Teasergrafik Altpapier vom 23. März 2022: Porträt der Altpapier-Autorin Annika Schneider
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Das Altpapier am 23. März 2022 Bilder, die sein müssen

23. März 2022, 09:30 Uhr

Die letzten internationalen Reporter haben Mariupol verlassen. Die Berichte der zwei AP-Kollegen über die Gräueltaten in der Stadt sind unverzichtbar – und doch kaum zu ertragen. Ein Altpapier von Annika Schneider.

Die letzten Reporter

Mit weißen OP-Kitteln getarnt haben sich die zwei Journalisten in einem Krankenhaus versteckt, während russische Soldaten nach ihnen suchen. Schließlich kommen ukrainische Soldaten, finden die beiden Reporter und bringen sie in einen Keller.

"Erst dort erfahren wir von einem Polizisten, den ich kenne, weshalb die Ukrainer das Leben ihrer Soldaten riskieren, um uns aus dem Krankenhaus zu holen. 'Wenn sie euch schnappen, werden sie euch vor eine Kamera setzen und dazu bringen, zu sagen, dass alles, was ihr gefilmt habt, eine Lüge ist', sagt er. 'Dann wären alle eure Anstrengungen und alles, was ihr in Mariupol getan habt, umsonst.' Der Polizist hat uns einst angefleht, der Welt zu zeigen, wie seine Stadt zugrunde gerichtet wird. Jetzt rät er uns, zu gehen."

So schildert es der Journalist Mstyslav Chernov in einer AP-Reportage, die unter anderem in der taz und im "Tagesspiegel" zu finden ist. Zwanzig Tage lang hat Chernov mit seinem Kollegen Evgeniy Maloletka aus Mariupol berichtet. Nun haben die beiden die Stadt verlassen – als letzte internationale Berichterstatter. 

"Wenn keine Informationen aus der Stadt herauskommen, keine Bilder von zerstörten Häusern und sterbenden Kindern, dann können die russischen Invasoren tun, was sie wollen. (…) Nie zuvor hatte ich das Gefühl, dass es so wichtig ist, das Schweigen zu brechen",

sagt Chernov in dem Text, den seine Kollegin Lori Hinnant zu Papier gebracht hat (hier im multimedialen Original). Mit unfassbarem Mut haben die AP-Reporter tagelang ihre Leben riskiert für die Berichterstattung.

Sie sind nicht die einzigen. Nicht einmal Reporter ohne Grenzen kann sagen, wie viele ausländische Journalistinnen und Journalisten derzeit noch aus der Ukraine berichten, wie eine "Tagesspiegel"-Anfrage an die Osteuropa-Referentin der Organisation zeigt (die derzeit Verstärkung sucht).

Aber es gibt natürlich auch ukrainische Journalistinnen und Journalisten, die weiterhin berichten. Der Produzentenverband hat einige Kanäle von ukrainischen Filmschaffenden verlinkt, über die Lara Kirschbaum in der Printausgabe der "FAZ" (S. 13) schreibt:

"Die Filme zeigen vor allem das Leid der Zivilbevölkerung. Sie zeigen, wie Menschen auf der Flucht beschossen und getötet werden, etwa in dem nahe der Hauptstadt Kiew gelegenen Ort Irpin. Privatautos, auf denen "Kinder" und "Evakuierung" geschrieben steht, sind von Kugeln durchsiebt. Gegen wen sich der Krieg richtet, den die russische Armee im Auftrag von Wladimir Putin führt, sehen wir hier: gegen Unbewaffnete, gegen Kinder und Alte, Frauen und Männer. Wir sehen, dass das Ziel dieses Krieges Vernichtung ist, der kein Ukrainer entkommen soll."

Schon diese Beschreibungen der Videos sind kaum zu ertragen, und das gilt auch für die Schilderungen von dem AP-Reporter Chernov, der unter anderem von der Bombardierung einer Entbindungsklinik berichtet.

Nachrichten-Nebenwirkungen

Ja, diese Bilder sind wichtig – sie informieren, sie dokumentieren und sind Anstoß für jegliche Hilfe und Unterstützung. Aber sie machen auch etwas mit uns. Eigentlich müssten die Nachrichtenportale voller Trigger-Warnungen sein. "Ich schalte die Nachrichten nicht mehr ein", erzählt mir eine alte Dame aus der Nachbarschaft. Acht Jahre war sie, als der zweite Weltkrieg begann. Wenn sie nun Bilder von zerbombten Häusern und Menschen in Luftschutzbunkern sehe, kämen alte Erinnerungen wieder hoch, sie bekäme schlimme Albträume. "Das steckt ja alles noch hier drin", sagt sie und zeigt in Richtung Herz.

Ich habe keinen Krieg erlebt, bei mir werden keine Traumata reaktiviert – und doch finde auch ich es schwierig, mit den Bildern und dem Wissen um das Leid Tausender Menschen klarzukommen. Hinzu kommt bei vielen die Angst vor der Zukunft. Katrin Eigendorf, die als ZDF-Korrespondentin gerade aus Odessa berichtet, sagte im Interview, wiederum mit dem "Tagesspiegel" (€):

"Viele Deutsche machen sich sehr zu Recht große Sorgen, dass der Krieg weiter eskalieren kann. Das macht doch das Besondere dieses Krieges aus, dass er so nahe an uns herangeht. (…) In diesem Krieg in der Ukraine geht es auch um unsere Werte, da ist auch unsere politische und gesellschaftliche Ordnung bedroht."

In den vergangenen Wochen war deswegen viel von "gesundem Nachrichtenkonsum" die Rede – eine Kunst, die für Journalistinnen und Journalisten qua Beruf eine besondere Herausforderung ist. Es scheint fast zynisch, sich von blutigen Fotos abschirmen zu wollen, während andere genau diese Bilder mit eigenen Augen sehen oder das Gezeigte sogar durchleben müssen. Andererseits können die meisten von uns wohl nur dann ordentlich ihre Arbeit tun, wenn sie auf sich aufpassen.

Kontrollierter Konsum

Ein paar hilfreiche Tipps, die über das übliche "Legen Sie das Handy auch mal weg" hinausgehen, fanden sich vergangene Woche in einem Beitrag im Social Media Watchblog. Die ehemalige Nachrichtenredakteurin Isabell Prophet analysiert darin den Unterschied zwischen den Bedürfnissen von Nachrichtenmedien und den Bedürfnissen derer, die sie konsumieren:

"Nachrichten-Redaktionen brauchen ständig neue Geschichten. Sie dürfen kein Detail auslassen, sonst setzen sie sich der Kritik aus, Dinge nicht zu erzählen. Und sie wollen die Ersten sein und wichtige Dinge auf die Telefone der Menschen pushen. Diese Push-Nachrichten signalisieren Relevanz."

Die allermeisten Menschen bräuchten aktuelle Nachrichten jedoch gar nicht in dieser Schnelligkeit und Detailtiefe, schreibt Prophet:

"Nachrichten sind ein Produkt und wie man das Angebot konsumiert, ist nicht Sache der Herstellenden. Das ist nicht böse gemeint, das ist einfach normal. Nachrichten und Schokoladenriegel unterschieden sich darin nur unwesentlich. Sie sind Konsumobjekte."

Im Beitrag findet sich deshalb eine kleine, aber hilfreiche Checkliste zum klügeren Nachrichtenkonsum. Nicht alle Tipps sind für Journalistinnen und Journalisten, die über die aktuelle Lage berichten, umsetzbar, einige aber schon.

Auch der Journalist Christian Jakubetz, früher unter anderem bei N24 und dem ZDF tätig, hat sich letzte Woche zum Thema "Doomscrolling", also dem dauerhaften Scrollen durch düstere Nachrichten, Gedanken gemacht. Er vertritt im Debattenmagazin "The European" die These, dass Ticker, Eilmeldungen, Push-Nachrichten und Retweets verzichtbar seien und nichts brächten

"außer der Illusion, besser 'informiert' zu sein. Wer das allerdings ernsthaft glaubt, der glaubt auch, dass ein Big Mac gesunde Ernährung ist."

Jakubetz empfiehlt stattdessen tagesaktuelle Newsletter, gute Reportagen und ausführliche Dokumentationen. Vielleicht ist genau das der richtige Umgang mit dem Thema: Sich einerseits bewusst einer wichtigen Reportage wie der aus Mariupol mit all ihren grausamen Details auszusetzen, andererseits aber nicht nebenbei über Fotos von zerbombten Städten zu scrollen.

Die richtige Lösung muss wohl jede und jeder für sich selbst finden. Ich selbst bin das Problem angegangen, indem ich den Krieg konsequent in allen Privatgesprächen ausklammere (die ja meistens ohnehin in gegenseitigen Beteuerungen enden, wie schlimm alles sei). Ausnahmen mache ich nur, wenn ich Gesprächsbedarf zu einem konkreten Aspekt habe und mich darüber mit einer bestimmten Person austauschen möchte. Und ja, ich bin mir natürlich bewusst, was für ein Luxus es ist, dass ich das Kriegsgeschehen auf diese Weise immer wieder für ein paar Stunden ausblenden kann – während sich das Leben vieler anderer Menschen in eine 24-Stunden-Hölle verwandelt hat.


Altpapierkorb (Attacke auf nd, Razzien gegen Hass im Netz, russisches Springer-Fernsehen)

+++ Aggression gegen die Tageszeitung nd: "Mehrere Personen versuchten gerade das Gebäude gewaltsam zu betreten, warfen mit Bierflaschen und griffen eine Person tätlich an", twitterte die Redaktion gestern. Die Polizei vermute einen rechtsradikalen Hintergrund, der Staatsschutz ermittelt (mehr bei t-online).

+++ Mehr als hundert Beschuldigte in 13 Bundesländern hat die Polizei gestern bei Razzien wegen Hass im Netz ins Visier genommen. Es gehe vor allem um Beleidigungen und Hasspostings mit irreführenden Falschmeldungen, schreibt der "Spiegel".

+++ Die Springer Sender Bild TV und Welt TV gibt es jetzt auch mit russischen Untertiteln, wie turi2 meldet.

Neues Altpapier gibt’s wieder am Donnerstag.

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