Das Altpapier am 24. März 2022 Langsamkeit wäre die schnellste Lösung
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24. März 2022, 10:21 Uhr
Die russische Desinformation der Marke "Euskirchen" dürfte zunehmen. Was kann man tun, damit sie sich nicht verbreitet? Außerdem: Sexkolumnen sind "meistgelesen", bei Twitter geht es um "cultural appropriation", es gibt weniger Spezialsendungen – werden mediale Routinen wieder stärker erkennbar? Ein Altpapier von Klaus Raab.
Die Desinformationskampagnen dürften zunehmen
Die Denkfabrik European Policy Center, geleitet vom ehemaligen belgischen Regierungschef Herman Van Rompuy, hat am Mittwoch die Losung ausgegeben: "Start preparing today for the lies of tomorrow" – "Bereiten sich schon heute auf die Lügen von morgen vor!" Es war eine Warnung davor, dass sich Falschinformationen über ukrainische Flüchtlinge wie das Euskirchen-Video bald häufen könnten, so fasst es Andrian Kreye in der "Süddeutschen Zeitung" zusammen. Euskirchen: Dort soll, so wurde verbreitet, "ein Mob ukrainischer Flüchtlinge" einen 16-jährigen Russlanddeutschen namens Daniel zu Tode geprügelt (Altpapier). Das waren klassische Fake News, ausgedachte Stimmungsmache, die nicht verfing, zumindest nicht außerhalb einer aufpeitschbaren faktenresistenten Bubble. Aber was ist beim nächsten und übernächsten Mal?
"Der Krieg und der daraus resultierende Anstieg der Inflation und der Energiepreise werden die einfachen Europäer hart treffen. Ärmere Haushalte werden Mühe haben, ihre Rechnungen zu bezahlen, und höhere Lebensmittelpreise werden den Lebensstandard senken. Es werden Millionen von Euro benötigt, um ukrainischen Flüchtlingen den Zugang zu Arbeit, Bildung und Wohnraum in der EU zu ermöglichen. In der Zwischenzeit werden Konflikte und wachsende Ungleichheiten weltweit zu weiteren Zwangsvertreibungen in der Ukraine und anderswo führen. In diesem Zusammenhang werden Lügen über Flüchtlinge und andere Migrantengruppen genutzt, um die öffentliche Meinung zu polarisieren und spaltende Agenden zu propagieren",
heißt es auf den Seiten des EPC-Thinkthanks. "Desinformationsakteure in Europa [werden] jede Gelegenheit nutzen, um Unzufriedenheit zu schüren. Die Frage ist nicht, ob, sondern wann."
Es wäre in der Tat eine gute Idee, sich darauf vorzubereiten, auf politischer Ebene, aber auch auf gesellschaftlicher und natürlich journalistischer. "Aufklärung, Bildungsarbeit, digitale Kompetenz auf allen Ebenen der Zivilgesellschaft", darum gehe es, schreibt Andrian Kreye, der auf der "SZ"-Medienseite eine Geschichte der russischen Falschnachrichten schreibt, die 1983 beginnt ("Da platzierte der KGB im Rahmen einer 'Operation Infektion' in der indischen Zeitung The Patriot einen Text, der angeblich von einem amerikanischen Wissenschaftler verfasst wurde. Der behauptete in dem Text, HIV sei ein afrikanisches Virus, das von amerikanischen Militärs untersucht worden sei, um es zur biologischen Waffe zu züchten") und mit dem Euskirchen-Fall und einem Deepfake-Video von vergangener Woche endet, in dem Wolodymyr Selenskyj die Kapitulation der Ukraine verkündete.
Ein Deepfake, über den auch die "taz" heute schreibt. Etwa das:
"Das Selenskyj-Deepfake ist keine technische Glanzleistung. Wer genauer hinschaut, kann erkennen, dass der Kopf in dem Video nicht zum Körper passt. Trotzdem zeigt es, wie unsere Zukunft wohl aussehen wird: Kriege und Konflikte werden schon lange nicht mehr nur auf politischer Ebene, mit Sanktionen oder Waffen ausgefochten, sondern eben auch im Internet."
Die Frage ist nur, ob diese Zukunft nicht längst begonnen hat. Wie schafft man kurzfristig Gegenmaßnahmen? Mein Vorschlag wäre erstmal: Langsamkeit. Das wäre wohl die am schnellsten umsetzbare Lösung: nicht direkt weiterposten, einmal drüber schlafen, selbst recherchieren.
Beim European Policy Center ist die Rede von der Verhinderung von Desinformation, bevor sie in Umlauf gerät:
"Indem man mögliche Desinformationen über Migranten und Flüchtlinge antizipiert, kann man sich proaktiv gegen zukünftige Lügen wappnen. Die ukrainische Regierung tut genau dies, indem sie beispielsweise die Öffentlichkeit präventiv vor bestimmten Desinformationskampagnen russischer Akteure warnt. Journalisten und Faktenprüfer können auch dadurch gestärkt werden, dass sie Zugang zu Werkzeugen und Informationen erhalten, mit denen sie Falschmeldungen entgegentreten können."
Falschmeldungen mit Werkzeugen entgegentreten, das klingt natürlich einfacher, als es im Einzelfall sein kann. Dass in diesen Tagen unter anderem bei zapp.de vom NDR über falsche Faktenchecks berichtet wurde, erleichtert die Aufgabe nicht. Klar ist, dass sie wichtig ist.
Situationen der Gleichzeitigkeit
Es gibt noch andere Themen als den Krieg, leichtere Themen, jeden Tag. Auch heute. Serienrezensionen, zum Beispiel. Oder Meldungen wie die, dass der WDR-Fußballjournalist Steffen Simon die Seiten wechsele und zum Deutschen Fußball-Bund gehe, nach dem Motto: Was Politikjournalistinnen und -journalisten können (Altpapier), können Sportjournalisten schon lange. In der "Süddeutschen Zeitung" gibt es einen kleinen Artikel über einen Legostein-Staubsauger, der die Steine beim Aufsaugen nach Größe sortiert. Erfunden wurde er, so ist zu lesen, von einem Mann, der sich zuvor schon einen Pommes-in-Ketchup-Dipper, einen Smartphonekamera-Scheibenwischer, einen Frisuren-Rückspiegel und einen Zweiter-Socken-Finder ausgedacht habe.
Es gab seit gestern zudem so einige Beiträgchen darüber, dass ein Ortsverein von Fridays for Future eine Künstlerin von einer Demonstration ausgeladen habe, weil sie Dreadlocks trage – im "Vermischten" der "SZ", bei spiegel.de oder in der "Welt" etwa. "Cultural appropriation" ist das Stichwort, was, wenn es um Dreadlocks geht, ein ziemlich angestrengter Krampf ist, aber eben auch eine gute Gelegenheit, mal wieder über das Diskursfeld der relativen Petitessen zu cruisen. Ein klassisches Twitterthema, weshalb es die Angelegenheit am Mittwochabend dort auf Platz 1, 2 und 4 der Trends schaffte (mit den Hashtags #Dreadlocks, #FridaysForFuture und #Aneignung), unterbrochen nur vom #Bachelor. Der #Rubel wurde auf Platz 5 verdrängt.
Der Krieg ist für die Redaktionen natürlich nach wie vor das zentrale Thema: Berichte über die Rubel-Politik Wladimir Putins waren am Abend Online-Aufmacher, bei spiegel.de, zeit.de oder rnd.de zum Beispiel. Auf tagesschau.de waren in der Nacht zum Mittwoch die ersten zwölf Plätze mit Nachrichten und Analysen rund um den Krieg in der Ukraine besetzt; ein vergleichbares Bild ergab sich bei anderen Onlineportalen. Die bei Twitter gezählten Übersprungshandlungen sind für redaktionelle Priorisierungen keine Währung. Jedenfalls nicht in verlässlich ernstzunehmenden Medienhäusern. Jedenfalls nicht in dieser Zeit.
Und doch, wenn man den Blick ganz gezielt auf die anderen statt auf die mit dem Krieg assoziierten Themen lenkt, kann man zum Schluss kommen, dass die üblichen Routinen der medialen Öffentlichkeit nach vier Wochen Krieg langsam wieder stärker erkennbar werden: Die Sumpfbrumpfeleien in den sogenannten Social Media drängen wieder tiefer in die Wahrnehmung. Die kleinen Krimskrams-Beobachtungen aus dem Alltag. Der "Bachelor" bei RTL. Sexkolumnen landen unter "meistgelesen". Die Kleinigkeiten holen sich Raum zurück, und wo das Publikum sich hinbewegt, da gefällt es Redaktionen in der Regel früher oder später auch ganz gut.
Das bedeutet nicht zwangsläufig Schlechtes; Monothematik ist kein Qualitätskriterium, nicht einmal derzeit. Und Thesentexte über die Aneignung von Dreadlocks werden den Krieg gewiss nicht aus der Wahrnehmung drängen. Langsam bröckelndes Interesse an der tiefen Versenkung in das Kriegsgeschehen und eine um sich greifende Komplexitätsverstörung könnten aber vielleicht dazu beitragen.
"Selenskjy schaltet die Sender der Ukraine gleich, in Russland steht die Wahrheit über den Krieg unter Strafandrohung, Kriegs- und Krisenberichterstatter haben Mariupol verlassen. Das macht die Einschätzung der Kriegslage immer schwieriger. Die große Öffentlichkeit will aber Eindeutigkeit. Die ist schwer zu bekommen",
schreibt Joachim Huber im "Tagesspiegel" – wo auch er sich Gedanken darüber macht, ob das unverändert weitergehende Kriegsgeschehen und die mediale Aufbereitung in Deutschland etwas auseinanderzulappen beginnen. Im Programmschema der ARD hat er am Dienstag jedenfalls nach der "Tagesschau" gleich den "Schmunzelkrimi 'Mord mit Aussicht'" entdeckt – und keine Sondersendung, wie sie zuletzt regelmäßig angesetzt war (Altpapier). Was freilich nicht bedeuten muss, dass es nächste Woche keine "Brennpunkte" gibt. Oder dass die Zahl der "Brennpunkte" die beste Währung wäre, um die Qualität der Berichterstattung zu messen.
Altpapierkorb (Drosten-Interview, Wortfilter bei TikTok, Ukrainer kontern Fake News, Instagram-Erklärvideos)
+++ Es ist ein neues Interview mit dem Virologen Christian Drosten erschienen. Es enthält eigentlich nichts, worüber man sich aufregen müsste. Es ist zwar nicht beruhigend, was er sagt: Corona ist nicht vorbei, nur weil er das Podcastprojekt mit dem NDR fürs Erste beendet. Es ist aber auch nicht beunruhigend. Nach zwei Jahren Pandemie haben Aussagen wie die, dass sich künftige Varianten des Virus nicht vorausberechnen lassen, oder dass theoretisch jederzeit eine neue Pandemie auftreten könnte, vielleicht nicht mehr den größten Nachrichtenwert. Es ist ein interessantes Interview, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Aber eine Standardsituation in bestimmten Segmenten der Medienwelt ist die Aufregung. Drosten wird also schon gewusst haben, warum er das Interview, das er der "Zeit" gegeben hat, mit den Worten "Nicht aufregen" twitterte. Worüber auch immer.
+++ Wie Ukrainer die russische Staatspropaganda und Fake News kontern, darüber schreibt die "FAZ".
+++ Einer WDR/NDR/"Tagesschau"-Recherche zufolge, die netzpolitik.org aufgreift, hat die Plattform TikTok "die Meinungsfreiheit der Nutzerinnen und Nutzer durch einen Wortfilter beschränkt. Dieser verhindert, dass Kommentare unter Videos angezeigt werden, wenn sie bestimmte Schlagworte enthalten."
+++ Die Instagram-Erklärvideos des Wirtschafts- und Klimaministers Habeck analysiert Andrea Diener in der "FAZ": "Diese Direktheit schafft eine Transparenz jenseits von Presseterminen und ihrer vorgefertigten Sprache, jenseits auch der auf Konfrontation gebürsteten Talkshows, die einem das beruhigende Gefühl gibt, ernst genommen zu werden."
Neues Altpapier erscheint am Freitag.
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