen:

"Du stellst erst drei Negativfragen, da weißt du doch schon, dass du aus Deutschland kommst."

t-online.de hat mal nachgezählt. In der ersten Frage, eher eine dieser in solchen Situationen schon typischen gefühligen Nicht-Fragen ("Herzlichen Glückwunsch, was für ein großartiger Abend. Können Sie selbst das schon richtig fassen?"), war "Negatives" nicht auszumachen. Für die zweite - Kaben wollte wissen, warum Kroos nach dem Spiel ins Publikum gewunken hatte - galt das ebenfalls.

Nicht einmal sonderlich kritisch, aber aus Sicht des Siegers Kroos negativ war dann eine Frage zum Spielverlauf und zur Dominanz des Gegners - und das war dann der Anfang vom Ende des Interviews. Ein bisschen trat dann später auch noch Kabens Vorgesetzter Thomas Fuhrmann nach ("Vielleicht hätte der Kollege noch etwas bei den Emotionen bleiben und ein wenig später zum Kern des Spiels kommen sollen", siehe dpa/n-tv.de)

Der freie Journalist Tobi Müller kommentiert bei Facebook:

"Wie pampig Kroos sofort reagiert, wenn er nach dem Spielverlauf gefragt wird, und was er im Off dann noch hinterher ruft wie ein High Class Hool, erzählt etwas über die Funktion von Medien, wie man sie sich in der Vermögensklasse von Toni Kroos vorstellt und ich glaube auch, dass das einer der wenigen Trickle Down Effekte ist, die wahr sind, weil sie auch den Medienhass von so vielen befriedigen: Medien haben 'positive Fragen' zu stellen, nicht 'negative'. Nur schon eine Frage danach, wie sehr Real von Liverpool 'in Bedrängnis' geraten sei, ist für Kroos eine 'Scheißfrage' und typisch 'Deutschland'."

Es geht also um zwei Fragen: Welches Bild haben die von Toni Kroos’ Reaktion beglückten Zuschauenden von den Medien? Und welches Bild hat er selbst? Auf die erste geht der schon erwähnte Peter Ahrens für den "Spiegel" (€) ein, auch er sieht es so, dass Kroos bei einem Großteil der Zuschauenden gut ankam, weil sie es so empfanden, dass da ein berühmter Jemand stellvertretend für sie ihren Unmut über Journalistinnen und Journalisten (und vielleicht speziell die des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zum Ausdruck brachte) zum Ausdruck brachte:

"Nichts ist anscheinend unterhaltsamer als der Konflikt zwischen Fragendem und Befragtem, der Augenblick, wenn der Sportler es 'dem Reporter mit dessen dummen Fragen mal so richtig zeigt', wie anschließend so oder so ähnlich hundertfach in den sozialen Medien genugtuend festgestellt wird. Das ist auch Ausdruck eines tief sitzenden Misstrauens gegenüber den Medienleuten, ein Unmut, der sich vor allem und mit Vorliebe über die Live-Reporter im Fernsehen ergießt."

Zur zweiten Frage, also der nach der "Funktion von Medien, wie man sie sich in der Vermögensklasse von Toni Kroos vorstellt" (Müller) schreibt Cornelius Pollmer in der "Süddeutschen" (€).

"Kroos konnte in diesem Fall schlecht damit umgehen, nicht in einem von ihm kontrollierten Resonanzraum zu sprechen, sondern mit einem Reporter, der eben kein Cheerleader ist."

Spitzensportler erwarten offenbar, dass Medien dafür da sind, ihre Botschaften, also die des Sportlers, zu verbreiten. Es herrscht das Missverständnis vor, dass Medien Dienstleister des Sports sind - was auch damit zu tun hat, dass Journalistinnen und Journalisten diese Rolle allzu oft erfüllen. Das hat im Fußball auch viel damit zu tun, dass sich die Akteure daran gewöhnt haben, dass Interviews zu einem großen Teil bei vereinseigenen Kanälen stattfinden, bei denen niemand eine "kritische" oder "negative" Frage stellt.

Im Fall Kroos ist noch interessant, dass er im Nebenjob ja auch eine Art Medienmacher ist. Zunächst der Magazinerfinder Oliver Wurm und am Sonntag beispielsweise auch "Die Welt" wiesen darauf hin, dass Kroos die "Hattest jetzt 90 Minuten Zeit"-Äußerung in ähnlicher Form schon einmal in der vergangenen Woche in der aktuellen Ausgabe seines bzw. mit seinem Bruder Felix betriebenen Podcasts "Einfach mal Luppen" gebracht hatte. Dort bezieht sie sich auf eine Frage eines RTL-Interviewers nach dem Europa-League-Endspiel (ab 29:30):

"Der hat ja 120 Minuten Zeit (…), sich ne Frage auszudenken, (und) er hat’s nicht geschafft."

Dass der Medienkritiker Kroos am Samstagabend im ZDF einen Textbaustein aus seiner eigenen Tätigkeit als Medienmacher variiert hat (so wie es hauptberufliche Medienmacher ständig tun), hat auch eine gewisse Ironie.

Das ZDF macht Fehler, und die "Tagesschau" versagt total

Das ZDF und der Journalismus - unter diesem Schlagwort muss man im Zusammenhang mit dem Endspiel aber noch auf ein ganz anderes Thema eingehen. Unzureichend, um es vorsichtig zu formulieren, war die Berichterstattung über die Beinahe-Katastrophe, die sich in den Stunden vor dem Spiel vor dem Stadion abspielte, als die Pariser Polizei Menschen wie "Vieh" bzw. "wilde Tiere" behandelte und ein "Gemetzel in einem Ausmaß (stattfand), das insofern gefährlich war, als die Vorstellung, dass Menschen ihr Leben verlieren würden, manchmal realistisch war". So formuliert es Daniel Austin für metro.co.uk, und obwohl man etwa angesichts eines Begriffs wie "Gemetzel" (im Original "carnage") in Rechnung stellen muss, dass es sich hier um ein Boulevardmedium handelt (hier ein Blick auf die gedruckte Titelseite von heute). Die Darstellung deckt sich aber mit dem, was Autoren nicht-boulevardesker Medien berichteten. Austin schreibt:

"Inside the Stade de France there was no atmosphere to speak of. Ashen faces glanced at one another, brief nods were given to indicate that people were shaken but physically unharmed, and fans texted the friends and family members they had lost sight of in the havoc to check on their safety. The match was played, and Liverpool lost, but none of it really mattered anymore. I felt deeply ill throughout the 90 minutes, unable to concentrate on passages of play with the fear and panic etched on people’s faces repeating over and over again in my mind. Those football fans, people who wanted to attend a game and back their team to the hilt, feared serious physical harm or worse and the terror was painfully visible."

Nun konnten die ZDF-Leute das am Samstagabend nicht sehen, aber es hätte ihnen auffallen können, dass im Liverpooler Bereich des Stadions keine "nennenswerte" Stimmung herrschte - und man hätte mal recherchieren können, was dort los ist.

Das ZDF hatte zunächst die Liverpooler Polizeiopfer zu Tätern gemacht. In der Nachberichterstattung kam dann per Videoschalte aus Frankfurt Michael "Öri" Gabriel von der Koordinationsstelle Fanprojekte zu Wort, der während der Übertragung in einer SMS bei Moderator Jochen Breyer gegen die Darstellung der Liverpooler Fans durch das ZDF protestiert hatte. Natürlich kann man den Sender dafür loben, dass er auf dem Wege dieser Schalte seine eigenen Falschdarstellungen korrigierte (siehe dazu die Reaktionen auf einen Tweet Jochen Breyers), aber es wirkte komplett bizarr, dass ein in seiner Frankfurter Wohnung sitzender Fanexperte auf Basis vertrauensvoller Quellen beschrieb, was vor dem Stadion in Paris passiert war, aus dem das ZDF berichtete. Stunden vor dem Spiel war bereits klar, dass das Polizeivorgehen gefährliche Ausmaße angenommen hatte (siehe diesen Chronik-Thread von Rob Draper von "The Mail on Sunday"), und da kann man auch fragen, ob der Sender denn in Paris keine journalistischen Mitarbeiter hat, die er kurzfristig zum Ort des Geschehens schicken kann.

Andere Medien mussten jedenfalls nicht zu einem Experten aus einer anderen Stadt in einem anderen Land schalten, um zu wissen, was vor dem Stadion passierte. Ihre Kollegen waren nämlich dort. Das gilt nicht nur für "The Mail on Sunday", sondern zum Beispiel auch für die Nachrichtenagentur AP und den Sender ESPN. Sie berichteten beinahe in Echtzeit darüber, was vor sich ging (die Ausschnitte aus letzterem Video sind seit Samstag immer wieder zu sehen).

Hervorzuheben ist, was während der zweiten Halbzeit des Spiels Kaveh Solhekol, der "Sky Sports news chief reporter", berichtete. Dieser Chefreporter hat - wie er an anderer Stelle betont - keine einzige Sekunde des Spiels im Stadion gesehen, sondern seinen gesamten Arbeitstag außerhalb verbracht. Vermutlich weil sich dort aus journalistischer Sicht die eigentliche Geschichte des Abends abspielte. Der Privatsender Sky Sports ist, wie der Name schon sagt, auf Sport spezialisiert, er berichtet normalerweise nicht über Polizeiterror, während man an das ZDF als öffentlich-rechtlichen Sender da durchaus andere Ansprüche haben kann.

Der Deutsche-Welle-Reporter Matt Pearson wiederum ging sowohl zu Beginn des Spiels als auch währenddessen zumindest zeitweilig nach draußen, weil das Spiel selbst "sich zweitrangig anfühlte" - wie er am Tag danach in einem Thread schreibt.

Der Sky-Chefreporter Solkehol benannte (ab 0:28) noch während des Spiels den zentralen Fehler der Polizei: Dass "the pressure point which caused the majority of problems" (um noch mal Draper aufzugreifen) daraus resultierte, dass die Polizei den Weg unter einer Autobahnbrücke mit mehreren Vans zuparkte und auf diese Weise eine Absperrung errichtete, die zu einem engem "Flaschenhals" führte - und dafür sorgte, dass Tausende Menschen dort stundenlang ausharren mussten.

Erwähnenswert ist auch noch, dass der "The Mail on Sunday"-Mann Draper beschreibt, wie er auf Polizisten einredete, wie er Textnachrichten an die Uefa schrieb, wie er selbst Angst bekam. Erwähnenswert auch, was der erwähnte Matt Pearson am Sonntag für die Deutsche Welle schrieb:

"Thousands of supporters being sent to the wrong place, the spread of questionable rumors about fake tickets, the decision to close initial ticket checkpoints and the slow reaction of inexperienced police lacking leadership were among the primary causes of the disturbing scenes that overshadowed Saturday's Champions League final."

Erwähnenswert ist das alles, weil in der 20-Uhr-Ausgabe der "Tagesschau" am Sonntag (ab TC 10:30) im Moderationstext dann Folgendes zu hören war:

"Überschattet wurde das Finale von Problemen am Einlass und darauf folgenden Auseinandersetzungen mit der Polizei."

Und im Beitrag dann:

"Vor allem Liverpooler Anhänger hatten versucht, über die Zäune ins Stadion zu gelangen (…) Es waren nach Uefa-Angaben mehrere tausend gefälschte Tickets im Umlauf."

Dabei war, wie gesagt, das entscheidende "Problem" lange vor dem "Einlass" zu beobachten, also bevor die Liverpooler Fans überhaupt auf das Stadiongelände gelangt waren. Was passierte zu welcher Uhrzeit? Wann genau ergriff die Polizei welche gefährlichen Maßnahmen? Das alles haben Journalisten seit Sonntagabend teilweise penibel beschrieben (siehe die verlinkten Beiträge). Die "Tagesschau" agierte dagegen offenbar nach dem Motto: Was interessieren uns die Berichte unabhängiger Journalisten? Und präsentierte eine Mischung aus Uefa-gefälligen Viertelwahrheiten, Verdrehungen und Opfer-Verleumdungen. Während das ZDF also noch am Abend des Ereignisses Falschdarstellungen korrigierte, verbreitete die ARD ähnliche Falschdarstellungen noch einen Tag später.

Auf den Punkt brachte es dagegen Jörg Jakob, der Chefredakteur des "kicker", am Ende dieses Videos: "Die dafür bekannten französischen Polizeikräfte agierten angriffslustiger, ja aggressiver als Real auf dem Platz" (Was wird bloß Toni Kroos dazu sagen?). Diese "Schande" habe "hauptsächlich die Uefa zu verantworten".

Dass zum Beispiel eine Kostenlos-Boulevardzeitung wie "Metro" und ein Fachblatt, dem man lange nachgesagt hat, das es nicht willens oder in der Lage sei, über den Tellerrand des Fußballs hinaus zu schauen, um Längen bessere journalistische Arbeit abliefert als die "Tagesschau", ist allemal bemerkenswert - und ich schreibe das in dem Wissen, dass ich hier verschiedene journalistische Darstellungsformen vergleiche.

Damit das hier aber nicht vollständig in ARD-Bashing ausartet, sei angemerkt, dass sportschau.de die Einschränkungen der Pressefreiheit in Paris thematisierte:

"Neben vielen Fans wurden teilweise auch Medien in ihrer Freiheit eingeschränkt. Ein Journalist der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) berichtete, dass Sicherheitskräfte versucht hätten, das Filmen des Einsatzes von Tränengas zu unterbinden. Personal der UEFA habe den Eingriff verhindert. Ein weiterer AP-Mitarbeiter gab an, dass er von Sicherheitskräften zum Löschen eines Videos gezwungen wurde - ansonsten hätte er nicht zurück ins Stadion gedurft."

Letzteres bezieht sich auf einen Tweet des Kollegen Steve Douglas von AP.

Sie wollen doch nur jammern

Wann ist heutzutage ein Thema "durch"? Zumindest wenn es um eine TV-Produktion geht, kann es vorkommen, dass eine Debatte wesentlich später versandet als es in der Prä-Mediatheken-Zeit der Fall war. Es können immer wieder neue Aufmerksamkeitswellen entstehen, weil Filme in der Regel länger verfügbar sind und weil nicht jeder Zeit hat, sich einen Film anzuschauen, wenn die ersten darüber diskutieren.

Der Zweck dieser Vorrede? In der FAS (und für 75 Cent bei Blendle) bringt Ronya Othmann einen Nachklapp zur oft sogenannten Tellkamp-Doku bei 3sat (Altpapier von Donnerstag vorvergangener Woche):

"Was hat der vermeintlich gecancelte Tellkamp nun jetzt schon wieder von sich gegeben? Neunzig Minuten lang sieht man Tellkamp dabei zu, wie er zu Klaviergeklimper auf der Schreibmaschine rumtippt, Papierkladden herumträgt, an der Elbe entlangspaziert und jammert, sehr viel jammert. Über die sogenannte Verengung der Meinungskorridore, man dürfe ja gar nichts mehr sagen (was sollen da erst Autoren aus tatsächlichen Diktaturen wie Syrien, Russland oder China sagen?); über die deutsche Medienlandschaft (alles dasselbe, von taz bis F.A.Z.); über die armen indigenen Ostdeutschen – hat er wirklich "indigene" gesagt?

Othmann ordnet das folgendermaßen ein:

"Dieses Opfergetue ist keine Tellkamp’sche Spezialität, man kennt es von Rechten, die sich im Widerstand zu einem vermeintlich links-grünen politisch-kulturellen Mainstream wähnen."

Und an dieser Stelle lässt sich dann auch wieder ein aktueller Bezug herstellen - zu dem Inhalt des in der vergangenen Woche gestarteten Dokumentarfilms "Volksvertreter", über den Christoph Twickel bei Zeit Online schreibt:

"Eine der Hauptklagen moderner rechtspopulistischer Parteien lautet, dass sie in den 'Mainstreammedien' permanent durch ein dämonisierendes Deutungsmuster geschickt würden. Framing ist zum rechten Kampfbegriff geworden. Auch die Protagonisten von Andreas Wilckes AfD-Langzeitbeobachtung 'Volksvertreter' werfen sich permanent in die Pose des Opfers. Doch der Film tut ihnen gerade nicht den Gefallen, sie vorzuführen. Das erledigen sie selbst."

Und wie sieht das "Opfergetue" (Othmann) aus? Twickel:

"Die Hauptbeschäftigung der Abgeordneten im Film besteht darin, für YouTube, Twitter & Co Aufregung darüber zu produzieren, wie furchtbar die AfD von den anderen Parteien ausgegrenzt wird."

Mitte Juni läuft dann ja auch noch "Eine deutsche Partei" an, ebenfalls ein rein beobachtender, also ohne textlichen Kommentar auskommender Dokumentarfilm über die AfD, über den Ex-Altpapier-Autor Matthias Dell anlässlich der Berlinale-Premiere bei Zeit Online schrieb:

"Das selbstmitleidige Rumgejammer über Menschen und Öffentlichkeiten, die kein Interesse an AfD-Parolen haben, ist ein heimliches Motiv des Films."

Ich bin ja noch zu einer Zeit politisch sozialisiert worden, als Rechtsradikale noch nicht versucht haben, mit einer Jammerstrategie bei ihrer Zielgruppe zu reüssieren. Was nicht heißt, dass das bessere Zeiten waren. Aber interessant ist doch die Frage: Wann und warum kippte das eigentlich in die heutige Richtung? Wann wurde die Jeremiade zum politischen Hauptinhalt? Nach Gründung der AfD und der Formierung von Pegida?

Als noch die CDU Alexander Gauland ein geistiges Obdach bot, schrieb er bereits, "selbst ernannte Zensoren" wollten verhindern, dass "Debatten überhaupt noch geführt werden dürfen", und "die andere, vom Mainstream abweichende Position ins moralische Aus drängen". Das war 2012. Aber das ist nur ein Anekdötchen (mehr davon hier).

Während Christoph Twickel in seiner Zeit-Online-Rezension zu "Volksvertreter" die Vorteile benennt, die der Verzicht aufs Kommentieren mit sich bringt, findet sich aktuell auch ein positives Beispiel für einen kommentierenden Umgang mit der AfD - jedenfalls nach Ansicht von Sandro Schroeder, der in seiner "Podcast-Kritik"-Kolumne für "Übermedien" (€) über "Die Jagd" schreibt, die Podcast-Serien-Fassung der ARD-TV-Dokumentation "AfD-Leaks: Die geheimen Chats der Bundestagsfraktion" (die vor einer Woche an dieser Stelle kurz Erwähnung fand):

"Die Podcast-Serie ist (…) ein gutes Beispiel dafür, dass eine journalistische Haltung in der Politikberichterstattung nicht zwingend Hyper-Neutralität sein muss. Tabubrüche, Grenzüberschreitungen, die rassistischen und beleidigenden Aussagen werden klar als solche benannt. Ohne sich beispielsweise hinter der Floskel zu verstecken: 'Kritiker*innen sehen das als …'."

Und:

"Ausgesprochen gut gelungen ist die audiophile Umsetzung der schriftlichen Nachrichten aus der Chatgruppe. Sprecher*innen lesen die Nachrichten im Originalwortlaut vor. Zusammen mit dem Sound Design entsteht dann – so absurd es klingen mag – eine überraschend musikalische Collage aus Smartphone-Tönen und Handystörgeräuschen, dazu die obskure Mischung aus teils extrem rechten, teils extrem belanglosen Nachrichten im Chat. Über die fünf Folgen hinweg wird das gekonnt inszenierte Originalmaterial zum Markenzeichen des Podcasts (…) Durch die Konzentration aufs Wesentliche gelingt es dem Podcast weitaus besser als der dazugehörigen ARD-Fernsehdokumentation, den teils radikalen Sound in der Chatgruppe als internen Kanal der Partei einzufangen."

Was nicht heißt, dass Schroeder den Podcast für komplett gelungen hält, aber da es sich bei seiner Kolumne um einen Paywall-Text handelt, soll hier natürlich nicht alles verraten werden.

"Ein Problem der vermeintlich Fremden"

Zu den bisher instruktivsten Beiträgen zum Thema Affenpocken-Berichterstattung (siehe zuletzt Altpapier von Mittwoch) gehört meiner Wahrnehmung nach ein im Zeit-Online-Ressort "ze.tt" erschienenes Interview, das Alisa Schellenberg mit dem Medizinhistoriker Alexandre White geführt hat:

"Die meisten Infizierten haben sich anscheinend nicht durch eine Person angesteckt, die jüngst in Afrika war. Warum erwecken viele Medien immer noch den Anschein, als wären Affenpocken eine afrikanische Krankheit – eine Schwarze Krankheit?",

fragt Schellenberg zum Beispiel. Whites Antwort:

"Europäer:innen war es schon immer wichtig, den Ursprung einer Krankheit zu benennen, das hat zuletzt die Corona-Pandemie gezeigt. Denn sie nehmen an, dass eine epidemische Bedrohung niemals von Europa selbst ausgehen kann. Als ob Europa ein sehr reiner Ort wäre, wenn es nicht von Krankheiten von außen heimgesucht werden würde. Das ist ein Mythos, aber einer, der sich hält."

Um das im eben genannten Altpapier erwähnte Händefoto geht es in dem Gespräch auch. Schellenberg:

"Besonders beliebt scheint ein Foto von Schwarzen pockenübersäten Händen. Das Bild ist von 1997. Warum wird es verwendet, obwohl es neuere Bilder gibt, die die Krankheit auf verschiedenen Hauttönen zeigen?"

Whites Erklärung:

"Wenn eine Infektionskrankheit mit krassen Hautveränderungen hauptsächlich in Bezug zum Schwarzen Menschen gezeigt wird, dann verstehen wir Krankheit als ein Problem of the other, also ein Problem der vermeintlich Fremden."

50 Jahre Watergate

Anlässlich des nahenden 50. Jahrestages des Einbruchs in Büros der Demokratischen Partei im Watergate-Gebäude macht sich die Zeitung, die den nach dem Gebäude benannten Skandal aufdeckte, Gedanken darüber, was eine solche Enthüllung heute auslösen würde. In der "Washington Post" also schreibt Margaret Sullivan:

"Not everything was good about the media world of the 1970s (…) But it was a time when we had a news media that commanded the trust of the general public, a necessity in helping bring Nixon to justice. That, at least during his presidency, was never possible with Donald Trump. As we remember Watergate, we ought to remember how very unlikely its righteous conclusion would be today."

Unter den heutigen medialen Umständen hätte Präsident Richard Nixon den Skandal überstanden, meint die Autorin. Warum?

"Our media environment is far more fractured, and news organizations are far less trusted. And in part, we can blame the rise of a right-wing media system. At its heart is Fox News, which was founded in 1996 (…) Meanwhile, Fox and company have served as a highly effective laundry service for Trump’s lies."

Eine Prophezeiung Sullivans: Die für Juni geplanten öffentlichen Hearings des "Select Committee to Investigate the January 6th Attack on the United States Capitol" werden nur einen "winzigen" Teil jener Aufmerksamkeit generieren, die der "Watergate"-Untersuchungsausschuss vor 50 Jahren auf sich zog.


Altpapierkorb (Anastasia Biefang, RTL, Arte-Reihe "Re:", "Der besondere Kinderfilm", Deutsche Welle)

+++ Welche Regeln gelten bei Interviews bzw. für die Veröffentlichung von Interviews? "Nicht nur der Interviewte, sondern auch das Medium, in dem ein Interview stattfindet, ist verantwortlich dafür, dass keine verfälschte Aussagen in Umlauf gebracht werden" - das schreibt der "Nollendorfblog" aus aktuellem Anlass. Er kritisiert damit ein "Spiegel"-Interview, in dem der Interviewte ein Zitat der Bundeswehrkommandeurin Anastasia Biefang verfälscht.

+++ Mit der neuen redaktionellen Struktur im durch die Einverleibung von Gruner + Jahr noch größer gewordenen RTL-Reich habe ich mich für die Wochenend-taz beschäftigt - und mich dabei gern amüsiert über den Titel "Chief Journalistic Content Officer", den der Mann an der Spitze dieser Struktur trägt.

+++ Peer Schader nimmt den 30. Geburtstag von Arte zum Anlass, dessen werktägliche Reportagereihe "Re:" zu würdigen: "Die vielleicht größte Stärke von "Re:" ist (…), dass die Reihe Menschen zeigt, die in den Nachrichten sonst so gut wie nie vorkommen, sich aber – auf ganz unterschiedliche Weise – in den Konflikten unserer Zeit behaupten müssen. Und zwar ohne für die eine oder die andere Seite Partei zu ergreifen. Der Rassismus der türkischen Ladenbesitzer, die die Xenophobie des Bürgermeisters ihrer Stadt unterstützen, wird nicht verurteilt – aber mit dem Elend der Lehmhüttenbehausungen am Rande der Stadt kontrastiert, wo syrische Familien nicht so leicht beim Tee über den Niedergang lamentieren können, sondern den plötzlichen Tod ihrer an Lungenentzündung verstorbenen Neugeborenen verkraften müssen."

+++ Noch ein Jubiläum: zehn Jahre "Der besondere Kinderfilm". Die ARD-Filmintendantin Karola Wille (die im Hauptjob Intendantin unseres MDR ist) spricht in einem Interview bei "Blickpunkt Film" über diese Initiative.

+++ Interne Kritik an Peter Limbourg, dem Intendanten der Deutschen Welle, greift der "Spiegel" (€) auf: "Immer mehr leitende Mitarbeiter (…) kritisieren, Limbourgs Strategie der Reichweitenmaximierung durch zweifelhafte Partnerschaften ergebe schon für einen Privatsender wenig Sinn. Erst recht nicht für einen steuerfinanzierten Auslandssender." Die Kultur- und Medienstaatsministerin Claudia Roth verspricht laut "Spiegel" aber, sie werde darauf achten, dass "die Reichweitensteigerung mit der 'hohen Qualität der journalistischen Angebote' einhergehe".

Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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