Das Altpapier am 30. März 2022 Zum Mäusemelken
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30. März 2022, 12:05 Uhr
Die Sendung mit der Maus stellt eine trans Frau vor, das ärgert den Ex-Bild-Chef. Eine andere, nämlich Disneys Micky Maus ist dagegen jetzt doch tolerant. Ein Altpapier von Jenni Zylka.
Lach- und Sachgeschichten
Ob jemand denkt, die "Sendung mit der Maus" sei eine Quizshow, in der eine junge Frau Fragetafeln hereinbringt? Oder eine Unterhaltungsshow mit einer Moderatorin im Bikini? Nää. Tout Deutschland weiß, dass es sich bei der Maus um ein freundliches Tierwesen handelt, das dem kleinen Elefanten auf der Spielplatzrutsche zur Seite steht, abends das Schlafzimmerfenster anmalt, damit es dunkel wird, und ansonsten mit den Augendeckeln klappert, als seien es Kastagnetten.
Die ideenreiche, dem kindlichen Aufnahmetempo angemessene WDR-Produktion präsentiert seit März 1971 Lach- und Sachgeschichten. Lachen soll man bei den Cartoons über Maus und Konsorten, die Sachgeschichten portraitieren Menschen, oder dokumentieren die Herstellung von Alltagsgegenständen. Mein komplettes Wissen darüber, was die Welt im Innersten zusammenhält, stammt von der Maus, und dafür bin ich ihr für alle Zeiten dankbar. In der von Armin Maiwald und weiteren Redakteur:innen und Moderator:innen gestalteten Wissens- und Unterhaltungssendung für Kinder ging es zudem von Anfang an um Neugier und Toleranz gegenüber anderen Menschen, um das friedliche Zusammenleben, um Hilfsbereitschaft und das Abbauen von Vorurteilen durch Expertise und Erlebnis.
So hatte die Maus zum Beispiel vor ein paar Jahren (gedreht wurde 2018) einen obdachlosen Menschen portraitiert, und ihn "auf Platte" begleitet. Ein Wiedertreffen fand – laut Maus auf Anfragen von kindlichen Zuschauenden - im letzten Jahr statt, die Sachgeschichte dazu wurde am 27.3. ausgestrahlt. Und bezeugte eine glückliche Fügung: Inzwischen war der Mensch nicht mehr auf Platte, sondern hatte eine kleine Wohnung in Hildesheim gefunden, einen Job – und endlich den Mut, seine wahre Identität auszuleben. Denn eine zufriedene trans Frau namens Katja öffnete dem Mausteam die Tür, und zeigte der Moderatorin Siham El-Maimouni stolz ihren neuen Personalausweis. "Ich hab mich nie getraut, selbst im allerengsten Familienkreis, darüber zu sprechen", erzählte Katja. Doch sie hat es geschafft, und die Moderatorin freute sich mit ihr, genau wie rund 1,8 Millionen Zuschauenden (Durchschnittsalter des Maus-Publikums aufgrund die vielen mitschauenden Eltern übrigens: 40 Jahre, hihi. Auch andere Menschen beziehen demnach ihr Grundwissen durch die Maus.)
Jungs die Mädchen
Julian Reichelt, bekanntlich Ex-Bild-Chef mit hohem medialen Wellenschlag und jeder Menge Altpapier-würdigen Vorgeschichten (hier, hier und hier ein paar Beispiele), freute sich allerdings gar nicht, und twitterte:
"In der Sendung mit der Maus wird der Zielgruppe der 4- bis 9-Jährigen heute erklärt, was eine Transperson ist. Demnächst: Warum es Mann und Frau gar nicht gibt. Ideologisch-sexualisierte Früherziehung mit Zwangsgebühren."
Das reichte schon aus, um Twitter tüchtig transphob durchzuschütteln, dennoch legte er noch einen drauf:
"Die Zwangsmaus und die Öffentlich-Rechtlichen wollen, dass wir uns nicht mehr trauen, Dinge zu sagen, von denen wir wissen, dass sie wahr sind. Sie wollen uns einschüchtern und erziehen, bis wir aus Furcht Fakten verleugnen: Jungs sind Jungs, Mädchen sind Mädchen."
In Sachen Transphobie, Ignoranz und Beleidigungsniveau beißt die Maus, haha, bei den Tweets keinen Faden ab, dennoch sollte man die Inhalte nochmal gegenüberstellen: Der Erste könnte mit etwas naivem goodwill als verbittert-sarkastisch gemeinter Kommentar eines reaktionären Menschen durchgehen, der einfach nur ein bisschen darüber kläffen möchte, dass seiner Ansicht nach Pädagogik auch nicht mehr das ist, was sie mal war.
Das Wort "Zwangsgebühren" weist allerdings bereits zart darauf hin, wo der Hammer hängt, und die Formulierung "Warum es Mann und Frau gar nicht gibt" zitiert, vielleicht unbewusst, zumindest im Geiste den Thilo Sarrazin-Buchtitel "Deutschland schafft sich ab", der bekanntlich mit der Angst vor einer Veränderung der Verhältnisse spielt – eine Angst, die auch hinter diesem Tweet zu stecken scheint.
Der zweite Tweet spielt diese Angst weiter aus, indem er sie umgedreht thematisiert: Hier stecken die Öffentlich-Rechtlichen und die "Zwangsmaus" unter einer verschwörerischen Decke, und wollen "dass wir uns nicht mehr trauen, Dinge zu sagen, von denen wir wissen, dass sie wahr sind", nämlich das von Reichelt apodiktisch benutzte "Jungs sind Jungs, Mädchen sind Mädchen", das in Wahrheit doch bereits vor 52 Jahren von den großartigen "The Kinks" falsifiziert wurde, Mensch, in folgenden, eindringlich vorgetragenen Zeilen aus dem transfreundlichen Song Lola, in dem der Ich-Erzähler (wohlgemerkt im konservativen Jahr 1970, als der Umgang mit queeren Themen noch ein ganz anderer war) eine nächtliche Begegnung mit einer Transperson rekapituliert, und diese zwar verwirrt, aber durchaus wohlwollend und tolerant Revue passieren lässt:
"Girls will be boys and boys will be girls
It's a mixed up, muddled up, shook up world.”
Und was Ray Davies sagt, das stimmt natürlich! Unsere Welt ist bunt! Dennoch leugnet Reichelt, dass es trans Personen überhaupt gibt. Der Tagesspiegel kommentierte das Ganze so:
"Man könnte das als bloße Provokation abtun. Aber es ist ein Affront den Menschen gegenüber, die seit vielen Jahren für ihr Recht auf Anerkennung und Selbstbestimmung kämpfen."
Die FR kommentierte ähnlich:
"Der ehemalige Bild-Chef leugnete in seinem Beitrag indirekt auch die Existenz von Menschen, die sich einem anderen Geschlecht zugehörig fühlen, als das, welches in ihrer Geburtsurkunde steht."
Kinderlose Empörung
Der Stern greift die Geschichte ebenfalls auf, schreibt zwar zu Katja: "Sie war mal ein Mann", was ja nicht stimmt, aber bemüht sich, sachlich zu bleiben:
"Den jungen Zuschauern wurde erklärt, was eine Transperson ist. Nicht mehr, nicht weniger. Doch die Ausstrahlung weckte offenbar starke Emotionen, vor allem bei Erwachsenen. In Sozialen Medien starteten einzelne Menschen eine Empörungswelle. Ein kinderloser Mann sprach in Anspielung auf das gebührenfinanzierte Programm von der "Zwangsmaus", mit der Kinder indoktriniert würden."
(Dass Reichelt nur als namen- wie "kinderloser Mann" durch den Artikel geistert, ist allerdings ziemlich odd.) Der Spiegel (hier, €) präsentierte zu der Sache ein Interview mit der Redakteurin Brigitta Mühlenbeck, Programmgruppenleiterin Kinder- und Familie beim WDR. Die sagt auf die Frage, ob Kinder für das Thema "Transgeschlechtlichkeit" noch zu klein wären, folgende wahre Sätze:
"Erstens: Transgeschlechtlichkeit ist gesellschaftlich relevant. Es gibt Kinder und Jugendliche, die ein Problem mit ihrem Geschlecht haben. In Schulklassen ist Transgeschlechtlichkeit Thema, ob offen darüber gesprochen wird oder nicht. Es ist höchste Zeit, dafür zu sorgen, dass es behandelt und erklärt wird als etwas, das zu diesem Leben dazugehört. Wir haben auch andere wichtige Themen aufgegriffen, wie psychische Erkrankungen, Corona, den Krieg in der Ukraine. Zweitens: Die Maus versucht immer, eine Haltung zu entwickeln, in diesem Fall die Empathie für einen Menschen, der den Weg zu sich findet und sich selbst lieben lernt. Wie das funktioniert, geht jeden etwas an, auch Kinder. Drittens: Wirklich kleine Kinder, also unter Fünfjährige, sollten sowieso nicht allein vor dem Fernseher sitzen und sich die Sendung ansehen. Auch die Frage, wie ein komplexes Stellwerk funktioniert, verstehen sie nicht nur durch uns. Wir wollen immer auch zu fortführenden Gesprächen in Familien anregen."
Es gab bei Twitter jedoch auch Vorwürfe unter anderem von trans Menschen, die dem WDR-Beitrag die Aussprache von Katjas ehemaligen Namen ("Deadname") übelnahmen. Auf eine diesbezügliche Frage im Spiegel sagte Mühlenbeck:
"Die Sendung mit der Maus macht sich nicht zum verlängerten Arm von Interessen oder Gruppen. In keine Richtung. Das heißt, dass wir so über ein Thema sprechen, wie in unserer gesellschaftlichen Realität darüber gesprochen wird. Uns geht es darum, von den 1,8 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern möglichst viele mitzunehmen – vor allem die Kleinen. Das bekommen wir nicht hin, wenn wir mit einem bestimmten Wording erst einmal Fremdheitsgefühle auslösen. Menschen, die weit nach vorn denken, finden das an der ein oder anderen Stelle möglicherweise nicht zutreffend. Wir können nicht jeden zufriedenstellen, aber wir bemühen uns ()"
Man kann auch ganz gut nachvollziehen, dass es eine relativ komplexe Aufgabe sein könnte, die Sache mit den Deadnames einem Kind zu erklären, das sich ohnehin eventuell noch an den ersten Beitrag vor einigen Jahren erinnert.
Aber im Ganzen muss man konstatieren: Eine Transperson in einer Kindersendung, die nicht allein wegen ihres trans sein ausgewählt wurde, sondern einfach nur von ihrem bewegten Leben erzählt, und dabei nonchalant und nebenbei auch noch potenzielle Vorurteile gegenüber Obdachlosen wegwischt, ist eine feine Sache. Und sowohl die Sendung selbst, als auch die Reaktionen bei Twitter beweisen nur wieder, wie lebenswichtig die Maus ist.
Please Say Gay
Nebenbei: Eine Geschichte in ähnlicher Tonart hat sich passenderweise jüngst in den USA zugetragen, dort hießen die Ingredienzien Disney, ein neues Gesetz in Florida, das die Thematisierung sexueller Orientierungen in Grundschulen verbietet, und wütende Gegnerinnen und Gegner dieses Verbots ( genannt "Don’t Say Gay-bill"). Hier ist ein Ausschnitt aus einer Zusammenfassung des Gesetzes im Spiegel:
"Es verbietet, über sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität »in einer Weise zu unterrichten, die nicht alters- oder entwicklungsgemäß für Schüler« ist, so die juristische Formulierung. Das Gesetz wurde vor gut drei Wochen vom Parlament des konservativ regierten Bundesstaats verabschiedet. Es betrifft Kinder vom Kindergarten bis zur dritten Klasse. Aus Sicht der Kritiker ist es so formuliert, dass das Verbot bestimmter Unterrichtsinhalte auch auf ältere Kinder angewendet werden kann. Die Republikaner entgegnen, das Gesetz verbiete lediglich, die Themen sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität in den offiziellen Lehrplan aufzunehmen. Lehrkräfte könnten weiterhin spontan darüber sprechen."
Und das ist nicht das einzige problematische Gesetz in Florida, wie der Spiegel schreibt, und wir kommen hier direkt zum obigen Thema, siehe Reichelt:
"Im Februar hatte das Unterhaus des Parlaments von Florida einen Gesetzentwurf verabschiedet, der den Unterricht über Rassismus als Teil der offiziellen Lehrpläne verbietet. Im Juni 2021 setzte DeSantis zudem ein Gesetz in Kraft, das Transmädchen vom Mädchen-Schulsport ausschließt."
Weil Disney, einer der größten Arbeitgeber in dem Bundesstaat, sich nach Ansicht seiner Mitarbeitenden nicht deutlich und laut genug gegen dieses Don’t Say Gay-Gesetz auflehnte, hatte es großen Ärger und monatelange Proteste gegeben. Aber jetzt hat der sich selbst traditionell als Familienschützer und Moralbewahrer verstehende Konzern anscheinend das mit dem Regenbogen und der Toleranz doch noch verstanden, wie die Variety schreibt:
"As Florida Gov. Ron DeSantis signed the "Don’t Say Gay” bill into law on Monday, The Walt Disney Company issued a statement vowing to help repeal the controversial legislation. ‘Florida’s HB 1557, also known as the ‘Don’t Say Gay’ bill, should never have passed and should never have been signed into law,’ the statement reads. ‘Our goal as a company is for this law to be repealed by the legislature or struck down in the courts, and we remain committed to supporting the national and state organizations working to achieve that. We are dedicated to standing up for the rights and safety of LGBTQ+ members of the Disney family, as well as the LGBTQ+ community in Florida and across the country.’ Disney’s public opposition to the law follows an employee walkout in protest of CEO Bob Chapek’s mishandling of the "Don’t Say Gay” bill.”
Na wenn das nicht Hoffnung macht! Da hat sich die eine, Disneys micky Maus wohl doch etwas von der anderen, der WDR-Maus abgeschaut! (Den Witz möge man mir bitte verzeihen, er lag einfach zu sehr auf der Pfote.)
Altpapierkorb (... über eine Putin-kritsche Doku, Wahlberichterstattung in Ungarn und das bereits vermisste NDR-Corona-Update)
+++ Die FAZ berichtet, dass ein früherer ZDF-Korrespondent seinem Ex Sender das Nicht-Zeigen einer Putin-kritischen Dokumentation vorwirft, das ZDF sagt, man habe den Film doch gezeigt.
+++ Die Süddeutsche berichtet über die Schwierigkeiten der ungarischen Presse, angesichts der Wahlen über die Opposition zu schreiben.
+++ Und alle, wie hier die Süddeutsche, vermissen jetzt schon Christian Drosten im NDR-Corona-Podcast.
Neues Altpapier kommt am Donnerstag.
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