Das Altpapier am 6. April 2022 Recherche aus dem All
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05. April 2022, 10:01 Uhr
Mit Satellitenbildern entlarvt die "New York Times" die russische Propaganda zu Butscha – eine Recherchehilfe auch bei anderen Themen. Weit weniger technologisch wünscht sich der Ethikrat die Pandemie-Kommunikation: Er fordert mehr Flyer und Plakate. Ein Altpapier von Annika Schneider.
Inhalt des Artikels:
Journalismus von oben
Wie umgehen mit den Bildern aus Butscha? Die Debatte, die an dieser Stelle schon gestern Thema war, ist noch nicht erschöpft. In der "Süddeutschen Zeitung" (€) schreibt Meredith Haaf:
"Nicht die Art der Kampfhandlungen ist entscheidend dafür, wie ein Krieg von seinen Beteiligten und in der Welt wahrgenommen wird – sondern die Aufnahmen, die es davon gibt. (…) Ein Krieg, von dem es kaum Bilder gibt, ist zwar nicht weniger real, aber seine Opfer werden weniger genau gezählt, die Täter seltener bestraft."
Dass das Erleben der unmittelbar Kriegsbeteiligten tatsächlich so sehr davon abhängt, was für Fotos das Erlebte zeigen, wage ich zu bezweifeln. Ganz sicher spielen die Bilder aber eine zentrale Rolle bei der Wahrnehmung in der Weltöffentlichkeit und somit für den weiteren Kriegsverlauf.
Das gilt für viele Kriege aus der Vergangenheit, in jüngeren Konflikten ist aber im wahrsten Sinne des Wortes eine neue Perspektive hinzugekommen: der Blick von oben. Bei der Entlarvung der russischen Lügen über eine angebliche "Inszenierung" der Leichen in Butscha haben Satellitenbilder eine entscheidende Rolle gespielt, die die "New York Times" (€) ausgewertet hat.
Was Satellitenjournalismus leisten kann, hat gestern der in diesem Bereich engagierte Michael Anthony in der (von mir redaktionell vorbereiteten) @mediasres-Sendung erklärt (hier zu hören). Er hat in den vergangenen fünf Jahren eine "Demokratisierung" der Satellitendaten beobachtet, weil sie inzwischen viel mehr Menschen zugänglich seien. Die Aufnahmen seien unter anderem da sinnvoll, wo Korrespondentinnen und Korrespondenten nicht hinkommen, nicht nur in Butscha, sondern etwa auch bei Menschenrechtsverletzungen in Myanmar. Gleichzeitig betont Anthony, Satellitendaten seien
"ein sehr, sehr wichtiges und sinnvolles Tool – aber immer in Ergänzung und immer eingebettet in einen lokalen Kontext. Denn auch ein Satellitenbild muss immer interpretiert werden. Ein Satellitenbild an sich ist immer zu starr, auch in seiner Perspektive. […] Es braucht einen lokalen Kontext, um es richtig zu interpretieren."
Heißt: Als alleinige Quelle taugen die Aufnahmen kaum, wohl aber zur Verifikation von anderen Fotos, Videos oder Aussagen. Nicht nur in Konfliktregionen, auch in der Beobachtung von Umweltzerstörungen können Satellitenbilder einen wichtigen Beitrag leisten.
Die größten Hürden, Satellitenbilder journalistisch auszuwerten, seien "Wolken" (wobei das nicht für Radaraufnahmen gilt) und "Kosten", sagt Anthony in dem Interview (das mein Kollege Michael Borgers zu einem längeren Hintergrundstück angereichert hat). Es gebe zwar kostenlose Daten von öffentlichen Anbietern wie den Raumfahrtagenturen, aber die Bilder kommerzieller Firmen verfügten oft über eine höhere Auflösung. Im Fall Butscha nutzte die "New York Times" Aufnahmen des Privatunternehmens Maxar Technologies.
Ein paar grundsätzliche Erklärungen, mit welchen Daten Satellitenjournalismus arbeitet, hat Julia Bayer von der Deutschen Welle schon vor zwei Wochen auf Twitter geliefert – sie beschäftigt sich ebenfalls mit dem Thema und stellt in Tweets regelmäßig kleine Recherchehausaufgaben. Auch "Bellingcat" arbeitet mit Bildern aus dem All. Das Recherchekollektiv hat die Dienste eines Satellitenanbieters abonniert und bat schon im September um Vorschläge, welche Orte auf der Welt es wert sein könnten, von oben analysiert zu werden.
Von Satellitenjournalismus könnten wir demnächst also noch mehr hören. Am Wochenende startet Michael Anthony mit seinem Kollegen Marcus Pfeil in Kooperation mit dem Verein journalists network ein Projekt, das Journalistinnen und Journalisten zu einer mehrmonatigen, virtuellen Recherchereise einlädt, bei der es vor allem um die datengestützte Nachverfolgung von Lieferketten gehen soll.
Kenntnisse in Datenjournalismus gehören schon jetzt zu den Superskills, die in der Medienbranche Türen öffnen. Womöglich werden bald immer mehr Medienprofis gesucht, die auch Satellitenbilder journalistisch auswerten können – kleiner Karrieretipp an alle Nachwuchstalente.
In der Berichterstattung über Butscha haben die Satelliten in jedem Fall einen unschätzbaren Dienst geleistet. Denn der Unsinn, der aus dem Kreml nach dem Massaker zu hören war, die Toten hätten beim Abzug der Russen noch nicht auf der Straße gelegen, wurde von den meisten Medien zwar angezweifelt, aber pflichtschuldigst berichtet. Dank der Satellitenauswertung gab es schnell überprüfbare Fakten aus einem Gebiet, in das wochenlang keine Journalistinnen und Journalisten reisen konnten.
Medienrüge vom Ethikrat
Vom Blick in die Zukunft zu einem Blick in die Vergangenheit. Die Corona-Berichterstattung in deutschen Medien ist im Großen und Ganzen gut gelaufen: Zu diesem Ergebnis kam im vergangenen Herbst eine Studie von Forschern aus Mainz und München, erstellt im Auftrag der Rudolf-Augstein-Stiftung. Das Team hatte elf Leitmedien empirisch untersucht und ihnen insgesamt ein gutes Zeugnis ausgestellt.
Zu den Kritikpunkten gehörte unter anderem, dass die sozialen Folgen der Pandemie-Maßnahmen zu selten thematisiert und die Eigenschaften des Virus zu selten beschrieben worden seien. Unterm Strich beantworteten die Forscher die von ihnen im Studientitel aufgeworfene Frage, ob die Berichterstattung "Einseitig, unkritisch, regierungsnah?" gewesen sei, aber mit einem klaren Nein und bescheinigten den Medien grundsätzlich Ausgewogenheit.
Zu einem anderem Ergebnis kommt der Deutsche Ethikrat in einer am Montag veröffentlichten Stellungnahme, in der er den Umgang mit der Corona-Pandemie bewertet und Empfehlungen für die Zukunft gibt. In dem Dokument heißt es:
"Massenmedien und insbesondere die öffentlich‐rechtlichen Rundfunk‐ und Fernsehanstalten haben gerade in Krisenzeiten die für eine republikanisch verfasste Demokratie unverzichtbare Aufgabe, das strittige Für und Wider von Maßnahmen in einer räsonierenden Öffentlichkeit hör‐ und sichtbar zu machen. Der kritische Teil dieser Aufgabe wurde zu Beginn der Corona‐Krise nicht immer im wünschenswerten Maß erfüllt. Zwar mag die Zurückhaltung, angesichts der Größe, der Neuartigkeit sowie der 'Plötzlichkeit' der pandemischen Problemlagen jedes Detail mit scharfer Kritik zu fokussieren, durchaus verständlich und berechtigt gewesen sein. Im weiteren Verlauf der Pandemie jedoch wurden selbst offenkundige Fehlentwicklungen von einem sich selbst als 'konstruktiv' oder 'gemeinwohlsensibel' verstehenden Journalismus kaum in der notwendigen Deutlichkeit aufgegriffen."
An anderer Stelle präzisiert der Text, dass die Medien das "evidenzbasierte Regieren" gerne als alternativlos dargestellt hätten. Es wird angedeutet, dass die Berichterstattung zu "affirmativ oder einseitig plädierend" gewesen sei.
Was tun mit dieser Medienschelte? Zunächst einmal zur Einordnung: In der 162-seitigen Stellungnahme des Ethikrats macht die Medienkritik insgesamt nicht einmal eine ganze Seite aus, in der dazugehörigen Pressemitteilung wurde sie gar nicht erwähnt.
Das hielt die "Welt" nicht davon ab, die Medienrüge gestern prominent auf ihrer Titelseite zu platzieren und so den Eindruck zu erwecken, der Ethikrat hätte sich in seiner Stellungnahme ausführlich dem Pandemie-Journalismus gewidmet.
Die Medienkritik des Gremiums ist aber nicht nur knapp gehalten, sondern auch denkbar allgemein: Weder listet der Ethikrat konkrete Beispiele, noch nennt er einzelne Redaktionen, auch wenn der Begriff "die Medien" bekanntermaßen von der "Tagesschau" bis zum Boulevardblatt alle und niemanden meint und somit maximal schwammig ist. Es bleibt ein Rätsel, welche "offenkundigen Fehlentwicklungen" denn so wenig thematisiert worden sein sollen – hier hätten ein paar Beispiele der Kritik gut getan, auch, damit sie nicht von beliebiger Seite vereinnahmt werden kann.
Trotzdem: Allzu weit liegen die Medienforscher und die Ethikwächter vielleicht gar nicht auseinander. Denn auch die Studie kommt zu dem Schluss,
"dass in den Medien ein die Maßnahmen unterstützender bzw. sogar noch weitreichendere Maßnahmen fordernder Tenor vorherrschte".
Zwar war diese Tendenz in den unterschiedlichen Phasen der Pandemie unterschiedlich stark ausgeprägt:
"Allerdings überwog über die gesamte Dauer unserer Analyse deutlich die Position, dass die Maßnahmen angemessen waren oder nicht weit genug gingen."
Nimmt man diese Beobachtung zusammen mit dem Befund, dass die sozialen Nebenwirkungen der Maßnahmen medial eher unterrepräsentiert war, ergibt sich vielleicht doch ein Anhaltspunkt, wie sich das grundsätzlich hohe Niveau der Pandemie-Berichterstattung, das Zahlen zu Nachrichtennutzung und Medienvertrauen belegen, beim nächsten Mal noch anheben ließe – durch mehr Vielfalt der Perspektiven, wobei ich damit natürlich keine "false balance" mit Berücksichtigung kruder Verschwörungstheorien meine.
Der gute alte Pandemie-Flyer
Der Ethikrat beschäftigt sich in seiner Stellungnahme auch mit der Pandemie-Kommunikation der Politik, die dabei nicht allzu gut wegkommt. Sie habe Falschinformationen wenig entgegenzusetzen, weil sie
"in erster Linie über die Presse und die öffentlich‐rechtlichen Radio‐ und Fernsehsender erfolgt, weshalb Teile der Bevölkerung, die sich nicht (mehr) über diese Medien informieren, nicht erreicht wurden",
heißt es. Passend dazu hat die "Süddeutsche Zeitung" schon am vergangenen Wochenende in einem großen Text (€) analysiert, was bei der Corona-Kommunikation schief gegangen ist. Sie hat dazu eine Reihe von Fachleuten befragt, die unter anderem empfehlen
"sich für zukünftige Krisen bei der Auswahl der Medien, über die Informationen verbreitet werden, wieder mehr auf die Klassiker zu konzentrieren: klassische Plakatwerbung, Flyer, Radio und Fernsehen statt vor allem Internet".
Menschen mit niedriger Bildung und schlechtem sozioökonomischen Status, ältere Menschen und chronisch Kranke seien schlecht erreicht worden. Wer in den vergangenen zwei Jahren versucht hat, auf Behördenseiten schnell alltagstaugliche Infos zu finden (Wo gibt es den nächsten PCR-Test? Wie lange besteht nach einem Risikokontakt Ansteckungsgefahr?), kann diese Kritik womöglich nachvollziehen.
Hinzu kommt: Immerhin 3,8 Millionen Menschen in Deutschland waren noch nie im Internet. Und nein, darunter fallen nicht vor allem Neugeborene und Uralte, wie man es auf den ersten Blick denken mag – die Zahl, die vom Statistischen Bundesamt stammt, bezieht sich nur auf Menschen zwischen 16 und 74. So war es gestern bei turi2 zu lesen (mit Bezug auf eine vom "Stern" veröffentlichte Agenturmeldung).
An den großen Medienhäusern lag es wohl eher nicht, dass die politische Kommunikation in der Pandemie so schlecht wegkommt: Die Studie zur Corona-Berichterstattung zeigt nämlich auch, dass Politikerinnen und Politiker sehr häufig in Medien zu Wort kamen – ihre Statements waren also auch im linearen Programm und in der guten alten Zeitung durchaus präsent.
Altpapierkorb
+++ Dass Julian Reichelt der Medienbranche gerne erhalten bleiben möchte, war absehbar. Nun berichtet der "Spiegel" über erste Details: Demnach hat der ehemalige "Bild"-Chef Ende März eine Firma namens Rome Medien GmbH gegründet, die Medieninhalte national verbreiten und vermarkten will. "In den vergangenen Wochen bemühte sich Reichelt offenbar wiederholt darum, Mitarbeiter von seinem früheren Arbeitgeber abzuwerben. Mindestens ein Dutzend Personen seien angesprochen worden, erzählt man sich bei »Bild« – mit mäßigem Erfolg", schreiben Alexander Kühn und Anton Rainer unter Mitarbeit von Laura Meyer. +++
+++ Bei Twitter soll es bald die Möglichkeit geben, Tweets nach der Veröffentlichung zu editieren. Zum Thema gemacht hatte das der Multiunternehmer Elon Musk. Er ist nicht nur als Aktionär bei Twitter eingestiegen, sondern zieht nun auch in den Verwaltungsrat der Plattform ein. Bei Heise ist zu lesen, dass Musk in den kommenden Monaten "deutliche Verbesserungen" an Twitter vornehmen will."+++
+++ Das Bundeskartellamt hat (nachträglich) zugestimmt, dass das Medienunternehmen von Silvio Berlusconi seine Anteile an ProSiebenSat.1 auf ein Viertel erhöhen darf. Warum die Stimmung zwischen den beiden Unternehmen angespannt ist und wie die bayerische Mediengesetzgebung in dem Fall mitmischt, beschreiben Henning Peitsmeier und Christian Schubert in der FAZ (€). +++
Neues Altpapier gibt’s wieder am Donnerstag.
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