Das Altpapier am 19. April 2022 Sind Propaganda-TV-Mitarbeiter Journalisten?
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19. April 2022, 10:53 Uhr
Inwiefern Medien in der Klima- und Energiepolitik an einem doppelten "Pakt mit dem Teufel" beteiligt waren. Was der "Spiegel" über die "Zerrüttung" im von Deniz Yücel geführten Schriftstellerverband PEN schreibt. Warum die "Welt" sich mit der Verpflichtung einer russischen Autorin möglicherweise "verkalkuliert" hat. Ein Altpapier von René Martens.
Merkel, Murdoch und ein "entsetzliches Gesamtbild"
Die Desinformationskampagnen der fossilen Brennstoffindustrie, die ihren Teil zur Klimakrise beigetragen haben, waren schon öfter Thema im Altpapier, etwa in diesem. Mittlerweile - angesichts dessen, dass diese Industrie kriegsbedingt nun etwas anders in den Blick genommen wird - muss man die Propagandastrategien auch in einem erweiterten Kontext betrachten. Christian Stöcker tut es in einer furiosen "Spiegel"-Kolumne:
"All die Deals mit russischem Öl und Gas waren stets Pakte mit dem Teufel, in doppelter Hinsicht. Geld für den mordenden, lügenden und manipulierenden Kreml, und noch mehr CO₂ für ein Erdsystem, das damals schon keines mehr verkraften konnte".
Wobei er seine Kritik auch an "vier Merkel-Bundesregierungen" richtet. Da der Fokus unserer Kolumne in der Regel aber nicht auf Übeltaten und vermeintlichen Übeltaten von Bundesregierungen liegt, seien aus Stöckers Text die Aspekte zum bereits erwähnten Thema Desinformation herausgegriffen:
"Die heimliche Allianz derer, die um des eigenen Profits willen bereit waren, die Zukunft der Menschheit zu verspielen, umfasst die US-Ölkonzerne und ihre Nutznießer, die jahrzehntelang mit Propaganda gegen jeden Klimaschutz anlogen. Akteure wie die Koch-Brüder in den USA, deren 'Stiftungen' und 'Thinktanks' an vorderster Front kämpften, um den wissenschaftlichen Konsens – wir zerstören unseren eigenen Lebensraum – immer wieder infrage zu stellen (…) Ein weiteres wichtiges Mitglied der engeren Allianz der Öl-, Gas und Kohlefreunde, der Menschheitsfeinde also, war Rupert Murdoch mit seinem Medienimperium, das stets an der Seite der Republikaner, immer auf der Seite der fossilen Brennstoffe und oft auch an der Seite von Putins Propagandisten stand."
Ein Defizit der jüngeren Vergangenheit benennt Stöcker dann auch noch:
"Zum entsetzlichen Gesamtbild gehört, dass der jüngste IPCC-Bericht, dessen Warnungen sich mittlerweile trotz aller politischen Einflussnahme zunehmend verzweifelt lesen, weltweit ein deutlich geringeres Medienecho fand als eine Ohrfeige bei einer Filmpreisverleihung. Das Gift steckt tief in unseren gesellschaftlichen Systemen, bis heute."
Dass es Argumente gibt, in diesem Sinne auch die ARD als toxisch zu bezeichnen, kam kürzlich im Altpapier zur Sprache.
"Spiegel" und FAS gegen Springer?
These days are Deniz days - das kann man ohne Übertreibung sagen, denn nach dem Interview mit dem im Oktober gewählten PEN-Präsidenten Deniz Yücel in der "Zeit", das Kritik von PEN-Mitgliedern an seiner Art der Vereinsführung und Kritik des Präsidenten an seinem Verein zum Thema hatte (siehe Altpapier von Mittwoch), gibt es nun einen Spiegel-Artikel (€), in dessen Zentrum ein Gespräch mit Yücel steht.
"Nun versinkt der Schriftstellerverband in Chaos und Hass", heißt es im Vorspann. Hannah Pilarczyk schreibt:
"Es ergibt sich das Bild einer Zerrüttung: Zwei gewählte Beisitzerinnen haben das ursprünglich zehnköpfige Präsidium verlassen, eine ist ganz aus dem PEN ausgetreten. Der langjährige Justiziar des Vereins wurde von Yücel geschasst, zwei Mitglieder wurden vom Vorstand juristisch belangt. Außerdem ist unklar, wie es um die Anerkennung der Gemeinnützigkeit des PEN steht. Der Generalsekretär sagt, sie sei durch eine Nachlässigkeit des Präsidenten noch in der Schwebe. Der Präsident sagt, sie sei durch Versäumnisse von Personen aus dem vorherigen Präsidium gefährdet gewesen, nun aber gesichert. Jede Meinungsverschiedenheit, jedes Geschmacksurteil hat offenbar das Potenzial, zur Machtfrage zu eskalieren."
Zu den Hintergründen des "Hasses" und zum von im "Spiegel"-Text erwähnten Schassen des Justiziars (das Yücel gegenüber Pilarczyk nicht kommentiert) siehe auch das bereits verlinkte Altpapier von Mittwoch.
Exkurs: Jenseits der aktuellen Chaos-und-Hass-Zustände in Schriftstellerhausen greift Pilarczyk auch eine möglicherweise auf Yücels heutigen Regierungsstil Rückschlüsse zulassende Episode von 2007 auf, als er noch bei der "Jungle World" war. Als ein Redakteurskollege frei einen Text für "Die Welt" geschrieben habe, soll der heutige "Popstar der Springerpresse" (Jasmina Kuhnke) "eine Art Tribunal" für den Abweichler vorangetrieben haben:
"(Yücel) störte sich angeblich auch an dem Medium, in dem der Text erschienen war: der 'Welt', dem alten linken Feindbild. Yücel will zu dem alten Streit nichts sagen."
Doch zurück zur gegenwärtigen "Zerrüttung" im Schriftstellerverband:
"Versucht man, mit Yücel Detailfragen zu den Vorgängen zu klären, wird er ungehalten und wirft einem wiederholt eine vorgefertigte Meinung vor: Um SPIEGEL gegen Springer gehe es doch in Wahrheit."
Ach so!
Folgt man der von Yücel performten Logik, müsste man die aktuelle Medienseite der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" unter das Motto "FAS gegen Springer" stellen. Die Kolumne "Die lieben Kollegen" (€) ist zum Beispiel komplett dem "Streit um den PEN-Präsidenten Deniz Yücel" gewidmet. Dass dieser im "Zeit"-Interview einem Teil seiner Wählerschaft "Bratwursthaftigkeit" und "Kolonialherrengehabe" vorwirft, kommentiert Harald Staun so:
"Yücel scheint seinen Posten als Deutschlands oberster Dichter und Klartextdenker auszulegen und nicht groß zu unterscheiden, ob jemand etwas sagen darf oder ob er dies als Inhaber eines Amtes auch tun sollte."
Genüsslich greift Staun auf, dass der Tucholsky-Preisträger Yücel gern Tucholsky zitiert (etwa im "Zeit"-Interview, aber auch aus anderem Anlass bei Twitter), um am Ende die Frage anzudeuten, ob denn Tucholsky einen Anwalt eingeschaltet hätte, um gegen "wahrheitswidrige Behauptungen" (Yücel gegenüber dem "Spiegel") vorzugehen.
Springers "toxische Verbindung"
Der FAS-Aufmachertext (€) wiederum ist Marina Owsjannikowa gewidmet, die Mitte März mit einem Antikriegs-Plakat in einer russischen Nachrichtensendung berühmt wurde (siehe Altpapier) - und nun als Autorin für Springers "Welt" im Einsatz ist. Deren Verantwortliche hätten sich mit der Verpflichtung Owsjannikowas "eklatant verkalkuliert", meint Nikolai Klimeniouk. Denn:
"Immerhin war Owsjannikowa seit 2003 Mitarbeiterin des 'ersten Kanals', der wichtigsten russischen Propaganda-Anstalt. Sie war dort vor allem für O-Töne aus dem englischsprachigen Ausland zuständig und somit nur ein kleines Rädchen in der Hassmaschine, was sie aber nicht von jeder Komplizenschaft freispricht (…) Wie Owsjannikowa mit Fakten umgeht, hätten die Springer-Leute (…) einen Tag vor ihrer Kooperationsankündigung (erfahren können). Da veröffentlichte Owsjannikowa auf Facebook auf Russisch und Englisch einen 'an die ukrainischen Flüchtlinge' adressierten Post, in dem sie über ihre Kindheit in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny erzählt. Sie habe als Kind das Gleiche erlebt wie die Ukrainer jetzt, ihre Familie habe fliehen müssen (…) Das Problem mit dieser Darstellung ist, dass hier was nicht stimmen kann. In einem ausführlichen Interview, das Owsjannikowa 'Nowaja Gazeta' gegeben hat, erzählt sie, ihre Familie habe Grosny '1992 oder 1993' verlassen, da sei sie zwölf Jahre alt gewesen. Dabei ist Owsjannikowa 1978 geboren, und der erste Tschetschenien-Krieg fing im Dezember 1994 an."
In einer "Fazit"-Ausgabe bei Deutschlandfunk Kultur sagt Gesine Dornblüth, zwischen 2012 und 2017 Korrespondentin des Deutschlandradios in Moskau, Owsjannikowa sei überhaupt "keine Journalistin". Wenn man Propagandistinnen so bezeichne, "dann beschädigen wir unseren eigenen Berufsstand". Dornblüth weiter:
"Es ist ein Coup (…) Das Interesse an ihrer Person wird aber bald abebben und der Springer-Verlag wäre besser beraten, einige der zahlreichen und hochqualifizierten ukrainischen oder russischen Journalisten zu beschäftigen, die möglicherweise gerade wegen ihrer Arbeit ihr Land verlassen mussten."
Die Interpretation, dass es bei der "Welt" Leute gibt, die den "Coup" (Dornblüth) skeptisch sehen, lässt ein Satz aus der Schlusspassage von Klimeniouks FAS-Artikel zu:
"Kompetente Experten haben sie im eigenen Hause zur Genüge, die sie vor dieser toxischen Verbindung hätten warnen können."
Um noch einmal auf "These days are Deniz days" zurückzukommen: In der Owsjannikowa-Sache mischt Deniz Yücel auch mit. Am Gründonnerstag, als Mitglieder der von jungen Ukrainerinnen und Ukrainern gegründeten Hilfsorganisation Vitsche vor dem Springer-Haus protestierten und ähnliche Argumente vorbrachten wie kurz darauf Dornblüth und Klimeniouk, kam er aus dem Gebäude, um sich als Redaktions-Vorstopper ins Argumentationsgetümmel zu stürzen (siehe etwa einen Facebook-Post Yücels).
Elisabeth Rushton war für die "Berliner Zeitung" (€) bei der Protestaktion dabei und sprach auch mit Yücel. Der sagte ihr gegenüber:
"Tiefgreifende Veränderung passiert nie, ohne dass sich Angehörige eines herrschenden Blockes davon abspalten. Und wenn sie das auf glaubwürdige Weise tun und das mit einer Selbstkritik verbinden, dann finde ich es falsch, sie dafür zu verurteilen."
Selbstzahler Diekmann
Auch am Osterwochenende noch ein Thema: Kai Diekmanns aktuelle Reisebegleitungsaktivitäten. Der frühere "Bild"-Häuptling war an der Seite des österreichischen Kanzlers Karl Nehammer in der Ukraine und in Russland unterwegs gewesen (siehe Altpapier von Dienstag und Donnerstag). "Der Standard" blickt zurück:
"In der Ukraine versprach sich der Kanzler vor allem von Diekmanns Kontakten zu den Klitschko-Brüdern einen Vorteil. Man traf sich vor Ort, ließ sich gemeinsam ablichten. Mit auf dem Foto: Kai Diekmann. Der Berater stand mit verschränkten Händen zwar auf der Seite, aber ein Stück weiter vorn als alle anderen. Diekmanns etwas süffisanter Blick lässt vermuten, dass er sich hier ganz bewusst ins Zentrum gestellt hatte."
Dabei sei so etwas doch "nicht üblich für Berater, die sich für gewöhnlich im Hintergrund halten".
Robert Misik schreibt in der taz:
"Nehammer hat (…) seit Neuestem den abgewrackten Kai Diekmann, ehemals Gesamtherausgeber der Bild-Gruppe, im Schlepptau (…) Nehammer, etwas naiv und neu im Geschäft, hat leider ein paar Grundweisheiten der Politik-PR noch nicht drauf. Etwa: Mache nie den Berater zur Story. Nehammer und seine Leute sind mächtig stolz, einen berühmten Deutschen im Team zu haben ('deutsch' ist in Österreich ein Synonym für 'kompetent'). Diekmann wiederum ist offenbar energetisiert von der neuen Wichtigkeit und davon, dass er mittendrin ist im Wogen der Welthistorie.
Dann folgt der schönste Satz:
"Aber seien wir froh, dass Nehammer nicht den geschassten Ex-Bild-Chefredakteur Julian Reichelt engagiert hat – wer weiß, zu wem ihn der geschickt hätte."
Irgendwie noch schöner allerdings (bzw. geradezu rührend): eine Information, die der Kanzler im Interview mit dem Boulevardblatt "Krone" fallen lässt. Nehammer sagt:
"Seit ich ÖVP-Obmann bin, berät (Diekmann) die Partei in strategischen und kommunikationstechnischen Fragen. Wenn er etwas für das Bundeskanzleramt macht, dann ohne Honorar. Auch die Reisekosten hat er selbst bezahlt."
Altpapierkorb (erfundene Nazi-Opas, Antislawismus in der Debatte um den Krieg gegen die Ukraine, "Infowars" pleite)
+++ Julia Segantini geht für volksverpetzer.de darauf ein, wie russische Propaganda-Plattformen und eine deutsche Pro-Kreml-Aktivistin Olaf Scholz und Christian Lindner Nazi-Großväter anzudichten versuchen. Zurückzuführen seien die Lügen auf Yevgeny Prigozhin, einen "engen Vertrauten von Putin".
+++ Dass viele hier zu Lande erscheinende Texte rund um die Krieg gegen die Ukraine bzw. diesbezügliche Äußerungen notorischer Debattenmitmischer von "einer Unwissenheit über das östliche Europa" zeugten, "die fast schon rassistische Züge trägt", bzw. Ausdruck eines "tief verankerten Antislawismus" seien - das führt Thomas Dudek für n-tv.de aus.
+++ Die Verschwörungsglaubensverbreiter von infowars.com haben Insolvenz angemeldet. Das ist u.a. Gegenstand einer Reuters/"Süddeutsche"-Meldung. Die Plattform war zuletzt zu Schadenersatzzahlungen an die Hinterbliebenen von Opfern eines Schulmassaskers verurteilt worden, nachdem sie behauptet hatte, der Massenmord sei "von den Befürwortern strengerer Waffengesetze und den etablierten Medien erfunden worden". Auch "Der Standard" berichtet.
Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.
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