Das Altpapier am 1. April 2022 Dammbruch in der Kloake
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01. April 2022, 12:32 Uhr
Die Presseverlage wollen ihr Leistungsschutzrecht in ein EU-Gesetz mogeln, fliegen damit aber auf. Patrick Gensing erklärt, warum es beim Faktenchecken nicht nur um Fakten geht. Und: Wie die regierungsnahen Sender in Ungarn Wahlkampf machen. Ein Altpapier von Ralf Heimann.
Soziale Marktwirtschaft im digitalen Zeitalter
Die Europäische Union ist sich vor einer Woche über den sogenannten "Digital Markets Act" einig geworden (Altpapier) – das Gesetz, das die digitalen Märkte etwas fairer machen soll. Oder anders gesagt: Das Gesetz, das verhindern soll, dass die Digitalriesen machen können, was sie wollen. Michael Hanfeld hat zu diesem für ihn freudigen Anlass etwas getan, das er meinem Eindruck nach sehr gerne macht. Er hat auf seiner Medienseite in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung etwas Platz freigeräumt, um dort jemanden schreiben zu lassen, der Hanfelds Meinung in etwas anderen Worten paraphrasiert. Das ist in diesem Fall Andreas Schwab, der für die CDU im Europäischen Parlament sitzt und dort unter anderem die Aufgabe hat, über das Digitalmärkte-Gesetz berichtzuerstatten. Titel des Beitrags (€): "So hegen wir die Konzerne ein."
Schwab schreibt:
"Das Gesetz über digitale Märkte leitet weltweit eine neue Ära der Tech-Regulierung ein. Europas Regeln und die Umkehr der Beweislast für die größten Tech-Unternehmen werden den Standard setzen."
Dadurch lege man den Hebel um, "anstatt dass die europäischen Behörden jahrelange Ermittlungen in Einzelfällen durchführen, verbietet das Gesetz zahlreiche schädliche Praktiken und zwingt die Gatekeeper, Rechenschaft über die Regeleinhaltung abzulegen". Das spare Ressourcen "für Wettbewerber und Verbraucher, die nicht jahrelang auf Unterlassung klagen müssen, sondern ihre Rechte einfordern können".
Fazit Schwab:
"Die Big-Tech-Märkte werden sich nicht länger selbst überlassen. Der Kerngedanke der Sozialen Marktwirtschaft kommt damit im digitalen Zeitalter an."
Das klingt tatsächlich nach einem Vorhaben, gegen das sich vor dem Hintergrund dessen, was über die Geschäftspraktiken von Google & Co. bekannt ist, kaum etwas einwenden lässt. Heute macht dazu wieder eine Meldung die Runde, die zeigt, auf welche Weise zum Beispiel Facebook ein Wort wie "Wettbewerb" versteht. Das Senioren-Netzwerk hat offenbar bei einer republikanischen Agentur eine Schmutzkampagne gegen die chinesische Konkurrenz Tiktok in Auftrag gegeben. Das berichtet die Washington Post. Der Bundesverband der Zeitungsverleger und Digitalpublisher verbreitet dazu dankbar eine Meldung bei Twitter.
EU-Parlament stoppt Mogelpackung
Was auf Michael Hanfelds Medienseite nicht zu lesen ist und auch in den nächsten Tagen vermutlich nicht zu lesen sein wird: Die Zeitungsverlage wollten anscheinend eine Schwäche im Gesetzgebungsverfahren ausnutzen, um ihre Vorstellungen von einem Leistungsschutzrecht (zuletzt hier im Altpapier) im Digitalmärkte-Gesetz zu verankern. Doch damit scheiterten sie.
Auf welche Weise das passierte, erklärt Felix Reda in einem Beitrag für Übermedien (€), nachdem das Nachrichtenportal "Euractiv" darüber berichtet hatte. Reda saß von 2014 bis 2019 für die Piraten im Europaparlament und gehörte zum Verhandlungsteam der EU-Urheberrechtsreform. Falls Sie die Debatte über das Leistungsschutzrecht nicht mehr ganz vor Augen haben: Die Idee, so ein Gesetz zu erfinden, kam vor 13 Jahren von Springer. Verlage wollen Digitalkonzerne, vor allem Google, auf diese Weise dazu zwingen, kurze Teaser-Ausschnitte (Snippets) in den Suchergebnissen zu zeigen und dafür dann auch noch Geld zu zahlen. Fachbezeichnung: eine "Must-Carry-Must-Pay-Verpflichtung", so Reda, "oder zu deutsch: eine Lizenz zum Gelddrucken für die Verlage".
Das ist bislang in der Form nicht gelungen. Und nun legte die EU-Kommission am letzten Verhandlungstag laut Reda einen "Kompromiss" vor, der auch festlegen sollte, dass "Suchmaschinen und Soziale Netzwerke – unter den Gatekeepern also Google und Facebook – faire Vergütungsregeln für die Anzeige von geschützten digitalen Inhalten ihrer gewerblichen Nutzer aufstellen". Gescheitert sei das letztlich am Widerstand von Europa-Abgeordneten.
Aber wie konnte das überhaupt passieren? Der Grund waren offenbar die sogenannten Trilogverhandlungen.
Sie "sind eigentlich dazu da, einen Kompromiss zwischen den Positionen der beiden europäischen Gesetzgebungsorgane zu finden: zwischen den direkt gewählten Abgeordneten des Europaparlaments und den im Rat vertretenen nationalen Regierungen. Die EU-Kommission spielt dabei eine vermittelnde Rolle. Davon kann in diesem Fall aber keine Rede sein, denn eine Regelung zum Leistungsschutzrecht fand sich weder im Gesetzesvorschlag der EU-Kommission für den Digital Markets Act, noch in den Verhandlungsmandaten von Europaparlament oder Rat".
Das Verfahren diene eigentlich dazu, bei "besonders unkomplizierten, unkontroversen Gesetzen Zeit zu sparen", schreibt Reda. Schleichend habe es sich über die Jahre für alle EU-Gesetze etabliert.
Die Kommission soll sich also eigentlich die Vorschläge von Rat und Parlament ansehen und dann einen Mittelweg finden, aber bei der Gelegenheit kann man natürlich alles Mögliche in den Text schmuggeln, was auf beiden Seiten Zustimmung finden könnte.
Auf welche Weise das gelaufen sein könnte, deutet Reda im letzten Absatz an:
"Im schlechtesten Fall können Lobbyverbände mit einem kurzen Draht zu Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) die Schwäche der Triloge gezielt nutzen, um Partikularinteressen durchzusetzen."
Faktenchecken – die Botschaft dahinter
Im Ukraine-Krieg ist nun seit über einem Montag täglich live eine Situation zu beobachten, die Rechtspopulisten schon seit Jahren künstlich herstellen, um die Wahrheit zu verwischen. Donald Trumps Propaganda-Chef Steve Bannon beschrieb das Prinzip dieser Strategie als Dammbruch in einer Kloake. Man müsse alles mit Scheiße fluten ("flood the zone with shit"). Im Moment muss man allerdings gar nichts fluten, denn das passiert ganz von allein.
Es gibt Unmengen von Fotos und Videos, die das Kriegsgeschehen in der Ukraine dokumentieren oder scheinbar dokumentieren. Und das geht so weit, dass die Propaganda auch das Format kapert, das gegen diese Form der Desinformation zum Einsatz kommt, das Faktenchecken. Die Deutsche Welle berichtete Anfang März von einem russischen Faktencheck-Portal, das selbst Propaganda verbreitet. Am Ende soll alles in sich verlaufen und das Gefühl zurückbleiben: Man kann eh nichts mehr glauben. Dann bleibt als Kompass nur das Gefühl. Aber was bringt das Faktenchecken dann überhaupt?
Sebastian Wellendorf hat darüber mit Patrick Gensing gesprochen. Er leitet seit fünf Jahren den ARD-Faktenfinder, der auch gestern wieder über die Bilder, Videos und die Möglichkeit berichtete, ihre Echtheit zu verifizieren. Gensing sagt zum einen etwas zu einem Punkt, der zu Beginn der Faktenfinder-Ära zu einigem Spott führte. Denn das Überprüfen von Fakten gehört ja eigentlich zum Kerngeschäft von Journalistinnen und Journalisten. Andererseits gibt es die Tendenz, das Faktenchecken zu überhöhen. Allerdings: Menschen machen Fehler, also auch Menschen, die Fakten checken.
Gensing sagt einerseits:
"Das Faktenchecken wird immer so ein bisschen auf ein Podest gestellt, wo es nicht hingehört. Das ist schon immer journalistisches Handwerk gewesen."
Und er benennt das, was das Faktenchecken vor allem ausmacht. In einer Situation, in der die unüberschaubare Flut von Informationen ein Gefühl der Verunsicherung in die Köpfe schwemmt, das in der Frage mündet: "Kann man überhaupt noch irgendetwas glauben?", ist es wenig hilfreich, einzig die Richtigkeit einzelner Fakten zu überprüfen. Darin sieht Gensing aber auch nicht seine Aufgabe:
"Unser Anspruch ist eher, dass wir uns gezielt mit Desinformation beschäftigen. Dass wir versuchen, diese Themen zu beleuchten. Dass wir auch die Strategien dahinter beleuchten. Denn es nützt sehr wenig, nur zu sagen: Guckt mal, diese einzelne Meldung ist falsch! Sondern die einzelne Falschmeldung bezieht ja erst ihre Relevanz durch eine größere Botschaft, die dahintersteht, die vermittelt werden soll. Das zu erklären, finde ich wichtig, diese Zusammenhänge."
So gesehen sind Faktencheck-Portale nicht allein Korrekturinstanzen (wie die "Spiegel"-Dokumentation), die ihre Ergebnisse nur leider erst nach der Veröffentlichung liefern, sondern medienjournalistische Ressorts, die sich mit der Praxis der Desinformation und den Hintergründen beschäftigen. Und das ist nicht nur ein Randthema wie leider das der Fehlerkultur, sondern ein zentraler Aspekt der politischen Berichterstattung.
Schwindende Pressefreiheit in Ungarn
Das zeigt auch die Situation der Medien vor der Wahl in Ungarn (gestern im Altpapier). Stephan Ozsváth berichtet für "@mediasres" über die Berichterstattung der staatlichen ungarischen Medien und zeichnet nach, wie sie den Krieg zunächst herunterspielten ("Die Russen werden die Ukraine nicht angreifen, das weiß auch ein Dummkopf") und Orban jetzt als "Grenzschützer" oder "Friedensengel" zeigen. Die Erzählung in den regierungsnahen Medien: Die Ukraine hat den Krieg provoziert.
Wenn Demonstrationen stattfinden, berichtet die Regierung, die Opposition greife die Pressefreiheit an. Aber noch gibt es freie Medien. Das Investigativportal átlátszó.hu berichtete etwa darüber, wie Orban die Medien als Sprachrohr seiner Regierung missbraucht. Ehemalige Mitarbeitende hätten das bestätigt.
Stephan Ozsváth zitiert auch einen Dialog aus dem Programm des Privatsenders RTL Klub. Darin sagt ein Moderator:
"Das Wichtigste ist, überhaupt wählen zu gehen."
Eine Kollegin wendet ein:
"Du sagst jetzt aber nicht, wen du wählen wirst."
Der Moderator antwortet:
"Keine Sorge, ich bin ja Journalist – und kein Propagandist."
Dass es in Ungarn weiterhin unabhängige Medien gibt, ist allerdings nur für den Moment etwas beruhigend, denn autoritäre Regimes ziehen die Schlinge meist langsam zu. Das war zuletzt in Russland so. Ob es im Falle von Orbans Sieg vor der nächsten Wahl immer noch unabhängige Medien in Ungarn geben wird, ist keineswegs sicher – ob man die Wahl dann überhaupt noch Wahl nennen kann, auch nicht.
Altpapierkorb (Carolin Emcke, RT zahlt und sendet weiter, xhamster, Frag den Staat, Aprilscherz, Tucker Carlson)
+++ Weil die FAZ es abgelehnt hat, eine Behauptung über Carolin Emcke einfach nicht mehr zu verbreiten, ist die Publizistin vor Gericht gegangen und hat gewonnen. Es ging um eine zugespitzte und falsche Zusammenfassung einer Passage eines Vortrags, den sie beim Bundesparteitag der Grünen gehalten hatte (Altpapier), wie Anna Ernst auf der SZ-Medienseite (€) erklärt. Dirk Moses hatte in der FAZ geschrieben, sie habe "Klimawissenschaftler als neue Juden" bezeichnet. Hat sie aber nach Ansicht des Gerichts nicht.
+++ Der Putinsender RT DE hat inzwischen 25.000 Euro Strafe gezahlt, die fällig wurden, weil der Sender nicht an das Sendeverbot der Medienanstallt Berlin-Brandenburg hielt (nicht wegen des Kriegs, sondern wegen der fehlenden Lizenz), und RT hält sich auch weiterhin nicht an das Sendeverbot, berichtet die Agentur epd, hier verwurstet im Tagesspiegel.
+++ Das Porno-Portal "xhamster" darf eigentlich ebenfalls nicht mehr online sein, ist es aber trotzdem weiterhin. Es hat die Adresse leicht angepasst, und das wäre auch bei den nächsten Verboten noch einige Male möglich. Michael Hanfeld hat für seinen Text auf der FAZ-Medienseite (€) mit Tobias Schmid darüber gesprochen, dem Direktor der Landesmedienanstalt NRW. Und der sagt: "‚Diese penetrante Missachtung der Rechtsordnung kommt bei diesem Unternehmen nun nicht wirklich überraschend. Aber Medienaufsicht ist eben eher Mittelstrecke und wir sind ziemlich ausdauernd, vermutlich ausdauernder als xHamster, xHase oder xMeerschweinchen.‘ (Wir hatten an dieser Stelle [F.A.Z. vom 3. März] gemutmaßt, dass xhamster sich dergestalt umbenennen könnte)."
+++ Das Informationsfreiheitsportal "Frag den Staat" durfte vor vier Jahren ein Glyphosat-Gutachten der Bundesinstitut für Risikobewertung zu Krebsrisiken veröffentlichen, berichtet unter anderem das Verdi-Magazin "Menschen Machen Medien". Nach dem Oberlandesgericht in Köln kam jetzt auch der Bundesgerichtshof zu diesem Urteil. "Frag den Staat" hatte das Dokument über eine Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz erhalten und veröffentlicht. Das Bundesinstitut war der Meinung, das Portal habe damit das Urheberrecht verletzt.
+++ Früher hätten heute sicher einige Aprilscherze in den Zeitungen gestanden. Aber deren Zeit ist wohl vorbei. Harald Hordych schreibt auf der SZ-Medienseite (€): "Der Aprilscherz ist mal ein schönes Spiel gewesen: Man kann nur mitspielen, wenn man vergisst, dass heute der 1. April ist, man kann nur verarscht werden, wenn man vergisst, dass man heute verarscht werden darf. Der einzige Feiertag, den man vergessen muss, damit er funktioniert."
+++ Tucker Carlson verbreitet bei Fox News Verschwörungsmythen und seit Neuestem auch russische Regierungspropaganda. Marcus Schuler berichtet für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres".
+++ Und zum Schluss noch ein Hinweis: Unser Altpapier-Host, die MDR-Medienredaktion MEDIEN360G, verschickt ab sofort regelmäßig einen kostenlosen Newsletter zu Medienthemen. Abonnieren können Sie ihn hier.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
Neues Altpapier gibt es am Montag.
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