Das Altpapier am 20. Mai 2022 "Julian Assange betrifft uns alle"
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20. Mai 2022, 10:25 Uhr
Der Wikileaks-Gründer erhält den Günter-Wallraff-Preis, was die Aufmerksamkeit für seine drohende Auslieferung ankurbelt. Elon Musk erzeugt aber viel mehr Rummel. Und: Wo zieht man sich fantasievoller an – bei Arte oder bei "Let’s Dance"? Ein Altpapier von Klaus Raab.
Inhalt des Artikels:
- Neue Einschätzungen der Twitter-Musk-Saga
- Wohin richten wir eigentlich unsere Aufmerksamkeit?
- Wo ist die Berichterstattung über Julian Assange?
- Die Habillage von Arte und vom RTL
- Altpapierkorb (Pressefreiheit in der Schweiz, Medienanwalt Christian Schertz, Franca Lehfeldt, "Tiefpunkt des öffentlich-rechtlichen Geschichtsfernsehens")
Neue Einschätzungen der Twitter-Musk-Saga
Was macht eigentlich dieser Elon Musk gerade? Ob er Twitter übernehmen kann, will oder sogar muss, obwohl er nicht mehr wollen könnte, ist nach wie vor jedenfalls sehr offen. Zur Frage, wie viele Bots auf Twitter aktiv sind, hat er sich kürzlich mit einem Kothaufen-Emoji eingelassen. Angeblich sei der Anteil der Spam- und Fake-Accounts "viel höher als die vom Unternehmen geschätzten weniger als fünf Prozent", ließ er damit wissen, und "erklärte, dass die Übernahme auf Eis liege", bis Twitter seine Angaben bewiesen habe, wie es bei spiegel.de heißt. Ines Zöttl schreibt dort: "Für viele Beobachter lässt das nur einen Schluss zu: Musk will nachverhandeln. Oder die Übernahme komplett abblasen."
Alles klar? Natürlich nicht, aber man kann sich, auch in dieser Woche, medial ziemlich hineinversenken in die Twitter-Musk-Saga. Noch so eine Wendung: Nachdem die "Los Angeles Times" im April darüber berichtet hatte, schreibt nun das Manager Magazin, Twitterbots (also die, über deren hohe Zahl Musk nun vorgeblich klagt) hätten seine Autofirma Tesla über ein Jahrzehnt lang "gepusht".
"Wie der US-Forscher David A. Kirsch erstmals analysiert hat, haben automatisierte Twitter-Accounts über viele Jahre die Kernbotschaften über Tesla gezielt in die Welt posaunt. Mehr als vier Millionen Tesla-Tweets aus der Dekade seit dem Börsengang 2010 hat der Professor analysiert – und kann nun Muster beschreiben. Sein Schluss: Die Bots wurden programmiert, um die Tesla-Story und den Börsenkurs zu stärken",
so manager-magazin.de. Wer sie gegebenenfalls programmiert haben könnte, darüber lässt sich nur spekulieren. Ganz allgemein kann man es aber so formulieren: Elon Musk spielt nach wie vor Elonmuskelspielchen, und eine gewisse Rückgratbeweglichkeit kann man ihm dabei kaum absprechen. Was Christian Meier dieser Tage in der "Welt" zu einem guten Rat veranlasste:
"Medienbeobachter sind gut beraten, kein Versprechen von Musk für bare Münze zu nehmen (…). Musk ist ein genialer Regelbrecher, mit normalen Maßstäben kann man ihm nicht beikommen. (…) Doch ein Regelbruch kann am Ende nur erfolgreich sein und gefeiert werden, wenn er etwas Neues stiftet, das sonst nicht hätte entstehen können. Bisher ist die Mission Twitter für alle Beteiligten allerdings nur eine gigantische Zeit- und Wertvernichtung."
Wohin richten wir eigentlich unsere Aufmerksamkeit?
Musk raubt uns unsere Lebenszeit, würde Mark Gongloff vielleicht sagen. Gongloff greift für bloomberg.com Social-Media-Interaktionszahlen zwischen 4. April und 16. Mai in den USA auf und hält – nur halb erstaunt – fest, dass Musk als Thema auf den sogenannten Social Media super läuft. Die US-amerikanische Abtreibungsdebatte, der Ukrainekrieg, die Inflation, Covid-19 – das alles rege die Leute pro veröffentlichtem Artikel weniger zum Liken, Verbreiten, Verlinken, Kommentieren und Rumlabern an als irgendwas mit Elon Musk. Nur ein Thema lief in den USA noch besser, und das ist der Fall Amber Heard/Johnny Depp, also quasi Prominews. Danach, wie gesagt, kommt bei den Social-Media-Interaktionen in den USA direkt Musk – und dann erstmal eine Weile nichts. Mark Gongloff schreibt (original auf Englisch):
"So erfolgreich Elon Musk auch beim Trollen ist und so wichtig er auch sein mag – ist er wirklich mehr unserer Aufmerksamkeit wert als die Rechte der Frauen im Gesundheitswesen, der erste 'shooting war' in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg und die schlimmste Inflation seit den 1980er Jahren? Oh, und auch Covid-19, das es leider immer noch gibt, wie ich berichten muss. Können wir hoffen, diese realen Probleme zu lösen, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit für sie durch die ganze Aufmerksamkeit, die wir Depp und Musk und Leuten wie ihnen schenken, unmöglich gemacht wird?"
Sicher, das ist nun nichts im Kern Neues. Aber solche Erhebungen wie die von Bloomberg aufgegriffene sind durchaus immer wieder aufs Neue bemerkenswert, weil das Aufmerksamkeitsgefälle zwischen eigentlich Relevanterem und tatsächlich Diskutiertem immer wieder neue Themen betrifft, und das nicht nur in den USA.
Wo ist die Berichterstattung über Julian Assange?
Man kann zumindest versuchen, gegenzusteuern. In den vergangenen Wochen waren hier und da in Deutschland zum Beispiel Versuche wahrzunehmen, den Fall von Julian Assange wieder stärker in die öffentliche Wahrnehmung zu rücken. Die Krautreporter haben ein langes Dossier über Assange veröffentlicht ("etwa 30 Minuten Lesedauer"), das an dieser Stelle ebenso schon erwähnt war wie zuvor ein Beitrag von Julia Encke aus der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Darin fragte sie Anfang Mai:
"Der Westminster Magistrates’ Court in London hat in der vergangenen Woche den formellen Auslieferungsbeschluss des Wikileaks-Gründers Julian Assange aus Großbritannien an die USA erlassen – dem 50-Jährigen drohen bei einer Verurteilung bis zu 175 Jahre Haft. Das wurde in vielen Medien gemeldet und in manchen kommentiert. Einen großen Raum nahm die Nachricht in der Berichterstattung aber nicht ein. Was sagt das über die Medien selbst aus?"
Vielleicht sagt es aus, dass über ein Ereignis dann wahrscheinlicher breit berichtet wird, wenn es im zeitlichen Ablauf der Erscheinungsperiodik der Medien entspricht. Der Fall Assange hat, ließe sich mutmaßen, über die Jahre an Nachrichtenwert eingebüßt – was zwar unbedingt kritisierenswert wäre. Aber eine Art Erklärung.
(Hier im Altpapier war Assange seit Jahresbeginn zehn Mal Thema, Elon Musk zum Beispiel dagegen dreizehn Mal, das allerdings zum Teil viel ausführlicher, wie ich selbstkritisch festhalten muss – was freilich auch an den ungefähr 44 Milliarden Artikeln liegt, die über seine Twitterübernahmebehauptungen geschrieben wurden. Die große Zahl der Texte lässt auch den Schluss zu, dass die intensive Befassung mit Musk an den sogenannten Social Media und der Themenwahl ihrer User allein wohl kaum liegen kann.)
Gestern nun ein neuer Versuch, Julian Assange zurück in die Wahrnehmung zu rücken. Wie hier zuvor knapp gemeldet, hat er den Günter-Wallraff-Preis erhalten, wenn er ihn auch aus Gründen – er sitzt in einem britischen Gefängnis – nicht selbst beim Kölner Forum für Journalismuskritik entgegengenommen hat. Seine Frau Stella Assange hat das für ihn gemacht und anschließend ein Interview gegeben, das online in mindestens drei Medien erschienen ist, auf den Seiten der "Berliner Zeitung", des "Kölner Stadt-Anzeigers" und des "Freitags".
Assange, so sagte es Deutschlandfunk-Chefredakteurin Birgit Wentzien in ihrer Laudatio, habe "eine Kernaufgabe des Journalismus" erfüllt, als er über die Enthüllungsplattform Wikileaks geheime Regierungsdokumente, Akten aus dem US-Gefangenenlager Guantanamo, diplomatische E-Mails und Beweise für Kriegsverbrechen im Irak veröffentlicht habe: "Sollte Julian Assange dafür verurteilt werden, wäre das ein weltweiter Präzedenzfall und ein Zeichen der Abschreckung für Reporterinnen und Reporter auf der ganzen Welt. 'Julian Assange betrifft uns alle'."
Die Habillage von Arte und vom RTL
Zum Wochenausklang nun noch eine Wochenendfrage: Was ist besseres Fernsehen, die bockspringenden Zwillinge von Arte oder das "Let’s-Dance"-Finale? Ein Glück, dass sich eine komplexe Gesellschaft nicht in allem einig werden muss. Sonst könnte es in diesem Fall harte Auseinandersetzungen geben zwischen Uwe Kammann, dem ehemaligen Direktor des Grimme-Instituts, und einem Kind, das ich zufällig sehr gut kenne.
"Wer das visuelle und auditive Desaster der üblichen Fernsehpräsentationen leid ist, wer die übliche Barbarei verabscheut, Filmnachspänne (und damit die Pause des Nachsinnens) mit Bleiben-Sie-dran-Elementen zu zertrümmern, der kann bei Arte in eine andere Welt eintauchen. Klar strukturiert, ruhig, schön gestaltet, wohlüberlegt und klug komponiert, und dies auf allen Präsentationsebenen. Schon zu Anfangszeiten verzauberte die sogenannte Habillage, die Einkleidung/Präsentation der Programme auf dem Schirm, überhaupt die gesamte Anmutung. Unvergessen die tänzerische Grazie der bockspringenden Zwillinge als heiteres Verbindungselement",
schreibt, in der aktuellen Ausgabe von epd Medien, Uwe Kammann zum 30. Geburtstag von Arte. Als manchmal sehr angetaner, oft aber auch geplagter Fernsehbeobachter weiß ich durchaus zu schätzen, was wir an Arte haben. Die Mediathek, die Kammann lobt, ist sicher auch nicht die schlechteste eines Senders in Allemagne. Aber.
Aber die sogenannte Habillage von "Let’s Dance" beim RTL! Die Tanzshow, mittlerweile in ihrer x-ten Runde, ist mittlerweile so übliches Fernsehen, dass Anja Rützel, die Unterhaltungs- und Trashfernsehexpertin von spiegel.de, zur laufenden Staffel kein Wort verloren hat. Aber für die Jüngeren kann jede Staffel die erste sein. Und heute ist Finale. Nur noch drei Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind übrig, und das Kind, das ich zufällig sehr gut kenne, fiebert seit Wochen mit dem Paralympics-Silbermedaillengewinner Mathias Mester mit. Bei uns zu Hause wurde dieser Tage ein Foto von ihm im Kaktuskostüm ausgedruckt.
Als Antwort auf die Frage, was besseres Fernsehen ist, öffentlich-rechtliches Europa-Arte oder eine nicht unsympathische Privatfernsehtanzshow, kann ich in diesem Fall also nur ein salomonisches "Die einen sagen so, die anderen so" anbieten. "Immer wieder zog und zieht sich Arte fantasievoller, schöner an als alle anderen Sender", schreibt Uwe Kammann, aber ich kenne jemanden, der die Höchstpunktzahl für fantasievolles Anziehen lieber nach Köln gäbe.
Und damit für heute "Bonne Nuit – Gute Nacht"!
Altpapierkorb (Pressefreiheit in der Schweiz, Medienanwalt Christian Schertz, Franca Lehfeldt, "Tiefpunkt des öffentlich-rechtlichen Geschichtsfernsehens")
+++ Wie volatil die Freiheit der Medien ist, zeigt ein Fall, über den nach der Donnerstags-"FAZ" heute die "Süddeutsche Zeitung" schreibt. In der Schweiz wurde eine neue Zivilprozessordnung verabschiedet: "Bislang konnten Gerichte Medienberichte vorläufig stoppen, wenn den von der Berichterstattung Betroffenen ein 'besonders schwerer Nachteil' droht. Ein einzelner Parlamentarier der liberalen FDP fand, dass es das Wörtchen 'besonders' nicht brauche – und setzte sich mit dieser Meinung im gesamten Parlament durch." Bleibe es dabei, könne man "Medienberichte, die einem nicht passen, deutlich leichter blockieren", wird der Generalsekretär von Reporter ohne Grenzen Schweiz zitiert.
+++ epd Medien hat ein langes Interview mit dem Medienanwalt Christian Schertz geführt, der darin Dinge sagt wie: "Ich bin im Backstagebereich der Republik unterwegs und komme näher dran als die Journalisten, weil ich die Wahrheit kenne." Einen nachrichtlichen Kern hat das mehrseitige Interview auch – er steht auch nochmal weiter hinten in derselben Ausgabe von epd Medien: "Der Medienanwalt Christian Schertz wirft dem Bundesverfassungsgericht vor, im Fall von Jan Böhmermanns Erdogan-Schmähgedicht aus politischen Motiven gehandelt zu haben. Indem es die Beschwerde des Satirikers nicht zur Entscheidung annahm, habe sich das höchste deutsche Gericht 'schlicht weggeduckt'".
+++ Dass es "problematisch" sei, wenn Franca Lehfeldt, die Verlobte von Christian Lindner, als Chefreporterin Politik des Senders "Welt" über Politik berichtet, "wurde in den vergangenen Wochen mehrmals überdeutlich", schreibt Stefan Niggemeier bei Übermedien und erläutert, inwiefern.
+++ Ebenfalls bei epd Medien hat Altpapier-Kollege René Martens einen "neuen Tiefpunkt des öffentlich-rechtlichen Geschichtsfernsehens" ausgemacht, nämlich die deutsch-kanadische Koproduktion "Lüge und Wahrheit – Die Macht der Information", eine mehrteilige Reihe: "Der Film 'Skandale' etwa handelt zum Auftakt in weniger als vier Minuten den Fall Harvey Weinstein und die Entstehung der #MeToo-Bewegung ab, um dann erst einmal mehr als 2300 Jahre zurückzublicken: 'Skandale gibt es schon lange vor Erfindung der modernen Medien. Schon im Altertum haben sie die Macht, Regeln und Grenzen zu verändern.' Diese Sätze von all nicht zu großer Aussagekraft werden über ein paar Bildfetzen zur "Watergate"-Affäre gelegt. Um folgenden Skandal aus dem Altertum geht es dann: 'Ein Athlet aus Athen wird bei den 112. Olympischen Spielen beim Schummeln erwischt.'"
Neues Altpapier erscheint am Montag. Schönes Wochenende!
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