Das Altpapier am 27. Mai 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Ralf Heimann
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Das Altpapier am 27. Mai 2022 Nix gelernt?

30. Mai 2022, 09:13 Uhr

Die Süddeutsche greift mit einer antisemitischen Karikatur daneben. Warum passiert das immer wieder? Und: David streitet gegen Goliath um einen Tweet. Diesmal gewinnt Goliath. Ein Altpapier von Ralf Heimann.

Immer Ärger mit den SZ-Karikaturen

Der Schriftsteller Jakob Hein hat vor vier Jahren für Übermedien über das "Elend der Karikaturen in der 'Süddeutschen Zeitung'" geschrieben. So lautete die Überschrift des Artikels. Hein schrieb:

"Die Zeichnungen sind frei von Witz in doppelter Hinsicht: Es fehlt ihnen in aller Regel das Geistreiche und sowieso der Humor. Der wichtigste Impuls der Zeichner scheint zu sein, eine irgendwie so ähnlich wie aktuelle Zeichnung unterzubringen, um das Honorar zu kassieren und nicht, eine lustige Karikatur zu produzieren."

Anlass des Textes war eine Karikatur von Dieter Hanitzsch, genauer: die letzte, die er für die Süddeutsche Zeitung gezeichnet hat. Sie zeigte den beim Eurovision-Song-Contest mit einer Rakete in der Hand singenden israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu – und sie zeigte ihn ein bisschen so, wie der "Stürmer" ihn im Jahr 1938 gezeichnet hätte.

Zum Ende gibt Hein indirekt einen Rat:

"(…) wenn man das Ganze mit der derzeitigen Lieblosigkeit weiterführt, wird man weiterhin nahezu täglich scheitern und absehbar auf das nächste größere Problem zusteuern."

Genau das ist nun aber passiert. Am Mittwoch erschien auf der Meinungsseite eine Karikatur von Pepsch Gottscheber, die den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj darstellt oder vielleicht besser: darstellen soll. Selenskyj sitzt, gestützt auf seine Unterarme, überlebensgroß im Hintergrund des Weltwirtschaftsforums. Das ist leicht zu erkennen, denn es steht in der Mitte des Stuhlkreises, der das Forum abbilden soll.

Vice-Chefredaktuer Felix Dachsel schreibt bei Twitter:

"Der jüdische Präsident Selenskyj geifernd, übergroß und mächtig im Hintergrund des 'World Economic Forum'. Ist das wirklich eine gute Idee @SZ?"

Die Jüdische Allgemeine twittert:

"Wow! Euer Ernst, liebe @SZ?? Nach den eindeutigen Karikaturen zum 'gefräßigen Monster Israel', zu Mark Zuckerberg, Benjamin Netanjahu und dem Auschwitz-Foto zum Mainzer Bahn-Chaos eine neue Serie?"
(Die Links im Tweet habe ich ergänzt, Anm. Altpapier)

Michaela Engelmeier, die Generalsekretärin der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, schreibt:

"Eine antisemitische Karikatur a la 'Stürmer' in der SZ. Euer Ernst, @SZ?"

Remko Leemhuis, der Direktor des American Jewish Committee (AJC) Berlin, sagt laut den "Bild"-Medien:

"Wir sind entsetzt, aber nicht wirklich überrascht, dass in der 'Süddeutschen' erneut eine eindeutig antisemitische Karikatur veröffentlicht worden ist. Leider müssen wir daher feststellen, dass nach den vorangegangenen Skandalen keinerlei Lernprozess stattgefunden hat oder vielleicht auch schlicht der Wille dazu fehlt."

Patrick Bahners von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dagegen schreibt (unter dem Tweet von Felix Dachsel):

"Dargestellt ist, dass die Veranstaltung unter dem Alpdruck des Ukraine-Krieges stattfindet und die moralische Autorität Selenskyjs die Macht der Versammelten überwiegt. Das ist nun wirklich nicht schwer zu verstehen."

Später ergänzt er unter dem Kommentar eines anderen Nutzers:

"Ich habe die Karikatur nicht gezeichnet. Sie haben da (reichlich humorlos) etwas missverstanden. Und so wie ich die Karikatur verstehe, soll sie nicht lustig sein. Insoweit eine typische Kriegskarikatur."

Aber was sagt die Süddeutsche Zeitung? Sie veröffentlichte am Donnerstag gegen halb vier einen zwei Tweets langen Bonsai-Thread, in dem sie Hintergrundinformationen gibt. Konkret heißt es dort:

"Zur Kritik an der Karikatur, die in der Feiertagsausgabe der SZ erschienen ist: Diese Karikatur ist die zeichnerische Umsetzung der Fernsehbilder vom Montag: (1/2)"

Und:

"Der ukrainische Präsident auf der Videowand, und damit im XXL-Format, vor dem Publikum in Davos. Sie illustriert, wie dominierend das Thema Ukraine dort ist. (2/2)"

Dazu stellt die Zeitung das Foto von einer Videokonferenz mit Selenskyj in Davos, das dem Zeichner offenbar als Vorlage diente. Ohne den Kommentar der Zeitung hätte man allerdings auch den Eindruck bekommen können, Gottscheber hätte einfach das Fernsehbild abgemalt, zeichnerisch etwas herausgearbeitet, dass es sich bei der dominierenden Figur, um einen Juden handelt. Fertig.

Ein Unterschied zum Fernsehbild ist: Die Leinwand fehlt. Erst das macht die Figur zu einem Riesen, der grimmige Blick lässt sie mächtig und bedrohlich erscheinen.

Der SZ hätte auffallen müssen, dass man mit genau dieser Karikatur auch eine andere Geschichte erzählen könnte: Die Weltwirtschaft tagt in Davos, und über all das, was dort beschlossen wird, wacht der übermächtige Jude, der so grimmig und unberechenbar erscheint, dass er im nächsten Moment mit der Faust in die Runde schlagen könnte.

Oder wie Alan Posener schreibt, früher mal Chefkommentator der Welt am Sonntag:

"Die @SZ kann es nicht lassen. Sie gibt dem jüdischen Präsidenten nicht zufällig Züge, die eher der Karikatur eines Juden als der Physiognomie des Präsidenten ähneln. Und so wissen wir, wer die Welt kontrolliert."

Ob die Physiognomie tatsächlich "nicht zufällig" so geraten ist oder der Zeichner einen schlechten Tag hatte, lässt sich schwer sagen. Vielleicht sind Gesichter einfach nicht so seine Stärke. Aber es bleibt dann doch die Frage: Warum passiert ausgerechnet der Süddeutschen Zeitung so etwas immer wieder?

Für solche Fälle ist eigentlich die Möglichkeit vorgesehen, den Zeichner zu fragen, ob er nicht noch irgendwas anderes zum Thema auf der Pfanne hat. Wenn dann ein Vorschlag mit einem eine Rakete in der Hand tragenden und singenden Wolodymyr Selenskyj gekommen wäre, hätte man sich vielleicht besser ausnahmsweise für etwas mehr Weißraum auf der Seite entschieden. Die unter der Karikatur platzierte Überschrift "Eisberg voraus" (die allerdings zu einem anderen Text gehört) passte jedenfalls.

Tim Röhn vs. Matthias Meisner

Der Journalist Matthias Meisner hat am Mittwoch das Fotos eines Schreibens vom Axel-Springer-Verlag getwittert, dazu schreibt er:

"Wer @Tim_Roehn von der @welt kritisiert, muss mit Einschüchterungsversuchen rechnen. Wie so etwas läuft? Ich zum Beispiel habe gerade Post vom Justiziariat des @axelspringer-Verlags bekommen."

Dann folgt ein Thread, in dem Meisner erklärt, wie es so weit kam. Kurz zur Vorgeschichte. Meisner hatte im März für die taz darüber geschrieben, wie Röhn juristisch gegen Menschen vorgeht, die ihm vorwerfen, er verteidige Demos von Verschwörungsideologen. Röhn nannte den Text laut Meisner einen "Fake-News-Artikel" und "hanebüchenen Unsinn".

Zum aktuellen Fall. Etwas abgekürzt: Meisner hatte einen Tweet veröffentlicht, in dem er Röhn in einer Form erwähnte, die diesem nicht gefiel.

Den Tweet hat Meisner inzwischen gelöscht. Er hat eine Unterlassungserklärung abgegeben, hätte das aber nach Einschätzung des Anwalts Chan-jo Jun aber nicht machen müssen. Jun erklärt den Fall in einem elfminütigen Youtube-Video. Und jetzt muss ich doch etwas ausholen.

Der von Meisner gelöschte Tweet ist in dem Video zu sehen (1.04 min). Er bezieht sich auf einen Tweet des Magazins "Volksverpetzer", der weiterhin existiert. Das Magazin schrieb über einen MDR-Bericht, in dem es um eine Studie des Anthroposophie-Professors Harald Matthes über angebliche Impfnebenwirkungen geht. Ingo Arzt und Florian Schumann schrieben Anfang Mai bei "Zeit Online", die Zahlen aus der Untersuchung seien nicht haltbar. Die Studie wurde zurückgezogen. Der "Volksverpetzer" sagt, viele Medien seien auf diese "Quatsch-'Studie'" reingefallen.

Meisner schrieb in seinem gelöschten Tweet, dem MDR komme in der Berichterstattung eine "unrühmliche Rolle zu". Der Rest ist im Wortlaut wichtig:

"Auch andere Medien zitierten die Quatsch-'Studie' über Impfnebenwirkungen ungehemmt und paarten sie mit Querdenker-Mythen. Darunter explizit @welt-Autor @Tim_Roehn."

Röhn hatte die Studie allerdings gar nicht zitiert. Das ist einer der kritischen Punkte. Er hatte nur einen Artikel geteilt, der auf die Studie Bezug nimmt.

Der andere kritische Punkt ist die Behauptung, Röhn sei einer von denen gewesen, die die Studie mit Querdenker-Mythen gepaart hätten.

Im zweiten Punkte ist die Frage: Falschbehauptung oder Meinungsäußerung? Nach Juns Einschätzung ist die Aussage durch die Meinungsfreiheit gedeckt.

Bleibt der erste Punkt: Jun fragt: "Ist es ehrrührig, mit dieser Studie in Verbindung gebracht werden?" Das sei schwer zu sagen. Eine eindeutige Aussage dazu treffe Röhn nicht. Es wäre allerdings, so Jun, widersprüchlich, die Studie einerseits zu erwähnen und den Link zu dem Artikel zu teilen, dann aber zu sagen, es sei ehrrührig, wenn unterstellt werde, man habe sie zitiert.

Dass Meisner eine Unterlassungserklärung abgegeben habe, sei bedauerlich, sagt Jun. Eine Klage hätte nach seiner Einschätzung keine Aussicht auf Erfolg gehabt.

Und hier liegt das für uns interessante Problem an dieser Sache. Der Springer-Verlag geht in Person seines Justiziars gegen einen freien Journalisten vor, und am Ende gewinnt möglicherweise nicht der, der im Recht ist, sondern der mit der dicksten Kohle, in diesem Fall Springer. Das ist kein neues Phänomen (siehe Slapps, hier im Altpapier), sondern eines, das freien Journalistinnen oder Journalisten und kleineren Medien auch sonst oft im Weg steht.

Andererseits: Es ist völlig okay, sich rechtlich gegen Behauptungen zu wehren, die man für rechtlich nicht zulässig hält. Es dürfte nur nicht vom Geld abhängig sein, ob Menschen in der Lage sind, sich dagegen zu wehren.

Bliebe noch ein dritter Punkt, der für uns nur am Rande interessant ist, den ich aber kurz erwähnen möchte. Der Springer-Anwalt schickt seine Unterlassungsaufforderung auf Springer-Briefpapier, er unterschreibt auch mit dem Firmennamen. Der Verlag darf so etwas aber nur dann verschicken, wenn er als Anwaltsgesellschaft eingetragen ist.

Ist er das nicht – was Jun vermutet –, könnte er unter Umständen selbst abgemahnt werden. Das wiederum könnte Auswirkungen auf ein anderes Phänomen haben, mit dem wir es hier zu tun haben: den Streisand-Effekt.


Altpapierkorb (BBC, Rundfunkgebühr in Frankreich, Ricky Gervais, Heard und Depp, Arbeitsbedingungen im Journalismus, Bibi und Julian)

+++ Die BBC will will ein digitaler Sender werden. Generaldirektor Tim Davie hat der Belegschaft gestern in einer Rede erklärt, wie das gelingen soll. In einer ersten Phase will der Sender jährlich 500 Millionen Pfund einsparen und reinvestieren. Sparen will die BBC laut Davie unter anderem bei den Fernsehnachrichten. Stattdessen soll das Geld in digitale Nachrichten fließen. Es soll einen 24-Stunden-Nachrichtenkanal geben (BBC News). Der Lokaljournalismus soll stärker werden. Allerdings: Im öffentlich finanzierten Teil der BBC sollen in den nächsten Jahren bis zu tausend Beschäftige weniger arbeiten.

+++ Emmanuel Macron schafft in Frankreich die Rundfunkgebühr ab. Jürg Altwegg kommentiert auf der FAZ-Medienseite (€): "(…) die Rundfunkgebühr ist zu einem Symbol eines übergriffigen Abgabenstaats geworden. Und so werden die Gebühren schon in diesem Jahr erlassen." Die Finanzierung der öffentlichen bleibe ungeklärt.

+++ Tobias Kniebe hat sich das Stand-up-Special "Supernature" des Komikers Ricky Gervais auf Netflix angesehen und ist von der Komplexität des Humors sehr angetan. Auf der SZ-Medienseite schreibt er (€): "(…) das manifeste Programm der Nichtrücksichtnahme wird einfach gnadenlos durchgezogen, und wer der Meinung ist, dass Komik auch Grenzen kennen muss, sollte sich diese Show besser nicht antun." Wie wir oben besprochen haben: Das gilt in dieser Woche auch für die mit einer Karikatur ausgestattete SZ-Meinungsseite.

+++ Der Prozess zwischen Amber Heard und Johnny Depp liefert viel Material für Memes bei Instagram, Youtube oder Tiktok. Amber Heard ist in den Memes meistens der Depp. Konstanze Nastarowitz hat sich damit in einem 15 Minuten langen Beitrag für das NDR-Medienmagazin "Zapp" beschäftigt (Titel: "Amber Heard vs Johnny Depp: Verurteilt auf TikTok"). 

+++ In einem halbstündigen Feiertagsspezial für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" beschäftigen sich Brigitte Baetz und Pia Behme mit schlechter werdenden Arbeitsbedingungen im Journalismus und den Folgen für die Berichterstattung.

+++ Die Influencer Bianca und Julian Claßen haben sich getrennt. Und das ist durchaus ein Medienthema. Samira El Ouassil sagt in ihrer "@mediasres"-Kolumne: "Mit dem Influencer Rezo nahmen wir vielleicht am stärksten eine Politisierung der Influencer-Kultur war, mit Fynn Kliemann wurden vielen möglicherweise zum ersten Mal die Ausmaße einer Influencer-Ökonomie bewusst. Spätestens jetzt mit der Berichterstattung über die Trennung eines YouTube-Paares stellen wir fest: auch das Internet ist ein Boulevard."

Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!

Neues Altpapier gibt es am Montag.

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