Das Altpapier am 13. April 2022 Eine Figur des 19. Jahrhunderts
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13. April 2022, 12:45 Uhr
Die neueste Entwicklung in der Auseinandersetzung um Deniz Yücels Führungsstil als Schriftstellerverbands-Präsident: ein Interview, das er der "Zeit" gegeben hat. Aus anderen Gründen brisant: Interviewäußerungen der ARD-Programmdirektorin Christine Strobl zum Thema Rundfunkorchester. Ein Altpapier von René Martens.
Die Hinterzimmer-Mauschelei von Schriftstellern
Wenn bisher vom "Fall Yücel" die Rede war, dann ging es in der Regel um die Einkerkerung des Journalisten Deniz Yücel in einem Gefängnis eines autokratischen Nato-Mitgliedsstaates und um die Bemühungen, seine Freilassung zu erreichen (die im Februar 2018 dann endlich von Erfolg gekrönt wurden, siehe Altpapier).
Die Formulierung "der Fall Yücel" weckt seit dem 20. März aber auch andere Assoziationen. An jenem Tag erschien online bei der FAZ ein Artikel (€), der Yücels Arbeit als Präsident des Schriftstellerverbandes PEN kritisiert. PEN-Mitglied Petra Reski, freie Italien-Korrespondentin und Krimi- und Sachbuchautorin, wirft Yücel und einigen Präsidiumskollegen vor, sie betrieben "Mobbing". Kurz darauf sagte Volker Skierka, früherer Lateinamerika-Korrespondent für die "Süddeutsche Zeitung" und Autor einer Fidel-Castro-Biographie, im Deutschlandfunk, Yücel sei als Präsident "untragbar".
Grundlage von Reskis FAZ-Text ist unter anderem ein zwischen dem 19. und 22. Februar stattfindender Mailwechsel, in dem Yücel und weitere Mitglieder des Präsidiums darüber beratschlagen, wie sie zwei ihnen missliebige Mitglieder (die Vizepräsidentin Astrid Vehstedt und den Generalsekretär Heinrich Peuckmann) des Gremiums am besten aus ihrem Amt drängen können. Der Mailwechsel ist ein Dokument klassischer Hinterzimmer-Mauschelei - und im übrigen auch ein Indiz dafür, dass das Demokratieverständnis der Beteiligten nicht allzu ausgeprägt ist. Denn die, die Yücel und Co. aus dem Amt drängen wollen, sind erst Ende Oktober 2021 von der Mitgliederversammlung gewählt worden - genau wie Yücel selbst.
Am 27. März erwähnt Reski dann in ihrem Blog eine Reaktion der anderen Seite:
"PEN-Präsident Yücel, der sich noch im 3sat-Interview als Hüter 'der Freiheit des Wortes und der Kraft des besseren Argumentes' darstellte, (ließ) dem Journalisten und PEN-Mitglied Volker Skierka und mir am Freitag einen Maulkorberlass durch den teuersten Medienanwalt Deutschlands zukommen."
Am 7. April folgte dann ein Update, in dem es darum geht, "dass der PEN-Justiziar Klaus Uebe dem PEN-Präsidenten Yücel und seinen Mitstreitern bei einer Zoom-Konferenz am 28. März 2022 klargemacht" habe, dass der erwähnte Anwaltsbrief "ohne rechtliche Relevanz ist und überdies auch noch vereinsrechtlich unrechtmäßig, weil er nicht von den zur Zeichnung befugten Präsidiumsmitgliedern unterschrieben wurde". Daraufhin sei "der jahrzehntelang für den PEN pro bono arbeitende" Uebe "zusammengebrüllt, fristlos entlassen und aus der Zoomkonferenz geworfen" worden.
"Bratwursthaftigkeit und Kolonialherrengehabe"?
Manchem Lesenden mag sich nun die Frage stellen, warum ich das alles ausführlich rekapituliere. Das hat mehrere Gründe.
Erstens: Das "Zusammenbrüllen" eines renommierten Darmstädter Juristen scheint - und darauf deuten viele Dokumente hin, die "praktisch in allen Redaktionen kursieren", wie Reski gegenüber dem "Altpapier" sagt - typisch zu sein für den Umgangston, den Yücel und seine Anhänger im Präsidium pflegen.
Zweitens: Es sind zuletzt zwar recht viele Artikel zur internen Kritik an Yücel erschienen (vor einer Woche in der SZ etwa), aber zu den rechtlichen Einschüchterungsversuchen findet sich in den führenden Medien meines Wissens kein Wort.
Drittens: In der neuen Ausgabe der Zeit (€) äußert sich Yücel meiner Wahrnehmung nach zum ersten Mal in einem Eins-zu-eins-Interview in dieser eigenen Sache. Es ist insgesamt eine seltsame Axel-Springer-lastige bzw. geradezu "Welt"-lastige "Zeit"-Ausgabe, denn neben dem "Welt"-Mann Yücel wird an anderer Stelle auch noch dessen Vorgesetzter Ulf Poschardt interviewt - aber das nur nebenbei.
An knalligen Formulierungen fehlt's in dem Gespräch, das Jana Hensel mit Yücel geführt hat, natürlich nicht. Zum Beispiel:
"Mir scheint das eher ein Konflikt zwischen einer Gruppe von Leuten, die im PEN eine Mischung aus Honoratiorenhaftigkeit und Vereinsmeierei pflegen, und anderen, die froh sind, dass etwas in Bewegung kommt."
Yücel weiß natürlich, dass so ein, tja, Narrativ gut ankommt. Der Held der Pressefreiheit will den verstaubten Laden aufräumen - das hören Journalistinnen und Journalisten gern und vermutlich liest es das "Zeit"-Publikum gern. Vermutlich auch Folgendes:
"Was mich nervt, ist diese Mischung aus dünkelhafter Bratwursthaftigkeit und Kolonialherrengehabe, auf die ich neben vielen tollen Dingen und Menschen im PEN auch gestoßen bin."
Jasmina Kuhnke, die auch auf den Abwahlantrag der Yücel-Kritiker eingeht, schreibt bei Twitter dazu: "Ich habe Fragen". Und gibt ihrem Befremden darüber Ausdruck, dass der Satz mit der Kritik am vermeintlichen "Kolonialherrengehabe" ausgerechnet von dem Mann "formuliert worden ist, der seine Kolumne 'Liebe N-Wörter, ihr habt 'nen Knall' immer wieder gerne noch mal postet, bzw retweetet".
Zum Aspekt Yücel und das N-Wort siehe auch diesen taz-Hausblogbeitrag von 2013.
"Fragen" habe ich auch: Inwiefern ist die Kritik am "Kolonialherrengehabe" denn valide? Die Formulierung kommt so krachledern daher, dass man eher vermuten kann, dass das größtmögliche Gegenteil zutrifft. Man könnte ja mal die Teilnehmenden des "Writers in Exile"-Programms fragen, ob sie bei den PEN-Leuten "Kolonialherrengehabe" bemerkt haben.
Im Interview geht Yücel auch auf den erwähnten Generalsekretär Peuckmann ein, den er loswerden will, er bezeichnet ihn als "pensionierten Religionslehrer aus Kamen".
Das ist keine falsche Tatsachenbehauptung und im Prinzip eine legitime polemische Stichelei, wie sie unter Schriftstellern nicht unüblich ist. Aber: Wenn man Wikipedia glauben darf, hat Peuckmann fünf Lyrikbände, 17 Kriminalromane, sieben Jugendbücher, 15 Kinderbücher und 23 weitere Romane, Novellen- und Erzählungsbände u.ä. veröffentlicht.
Nun ist Masse nicht gleich Klasse - Disclosure: Ich habe keines der Bücher gelesen -, aber in diesem Lichte wirkt die Formulierung "pensionierter Religionslehrer aus Kamen" dann doch armselig. Für jemanden, dessen stilistische Fähigkeiten durch den Tucholsky-Preis beglaubigt sind, ist es beinahe ein Zeichen von Hilflosigkeit.
Andererseits wirkt die Abfälligkeit "pensionierter Religionslehrer aus Kamen" noch harmlos, wenn man einen Brief an Deniz Yücel als Maßstab nimmt, den der bereits erwähnte Yücel-Kritiker Volker Skierka geschrieben hat. Er liegt dem Altpapier vor (und vielen anderen Journalistinnen und Journalisten auch). Darin heißt es (auch auf andere Präsidiumsmitglieder bezogen):
"Eure Beleidigungen und Herabsetzungen sind passagenweise von einer solchen Widerwärtigkeit, wie sie wohl nicht einmal in einem Verein zur Pflege ranzigen Sprachgutes geduldet würden (…) Es sieht danach aus, als ob ihr (…) immer noch nicht in Eure Rolle als Repräsentanten einer der angesehensten NGOs hineingefunden habt. Man kann nicht nach außen für gepeinigte Menschen eintreten, wenn man nach innen gegen die eigenen Leute tritt. Vor allen anderen hat doch der Präsident die Aufgabe integrativ und ausgleichend zu wirken (…) Natürlich gibt es immer mal Konflikte, Kompetenzunklarheiten, Eifersüchteleien in Kollegialorganen wie auch dem unseren. Da fällt dem Präsidenten, der Präsidentin die Aufgabe zu, mit diplomatischem Geschick die Befindlichkeiten auszutarieren und mit freundlicher Bestimmtheit überbordende Emotionen zu glätten. Der Präsident hat den Laden zusammenzuhalten und nicht auch noch, wie Du es leider tust, sich an die Spitze einer Fraktion zu setzen und von einem eingebildeten Thron aus Öl ins Feuer zu kippen."
Gegenüber dem "Altpapier" sagt Skierka, all die Yücel beispringenden Journalistinnen-Kolleginnen und -Kollegen, die sonst vermutlich jederzeit gegen Diskriminierung einträten, ignorierten, dass er einen Führungsstil pflege "wie ein Autokrat des 19. Jahrhunderts".
Das ist aber zumindest teilweise erklärbar: Yücel ist für viele halt ein Held, und viele üble Feinde hat er auch. Ihn zu kritisieren - das ist keine leichte Gratwanderung.
Hensel fragt in dem "Zeit"-Interview:
"Sie wählen immer wieder drastische Worte. Ist das die tiefgreifende, systemische Störung des Anstands, die man Ihnen vorwirft?"
Das bezieht sich nun aber nicht auf Skierkas Brief an Yücel - obwohl Hensel ihn gelesen haben wird -, sondern direkt darauf, dass der Interviewte vorher von einem "Scheißgrillabend mit (…) Ruhrpottdichtern" gesprochen hat.
Yücel hält es vermutlich für provokant, "Scheißgrillabend" zu sagen. Als hätte es Horst Schimanski nie gegeben.
Nicht außer Acht gelassen werden soll an dieser Stelle natürlich, dass es jenseits der Kritik an Yücels suboptimalen Umgangsformen auch noch eine weitere Konfliktlinie gibt: Sie betrifft seine militärstrategischen Überlegungen (siehe den Einstieg des "Zeit"-Interviews). Diese Konfliktlinie dient in vielen Artikeln (zum Beispiel in der taz) aber eher dazu, den Kern des Problems zu verdecken.
Zu dem kommt man eher, wenn man beim vom Präsidium verschickten "Vorschlag zur Tagesordnung" für die PEN-Mitgliederversammlung im Mai in Gotha auf Programmpunkt 20 blickt: "Aussprache/Abstimmung über ev. weitere Anträge zum Präsidium und zur Einsetzung eines Gremiums zur Einleitung von Ausschlussverfahren (nicht öffentlich)", heißt es an dieser Stelle. Soll da etwa versucht werden, interne Kritiker möglichst schnell auszuschließen?
Seitdem der "Vorschlag zur Tagesordnung" verschickt wurde, brennt der Baum beim PEN jedenfalls noch etwas heftiger.
Altpapierkorb (keine Abstumpfung durch Kriegsbilder, Christine Strobls Meinung zu öffentlich-rechtlichen Orchestern, "Sugarlove", Tote Hosen in der DDR)
+++ Der Aufmacher der FAZ-Medienseite heute: ein Interview (€) mit dem Neuropsychologen Thomas Elbert, in dem es darum geht, inwiefern die ständige Präsenz von Kriegsbildern kontraproduktiv sein könnte. "Dieser Krieg spielt sich wie kein anderer Krieg zuvor auch auf der Ebene von Bildern ab, die millionenfach in den sozialen Netzwerken geteilt werden. Wie groß ist die Gefahr einer Abstumpfung?" fragt Melanie Mühl. Elberts Antwort: "Menschen, die nicht kriegstraumatisiert oder Opfer von Gewalt geworden sind, können meist mit schonungslosen Bildern aus dem Krieg umgehen. Man stumpft dadurch nicht ab, sondern eher wird das Gefühl verstärkt: 'Schluss mit diesem Krieg!'"
+++ Harald Fidler vom "Standard" hat die ARD-Programmdirektorin Christine Strobl unter anderem gefragt, ob Orchester noch "ein zeitgemäßes Angebot für Rundfunkanstalten" seien. Strobl sagt: "Heute muss man wahrscheinlich eher fragen: Können wir diese Orchester nicht besser in einer anderen Form als beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk erhalten? Auch deshalb hat Tom Buhrow als ARD-Vorsitzender den Vorschlag gemacht, den Auftrag an dieser Stelle noch einmal schärfer zu definieren und nachzujustieren (…) Früher mussten die Rundfunkanbieter im Bereich der klassischen Musik selbst aktiv sein, um dann diese Musik übertragen zu können. Das ist ja heute nicht mehr so, und insofern hat das heute in diesem Sinne auch nichts mehr mit dem klassischen öffentlich-rechtlichen Kulturauftrag zu tun." Dass das einen Aufschrei auslösen wird (um es vorsichtig zu formulieren), weiß Strobl natürlich. Zumal, wie sie in dem Interview dann auch noch sagt, die Orchester der Landesrundfunkanstalten "gar nicht meine Zuständigkeit" sind.
+++ "Eine Frau Anfang 60 wird mit nacktem Oberkörper im Spielfilm gezeigt. Nicht beim Arzt. Nicht in der Gerichtsmedizin. Nein, im Bett. Nach dem Sex. Oft genug können wir Zuschauerinnen schon froh sein, wenn die ältere Frau im Film noch einen Namen hat" - Silke Burmester findet in der SZ lobende Worte für den heutigen ARD-Mittwochs-Film "Sugarlove"
+++ Der "Tagesspiegel" und die FAZ (€) gehen auf Martin Groß' historische Dokumentation "Auswärtsspiel – Die Toten Hosen in Ost-Berlin" ein, bringen aber beide das Kunststück fertig, über deren Machart und Qualität kein Wort zu verlieren.
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.
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