Das Altpapier am 23. Mai 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
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Das Altpapier am 23. Mai 2022 Es eilt, weil es eilt

23. Mai 2022, 10:15 Uhr

Der erste Affenpockenfall in Deutschland wurde vielfach geeilmeldet, man hätte ihn aber langsamer melden können. Die Klimakrise führt medial derzeit die Existenz eines Randaspekts. Und eine Idee von DWDL: "Tagesthemen" um 20 Uhr. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Affenpocken – eine Eilmeldung schafft sich ihre Dringlichkeit

Die Welt scheint die seltsame Angewohnheit zu haben, dass sie ähnliche Ereignisse in größerer Stückzahl und dichter Folge auf die Menschheit loslässt. Hat ein Flugzeug eine Panne, gibt es danach vermehrt Meldungen über weitere technische Probleme im Luftverkehr. Wird über einen Fall von Gewaltkriminalität berichtet, gibt es in den folgenden Wochen erstaunlich viele weitere Fälle, die in Medien auftauchen.

Das Phänomen ist weniger eines der Welt, als eines der Wahrnehmung der Welt. Es taucht im Privaten wie im Öffentlichen auf. Während der eigenen Schwangerschaft oder ist an einer Schwangerschaft beteiligt, sieht man plötzlich überall Schwangere. Während einer Pandemie sieht man plötzlich Anzeichen für die Entstehung weiterer Pandemien, weil man ohnehin dafür sensibilisiert ist. So ist es zu erklären, dass am Freitag auf vielen Smartphones die Eilmeldung landete, dass in Deutschland ein Fall von Affenpocken nachgewiesen worden sei; "auch das noch", twitterte zum Beispiel Anne Will über einen Breaking-Tweet der "Welt".

Eiltweets gab es etwa von BR24, Rheinischer Post, t-online.de oder ZDFheute.

Das Interessante ist, wie das Eilige in diese Eilmeldung gekommen sein könnte. Die Meldung vom ersten Affenpocken-Fall fällt natürlich in den sperrangelweit offenen Assoziationsraum "Pandemie" und setzt eine gemeinschaftliche Sorgenspekulation in Gang. Die wiederum wird durch das Format der Eilmeldung, das für Dringlichkeit steht, in ihrer Notwendigkeit bestätigt und gepusht. Die Eilmeldung schafft sich so ihre Berechtigung eigentlich selbst: Wenn sie geschrieben wird, gibt es einen Grund, sich über die Affenpocken Sorgen zu machen. Und nur wenn viele deshalb besorgt sein werden, handelt es sich um eine Eilmeldung.

Nachrichtenjournalistisch ist das zweischneidig. Einerseits fordert die Weltgesundheitsorganisation, es sei "dringend notwendig", das Bewusstsein für die Affenpocken zu erhöhen (tagesschau.de). Die Thematisierung in den Nachrichten ist dafür wichtig. Andererseits klang die Berichterstattung, die der "EIL" folgte, nicht mehr ganz so eilig. Nehmen wir exemplarisch die Berichterstattung des "Tagesspiegels" ("Die Affenpocken werden gut kontrollierbar sein"). Oder einen Podcast von "Zeit Online", in dem Gesundheitsredakteur Florian Schumann, der selbst mit "EIL" getwittert hatte, sagte: "Alle Experten, mit den wir gesprochen haben, gehen nicht davon aus (…), dass das eine sehr sehr große Epidemie oder gar Pandemie wird, sondern dass das in den nächsten Wochen begrenzt werden kann." Und das ist zumindest auch heute noch der Stand. Hoffen wir eilig, dass es so bleibt.

Die Folgeberichterstattung diente also zum einen der Vergenauerung, zum anderen aber auch dazu, der zuvor in den Raum gestellten Dringlichkeit ein wenig Luft abzulassen. Das sagt etwas über das Format der Eilmeldung aus. Sie mag eine Tür für ein Thema aufzustoßen helfen, das ansonsten vielleicht etwas unterginge. Sie hat aber oft einen alarmistischen Ton, weil sie kompetitiv ist, eher ein Verkaufs- als ein Inhaltsformat: Nicht langsamer und nicht weniger prägnant als die Eilmeldung der Konkurrenz soll sie sein.

Der Eiltweet von n-tv war in dieser Hinsicht am Freitagmittag ungewöhnlich ehrlich: "Erster Fall von Affenpocken in Deutschland bestätigt – aber kein Grund zur Sorge" lautete er. Eine Formulierung, mit der allerdings das Format der Eilmeldung ad absurdum geführt wurde.

Die Klimakrise ist ein Randaspekt geworden

Was in seinem zeitlichen Ablauf nicht gut genug der Nachrichtenlogik von Medien entspricht, um "Eilmeldung" zu werden: der sich nicht tagesaktuell vollziehende Klimawandel. In der "Tagesspiegel"-Rubrik "Zu meinem Ärger" ärgert sich diesmal die ZDF-Metereologin Katja Horneffer über "unseren Umgang mit Klima-Meldungen, wie die von der Weltorganisation für Meteorologie (WMO), die bekannt gab, dass die globale Durchschnittstemperatur 2021 bei 1,11 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau lag". Sie kritisiert:

"Die Verknüpfung zwischen tagesaktuellen Wetterbeobachtungen, Klimaforschungsergebnissen und unseren Möglichkeiten, mit unserem auch durch Anreize veränderten Verhalten gegenzusteuern, kommt mir oft zu kurz."

Da mag sie womöglich auch in eigener Sache sprechen; Horneffers kurze Erklärbeiträge im Rahmen der Nachrichten sind manchmal schneller wieder vorüber, als man "Weltorganisation für Meteorologie" sagen kann. Aber dass das Klima in der Berichterstattung über das Aktuelle leicht hinten runterkippt, trifft unabhängig davon derzeit zu.

Rico Grimm hält für die "Krautreporter" in einem Text über die Weltenergieversorgung fest:

"Durch den Ukraine-Krieg und die darauf folgenden Sanktionen muss ein Europa, das sich eigentlich auf den Green New Deal, auf die große Energiewende, eingeschworen hat, plötzlich auch wieder auf Öl und Gas konzentrieren. Es baut eine neue fossile Infrastruktur, die noch auf Jahrzehnte hinaus das Klima erhitzen wird."

Seit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine Ende Februar begonnen hat, führt die Klimakrise aber medial die Existenz eines Randaspekts. Die deutschen Klimaschutzziele sind nicht aus der Berichterstattung verschwunden, aber nach hinten gerückt – das Klima nimmt wieder eine Gibt’s-auch-noch-Position ein. Das ist mit den einschneidenden Veränderungen im Koordinatensystem der Energieversorgung gewiss zu erklären. Aber es kann nicht lange so bleiben.

Ein Beispiel: Als Jugendliche freitags auf die Straße gingen, war der Klimawandel als prominentes Thema gesetzt. Der "Stern" hat 2020 mit "Fridays for future" sogar eine Ausgabe produziert und schrieb damals, "Zum ersten Mal in 72 Jahren konnten (…) Menschen direkten Einfluss auf die Gestaltung des Magazins nehmen, die nicht zur Redaktion gehören" – als so wichtig und populär hatte man das Thema erkannt. In der aktuellen "Stern"-Titelgeschichte nun (kostenpflichtig bei Blendle) geht es um die Versorgung mit Gas aus Katar statt aus Russland, aber das Klima taucht darin nur als Wortbestandteil von "Klimaanlage" auf. Auch im mehrseitigen Artikel über die Grünen-Politikerin Claudia Roth (Blendle) geht es mit keinem Wort ums Klima. Auch eine Art Zeitenwende.

Gestürzt, nicht gerüttelt: zur Nannen-Debatte

Es wäre allerdings nicht fair, diese diskursive Verschiebung allein dem "Stern" zuzuschreiben. Es gab seit Beginn des Kriegs auch keinen "Spiegel"- oder "Zeit"-Titel über den teilweisen energiepolitischen Zwangsbacklash, den das "Krautreporter"-Zitat beschreibt. Aber die aktuelle "Stern"-Ausgabe passt ins Gesamtbild, zumal sich das Magazin in den vergangenen Jahren besonders mit jungen und damit auch mit Klimathemen zu profilieren versucht hat.

Christian Mayer formuliert es in der "Süddeutschen Zeitung" vom Samstag so:

"Der Stern, der mal eine Auflage von zwei Millionen erreichen konnte, spricht eine eher woke Zielgruppe an."

Im Artikel der "SZ" über den "Stern" geht es allerdings um ein anderes Thema – die NDR-Recherchen über Henri Nannens Tätigkeit für eine Propagandaeinheit der Nazis (Altpapier vom 13. Mai), die in der Sache zwar nichts Neues, "dafür aber wirkmächtige Bilder" brachten (so die "Welt"), und um die Reaktion des neuen "Stern"-Chefredakteurs Gregor Peter Schmitz darauf (Altpapierkorb vom Donnerstag). Mayer empfiehlt:

"(A)ls Namensgeber für einen bedeutenden Journalistenpreis und einer Hamburger Journalistenschule von Rang ist er jetzt für viele nicht mehr tragbar. Die Verantwortlichen täten gut daran, eine qualvolle Debatte zu vermeiden und souverän zu entscheiden."

Christian Meier von der "Welt" – nicht zu verwechseln mit Christian Mayer von der "SZ" – nimmt das Ergebnis schon zumindest halb vorweg:

"Nannen nicht mehr im 'Stern'-Impressum – das wäre eine symbolische Zäsur höchsten Grades. Auch der jährlich vergebene 'Henri-Nannen-Preis' steht vermutlich zur Debatte. Er soll am 22. Juni wieder verliehen werden. Und 2023 feiert der 'Stern' seinen 75. Geburtstag."

Am Denkmal Nannen wird also nicht nur gerüttelt. Es wird gerade – womöglich – gestürzt.

Wie, die 20-Uhr-"Tagesschau" abschaffen?

Das Ergebnis der Debatte, die Peer Schader mit seiner DWDL-Medienkolumne anzustoßen versucht, würde ich dagegen mal als offen bezeichnen. "Schafft die 20-Uhr-'Tagesschau' ab", fordert er. Was natürlich ungeheuerlich klingt, denn was kommt dann als nächstes, Weihnachten?

Andererseits, die Argumentation ist bestechend:

"Von einem Großteil des Publikums wird sie (zurecht) als verlässlichste Nachrichtenquelle ihres Alltags geschätzt. Sie besitzt eine enorme Glaubwürdigkeit, steht mit ihrer nüchternen Berichterstattung für journalistische Neutralität und hat den Anspruch, dass Wichtigste aus 24 Stunden innerhalb von 15 Minuten auf den Punkt zu bringen. Aber das ist nicht nur eine Herausforderung, sondern auch Teil des Problems. Denn seit längerer Zeit lässt sich dabei zusehen, wie das, was nach der Baumarktwerbung und dem bekannten Gong im Ersten läuft, nur noch mit großer Mühe abbilden kann, was selbst an einem durchschnittlichen Nachrichtentag berichterstattenswert ist."

Schader ruft also zu etwas auf, was eigentlich nicht geht, weil wir das ja noch nie gemacht haben: zu einer Erneuerung des Formats "Tagesschau", die über Studioumgestaltung und Arbeit an der Titelmelodie hinausgeht. Eigentlich fordert er aber weniger die Abschaffung der "Tagesschau" als die Aufwertung der "Tagesthemen":

"Auf 45 Minuten verlängerte 'Tagesthemen', die um Punkt 20 Uhr beginnen, wären ein Glücksfall für alle, die sich nach Feierabend umfassend über den Tag informieren wollen – und nicht bis 22.15 Uhr damit warten."


Altpapierkorb (Social Bots, afghanische TV-Moderatorinnen, Depp/Heard-Spektakel,"Truth Social", Jay Rosen, "AfD Leaks")

+++ Am Freitag ging es hier am Rande auch um Social Bots. Das sind, erklärt Übermedien, "Computerprogramme, also automatisierte Accounts bei Twitter und anderen Plattformen", die "die öffentliche Meinung beeinflussen und Fake News und Verschwörungstheorien verbreiten" könnten. Aber: "Der Medieninformatiker Florian Gallwitz hält das alles für Unsinn. Social Bots seien selbst eine Verschwörungstheorie, die leider auch große Medien immer wieder verbreiten. Er kritisiert, dass das 'Phänomen' Bots kaum hinterfragt werde. 'Wenn ich als Journalist mit so einer Story konfrontiert wäre, würde ich sofort sagen, zeigt mir doch mal ein oder zwei Bots.'"

+++ Die Taliban haben angeordnet, dass Afghanistans Fernsehjournalistinnen mit bedeckten Gesichtern aufzutreten hätten ("Tagesspiegel"). Die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" zitiert die Moderatorin Khatera Arfa mit der Befürchtung, dass das nicht der letzte Schritt gewesen sein könnte: "Sogar wenn wir in einer Burka erscheinen, werden sie vielleicht sagen, dass die Stimmen von Frauen verboten sind. Sie wollen die Frauen vom Bildschirm entfernen. Sie haben Angst vor gebildeten Frauen."

+++Amber Heard vs. Johnny Depp: Mit dem "Social-Media-Spektakel", das ebenfalls am Freitag hier Thema war, hat sich Tobi Müller für Deutschlandfunk Kultur beschäftigt.

+++ Was Donald Trump mittlerweile mit seiner Social-Media-App "Truth Social" treibt, hat Jürgen Schmieder für die Montags-"SZ" aufgeschrieben.

+++ Das jüngste Jay-Rosen-Interview hat der "Medieninsider": "Etwa 25 bis 30 Prozent der amerikanischen Wähler sind in vielerlei Hinsicht für den Mainstream-Journalismus verloren. Es ist nicht so, dass sie ihn nicht nutzen. Aber sie misstrauen allem, was sie sehen. Und es geht sogar noch weiter: Wenn eine Geschichte in der Mainstream-Presse erscheint, ist das an sich ein Grund, sie zu ignorieren oder ihr nicht zu glauben. Das ist aktives Misstrauen."

+++ Altpapier-Kollege René Martens bespricht für "Zeit Online", Michael Hanfeld für die Print-"FAZ" die 45-minütige ARD-Dokumentation "AfD-Leaks: Die geheimen Chats der Bundestagsfraktion".

Neues Altpapier gibt es am Dienstag.

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