Das Altpapier am 13. Mai 2022 Der Unterschied zwischen "neu" und "neu für uns"
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13. Mai 2022, 10:45 Uhr
Zeitungen mögen schon vor dem Krieg klar in der Einschätzung Putins gewesen sein – aber waren sie das auch in der Einschätzung von Angela Merkels Russlandpolitik? Die Henri-Nannen-Recherche von "STRG_F" wird etwas überverkauft. Und: Wir vergeben einen Clickbait-Preis. An wen wohl? Ein Altpapier von Klaus Raab.
Die Talkkritik als Quengelware
Der Preis für die Clickbaitüberschrift der bisherigen Woche geht an die Onlineredaktion der Frankfurter Rundschau: "Bei ‚Hart aber fair‘: Merkel warnt vor ‚verzweifelter Tat’ Russlands" hat sie über eine Talkrezension der Plasbergshow vom Dienstag geschrieben (deren Veröffentlichung, aus welchen Gründen auch immer, auf die Nacht zum Donnerstag datiert ist). Da kann man nur gratulieren: Ich hab’ draufgeklickt. Ich kann auch die kurze Reiz-Reaktions-Abfolge in allen zwei Details benennen: 1. Merkel hat sich zum Ukraine-Krieg geäußert? 2. Gegen alle Wahrscheinlichkeit bei "hart aber fair"? – Und zack, hatte der Zeigefinger, dieser ungezogene kleine Wildfang, auch schon reagiert.
Merkel, so geht die Pointe, war tatsächlich da, allerdings war es nur (no offense) Wolfgang Merkel, der Demokratieforscher, der nicht mit Reinhard Merkel verwechselt werden darf, dem Rechtsphilosophen. Beide Männer-Merkels haben gemein, dass sie den kontrovers diskutierten Offenen Brief an den Bundeskanzler (also den Merkel-Nachfolger) erstunterzeichnet haben, der kürzlich bei emma.de erschienen ist (Altpapier), weshalb beide nun als Talkdebattisten zum Medienthema Ukrainekrieg infrage kommen. Während die andere Merkel, deren Beitrag zum Thema nachrichtenrelevant wäre, nach wie vor nicht als Talkgast zur Verfügung zu stehen scheint. Aus der ärgerlichen Tatsache, dass man immer nur die zitieren kann, die auch etwas sagen, hat fr-online.de hier also für sich das Beste gemacht. Aus Publikumssicht allerdings hat das entstandene Produkt den Charakter von Quengelware: Man schüttelt das Ü-Ei, glaubt, dass die seltene Exkanzlerinnenschlumpfine drin stecken könnte, trägt es zur Kasse – und hat dann doch wieder nur noch mehr von irgendwas konsumiert, was man so dringend nicht gebraucht hätte.
Der Unterschied zwischen "neu" und "neu für uns"
Als etwas, sagen wir, überverkauft könnte man auch den jüngsten Film des für funk produzierten NDR-Magazins "STRG_F" bezeichnen. Es geht darin um die Rolle des Verlegers Henri Nannen "in der Propaganda, um seine Tätigkeit für Flugblätter" während des Nationalsozialismus – konkret im Aktivpropagandaunternehmen "Südstern". Ralf Heimann hat den 21-minütigen Beitrag gestern an dieser Stelle schon erwähnt und darauf hingewiesen, dass darin ausgebreitetete Erkenntnisse "so richtig neu (…) nicht zu sein" scheinen. Der "Tagesspiegel" geht darauf nun ebenfalls ein: Neu seien bestimmte Vorwürfe nur dann, "wenn man an bereits vorhandenen und öffentlich zugänglichen Schilderungen aus dem Leben von Henri Nannen vorbeischaut", schreibt Kurt Sagatz. Er verweist etwa auf die vor neun Jahren erschienene Biographie von Stephanie Nannen über ihren Großvater und verlinkt einen Text aus dem "stern" von 2014.
Fakt ist: Selbstverständlich war schon vor den Recherchen von "STRG_F" bekannt, dass Henri Nannen für eine Propagandaeinheit der Nazis tätig gewesen ist und etwa "Flugblätter zur Demoralisierung vor allem der Amerikaner" abgeworfen hat, wie Stephanie Nannen im Mai 2014 in einem "Tagesspiegel"-Beitrag schrieb; dieser Text war als "Erwiderung auf Appelbaum" gelabelt. Appelbaum, das ist Jacob Appelbaum, der zuvor mit einem Nannen-Preis ausgezeichnet worden war, sich dann aber davon distanziert hatte: "Ich lehne es ab, den Namen zu tragen und den Kopf eines Mannes zu präsentieren, der Propaganda für die Nazis gemacht hat."
Wie gesagt: Das war 2014. Im kurz danach erschienenen, oben schon erwähnten "Stern"-Text heißt es, Nannen sei "im Bereich der Aktivpropaganda eingesetzt worden". 1944 habe er den SS-Obersturmführer Hans Weidemann getroffen, "der gerade das Aktivpropagandaunternehmen 'Südstern' aufzubauen hatte", und er sie mit ihm bald "offenbar freundschaftlich verbunden" gewesen. Ein Stabsschreiber wird daraufhin mit folgendem Satz zitiert: Weidemann "hatte zwar das Kommando, 'aber Sir Henri – so hieß er damals schon – war der Boss'."
Ich kann an dieser Stelle nicht mit einer Einordnung dienen, welche Details aus Nannens Biographie wann zum ersten Mal öffentlich wurden. Auch lange vor 2014 schon wurde Henri Nannens Vergangenheit verhandelt; aber die Verlegerforschung ist nicht mein Fachgebiet. Mir geht es hier um etwas anderes: darum, dass "STRG_F" nicht deutlich genug macht, was an den eigenen Recherchen neu ist und was nicht, und den Eindruck vermittelt, Nannens Propagandatätigkeit während des Nationalsozialismus sei in Gänze weitgehend unbekannt. Der Film beginnt mit folgendem Text:
"Heute geht’s um einen der größten Journalisten Deutschlands. Henri Nannen, Träger des Bundesverdienstkreuz, Gründer des Magazins 'Stern', Gründer von 'Jugend forscht'. Aber wir haben jetzt etwas gefunden, was richtig schlimm ist. Es geht um Propaganda aus dem Zweiten Weltkrieg. Schlimmer Antisemitismus. Und Nannen: der Boss davon." Dann sieht man den Reporter im On, der sich über Flugblätter beugt und sagt: "Ist ja unfassbar." Und schließlich die Frage: "Kann dieser Mann noch ein journalistisches Vorbild sein?"
Diese Frage kann man stellen. Nein, man sollte sogar, immer wieder. Aber das "noch" lädt zur Annahme ein, dass es bis dato keine Erkenntnisse und keine breite Diskussion darüber gegeben hat – zumal der Satz "wir haben jetzt etwas gefunden, was richtig schlimm ist" auf exklusive Recherchen hindeutet. Unterstrichen wird das bei YouTube durch den Beitragsteaser: "Henri Nannen, Gründer des Magazin STERN, hat zu Lebzeiten ausgiebig über seine Vergangenheit gesprochen. Doch über ein Kapitel hat er dabei immer einen Bogen gemacht: Seine Vergangenheit während des Nationalsozialismus". Wenn "STRG_F" ein Printmagazin wäre, dann wär’s wahrscheinlich ein "Stern" aus der Nannen-Zeit: lieber zu viel Konsumanreiz als zu wenig.
Ist es kleinkariert, die Verkaufe und gewisse kalkulierte Unschärfen eines Films zu kritisieren, der im YouTube-Universum eine Chance haben will? Nun, der Ball ist rund, Wasser ist nass, und bei YouTube wird auch mal etwas dicker aufgetragen. Also ist es womöglich irgendwie kleinkariert. Deshalb nun die berechtigt wohlwollende Position von Medienwissenschaftler Stephan Weichert. Er sagte dem "Tagesspiegel", das Video lasse "die Diskussion um die Vergangenheit Nannens in der Nazi-Zeit neu aufflammen". Und das ist tatsächlich gut und wichtig. Was 2014, 2010 oder in den 1970er Jahren einmal jemand über Nannen herausgefunden, geschrieben oder gesagt hat, hat die "STRG_F"-Zielgruppe aus Altersgründen tendenziell wohl nicht auf dem Radar. Und es ist gut, dass "die Recherche von 'Strg_F', sollte das so zutreffen, damit relevante Denkanstöße [liefert], auf welchem Fundament das deutsche Mediensystem ruht", wie Weichert weiter zitiert wird.
Andererseits verstehe ich trotzdem nicht, warum man im Film nicht klar zwischen "neu für uns" und "neu" unterscheidet. Das ist nun mal ein Unterschied. Und er ist im Geschichtsfernsehen auch nicht vollkommen irrelevant.
Wie berichteten Zeitungen über Russland – vor dem Angriffskrieg?
Angela Merkel, aber vor allem die SPD wurden in den vergangenen zwei Monaten für ihre in der Vergangenheit russlandfreundlichen Positionen kritisiert. Die Frage ist, ob die, die sie heute kritisieren – also auch viele Journalistinnen und Journalisten –, in den vergangenen Jahren so viel klüger waren und klarer sahen. Viele Korrespondentinnen und Korrespondenten, die aus Russland und der Ukraine berichteten, waren das gewiss. Aber hatte die Medienberichterstattung blinde Flecken in der Russlandberichterstattung, oder besser: welche? Dem gehen Anna Lea Jakobs und Heinrich Wefing in der "Zeit" nach, nicht repräsentativ, sondern stichprobenartig am Beispiel von fünf Zeitungen. "Haben wir die Katastrophe des russischen Vernichtungskrieges in der Ukraine kommen sehen? Haben wir ausreichend vor der deutschen Abhängigkeit von russischem Gas gewarnt?", fragen sie.
Natürlich ist das Bild, das sie aus Zitaten entwickeln, nicht einhellig. In der "Zeit" selbst erschien etwa ein Interview mit Helmut Schmidt, Bundeskanzler a.D. von der SPD (im Kontext des Textes aber vor allem: dem damaligen "Zeit"-Herausgeber), in dem er nach der Annexion der Krim durch Russland 2014 zu einer "Gegenrede gegen die Sanktionspolitik des Westens" angesetzt habe:
"Ob die Annexion der Krim ein Bruch des Völkerrechts sei, so Schmidt, 'da habe ich meine Zweifel'. (…) Er halte Putins Agieren für 'verständlich', Sanktionen gegen Russland seien 'dummes Zeug', sagte Schmidt. Er riet davon ab, sich von russischer Energie unabhängig zu machen, das sei nicht 'klug'".
Insgesamt aber sei die Berichterstattung zur Annexion der Krim durch Putin 2014, zum Abschluss des Vertrages Minsk II Anfang 2015, der einen Waffenstillstand für die Ostukraine sichern sollte, und zur Unterzeichnung des Vertrags über den Bau der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 im September 2015 klar und kritisch gewesen. Es sei "alles schon da" gewesen, schreiben Jakobs/Wefing: "die Zweifel, die Ratlosigkeit und die Augenwischerei. Aber auch eine große Klarheit in der Einschätzung Putins." Etwas resigniert machen sie deshalb eine Vergeblichkeit des öffentlichen Diskurses aus, jedenfalls "mitunter".
Wobei der öffentliche Diskurs über Putin und Russland eben nicht nur aus Einschätzungen zu Putin und Russland bestand – sondern zum Beispiel auch aus Einschätzungen der Politik der damaligen Bundesregierung. Zum zeitlichen Kontext, in dem all die ausgewerteten Artikel erschienen sind, gehört die damalige Bundeskanzlerin – und vielleicht, das deuten Jakobs und Wefing an, zeigt sich der blinde Fleck der Berichterstattung über die Russlandpolitik ja bei der Berichterstattung über sie. Es zeige sich jedenfalls "eine auffällige Milde beim Blick auf Angela Merkel", schreiben sie:
"Es gab wenig Illusionen über den Charakter von Putins Regime und viel Kritik an der Pipeline Nord Stream 2. Eine andere Frage ist es, warum eigentlich nicht mit derselben analytischen Schärfe nach der Rolle der Kanzlerin gefragt wurde und warum so wenig Fantasie entwickelt wurde, wie eine andere Russland-Politik hätte aussehen können."
Altpapierkorb (Kritik an Chatkontrollplänen, Ethik des Kriegsjournalismus, TV-Duell, WDR/Kliemann, 30 Jahre "GZSZ", Metaverse)
+++ Gestern ging es im Altpapier um den Plan der Europäischen Union, Unternehmen sollten die Kommunikation ihrer Kundschaft scannen. netzpolitik.org, in Deutschland mindestens mitführend in der kritischen Berichterstattung darüber, gibt einen Überblick über die vielstimmige Kritik an diesen Plänen.
+++"Es war nie so einfach, gewalthaltige Bilder zu verbreiten wie im digitalen Zeitalter. Die 'Tagesschau' verpixelt etwa die Aufnahmen von Toten. Ich finde das angemessen. Auch so erhalten Zuschauer einen Eindruck von der Realität des Krieges. Aber muss ich tatsächlich das Blut, die zerschossenen Körper im Detail zeigen? Darauf gibt es eine rechtliche Antwort: Auch Tote haben eine Würde und Persönlichkeitsrechte." Sagt, in einem im Ganzen lesenswerten Interview Oliver Zöllner vom Institut für Digitale Ethik an der Hochschule der Medien in Stuttgart. Es ist u.a. bei "Übermedien" erschienen.
+++ In Nordrhein-Westfalen wird gewählt, der WDR hat ein TV-Duell veranstaltet und, wie es sich bei Sportveranstaltungen gehört, auch einen Liveticker dazu geschrieben. Im Nachhinein sind diese Ticker freilich etwas seltsam, weil man sie chronologisch rückwärts lesen soll. Die andere Form der Nachbetrachtung sind Artikel. Bei zeit.de und spiegel.de sind welche erschienen.
+++ Die WDR mediagroup prüfe rechtliche Schritte gegen Fynn Kliemann. Es gehe um 5000 gebrandete Stoffmasken, die man "unter der Annahme" bestellt habe, "dass die Masken fair in Europa produziert werden". Darüber berichtet der "Tagesspiegel".
+++ Die "FAZ" schreibt über den Ermittlungsstand, kurz nachdem die Al-Jazeera-Korrespondentin Shireen Abu Akleh in Jerusalem erschossen worden ist.
+++ Folge 7516 der RTL-Soap "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" war eine Jubiläumsfolge, und sie lief am gestrigen Donnerstag. Zum 30. Geburtstag gratulieren "taz" ("Während die Debatte über mehr Diversity im deutschen Fernsehen erst in den letzten Jahren richtig Fahrt aufgenommen hat, war es bei 'GZSZ' schon vor über zehn Jahren selbstverständlich, dass auch queere und migrantische Geschichten erzählt werden") und "Zeit Online", wo Nils Markwardt angemessenerweise "die philosophische Dimension des großen GZSZ-Bösewichts" ausleuchtet: "Dr. Gerner ist nach Dr. Mabuse nicht nur der zweitausgebuffteste promovierte Outlaw im deutschsprachigen Raum, sondern verkörpert gleich doppelt das dialektische Versprechen – gute Zeiten, schlechte Zeiten – des allabendlichen Formats."
+++ Das Metaverse kreiselt auch weiter. Im "Zündfunk" von Bayern2Radio des Bayerischen Rundfunks lief dieser Tage eine kritische Einlassung. Bei ibusiness.de stehen ein paar Takte über die herumschwirrenden Begriffe von AR bis VR: "Wir haben in den letzten Jahren eine Vielzahl an Begriffen wahrgenommen und bemerkt, dass diese zum Teil unpräzise, falsch und uneinheitlich genutzt werden", so Prof. Florian Alt vom Forschungszentrum CODE der Universität der Bundeswehr München.
+++ "Wer vor 25 Jahren 1.000 Euro in Amazon investiert hätte, besäße heute…" – auch kein ganz schlechter Klickanreiz, den meedia.de da serviert. Soll ich’s jetzt verraten? Nein, natürlich nicht. Aber die kleine Korinthenkackerei sei gestattet, dass die Frage im Text nicht beantwortet wird. Darin wird nämlich berechnet, was wäre, wenn man 1000 Dollar investiert hätte.
+++ Die "Krautreporter" erklären bisweilen komplexe Sachverhalte verständlich und nennen das auch so: xy "verständlich erklärt". Neu im Angebot ist der Fall Julian Assange.
Neues Altpapier erscheint am Montag. Angenehmes Wochenende!
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