Das Altpapier am 22. März 2022 Die Rolle westlicher Medien
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22. März 2022, 09:01 Uhr
In Deutschland konkurrieren ARD, ZDF, RTL, ProSieben und Sat.1 mit Sondersendungen weiter um das Prime-Time-Publikum. Während in der Ukraine Fernsehsender zusammengeschlossen werden und im Krieg patriotisch berichten sollen. Und: das "logo!"-Konzept – Medienkompetenz statt Bewahrpädagogik. Ein Altpapier von Klaus Raab.
Weitere "Spezial"-Sendungen
Auch an Tag 26 des Krieges, also am Montag, ging es weiter mit "Spezial"- und anderen Sonderprogrammierungen im Fernsehen. Das ZDF hörte nach den 19-Uhr-"heute"-Nachrichten nicht auf, über den Krieg zu berichten. Die ARD sendete erst einen "Brennpunkt" und fuhr dann fort mit einem nach vorne verlängerten Talk. Sat.1 und ProSieben zeigten ein "Spezial", sodass sich unter anderem "Harry Potter" nach hinten verschob, und bei RTL wurde das Programm auch um eine Viertelstunde verlegt.
Man muss immer wieder neu und wohl jede und jeder für sich einschätzen, wie informativ diese Informationssendung ist und wie verständlich jene. Peer Schaders DWDL-Kolumne vom Wochenende, die Christian Bartels hier gestern empfohlen hat, hilft vielleicht dabei; genau wie Dietrich Leder, der – am Freitag hier zitiert – für die Katholische Nachrichten-Agentur "über fehlende Bilder und omnipräsente Experten" im deutschen Fernsehen schrieb (und auch über Gutes).
Aber im Ansatz, würde ich sagen, sind all die Sonderprogrammierungen angesichts der Weltlage richtig. Auch und gerade in ihrer Vielzahl. Denn man kann gewiss vieles falsch machen, wenn man über einen Krieg berichtet. Man kann andere drängende Themen zu sehr aus den Augen verlieren. Aber nicht prominent und ausführlich genug zu berichten, wäre ganz gewiss auch falsch.
"Medienkompetenz" statt "Bewahrpädagogik"
Im Kinderfernsehen ist die Dosierung der Information über einen Krieg wichtiger. Wo Erwachsene sich im Zweifel souverän ausklinken können, kann Kindern am Beginn ihrer Mediennutzungskarriere noch das Gespür dafür fehlen, was sie in einer Sendung erwartet. Man kann Zehnjährigen schwerlich sagen: Wenn es dir zu viel wird, schalte doch einfach aus!
Wie schwierig es sein kann, kindgerecht über den Krieg zu berichten, habe ich neulich hier am Beispiel einer "logo!"-Kindernachrichtensendung angerissen, in der es um Atomwaffen ging. Aber das ist offensichtlich nicht der Grund, warum sich jemand über "logo!" beschwert hat. Vielmehr geht es in einem Kommentar, den das ZDF auf Facebook beantwortet hat und über den wohl deshalb nun rnd.de berichtet, um die Frage, warum Kinder überhaupt "mit diesem Mist", also dem Krieg in der Ukraine, "behelligt werden" müssten. Ja nun.
Die Antwort der "logo!"-Redaktion enthält allerdings Wissen, das man auch hier festhalten kann:
"33 Jahre 'logo!'-Erfahrung zeigen, dass kindgerechte Informationen emotional sicherer machen. Ängstliches Verschweigen von Ereignissen spüren Kinder und reagieren mit Unsicherheit. Je mehr Kinder über ihre Umwelt erfahren, desto besser können sie einordnen, was sie im Alltag hören und sehen."
Dazu ein kleiner Exkurs, der an das (hier schon mal verlinkte) Dossier zu "Medienkompetenz" unserer MDR-Redaktion Medien360G anschließt: Die erste "logo!"-Sendung lief im Januar 1989. Das war in einer Zeit, in der nach der Einführung des Privatfernsehensüber die angemessenen Medienzugänge für Kinder diskutiert wurde. "Bewahrpädagogik" nannte man es, wenn man Kinder lieber vor problematischen oder vermeintlich problematischen Inhalten bewahren wollte, als ihnen Medien zu erklären.
Was heute Medienkompetenz heißt, kann man, etwas vereinfacht, als Gegentrend zu dieser bewahrpädagogischen Position verstehen. Dieter Baacke hat den Begriff in den Neunzigerjahren in die medienpädagogische Praxis getragen. Gemeint war in seinem Sinn nicht nur Kompetenz zur Mediennutzung, sondern auch Wissen über Medien und, ganz zentral, Kompetenz zur Medienkritik: Kompetenz, Medien kritisch-reflexiv zu gebrauchen und zu verstehen.
Patriotische Berichterstattung in der Ukraine
Wie wichtig diese Kompetenzen sind, sieht man heute (sofern man es nicht schon wusste). Erstens kommt niemand, auch kaum ein Kind, in unserer Medienwelt dem Krieg völlig aus. Bewahrmedienpädagogik is over. Und zweitens ist journalistische Präsenz an den sichtbarsten Stellen – also in der Primetime – schon deshalb von Bedeutung, weil der Krieg eben auch ein "Krieg auf den Smartphones" ist, wie die "Süddeutsche Zeitung" es heute in ihrem Politikteil nennt (online zunächst unter einem anderen Titel):
"Twitter, Telegram, Facebook, Tiktok, Instagram sind mittlerweile wichtige Waffen im Krieg. … (D)er Raum, den dieser neue Putinsche Krieg in den Kanälen einnimmt, hat eine neue Dimension, für die Menschen vor Ort ebenso wie für die Menschen, die zuschauen."
In der Berichterstattung über die Heroisierung des ukrainischen Präsidenten ging es schon vor drei Wochen, also nur wenige Tage nach Kriegsbeginn, um den Einsatz von Social Media durch Selenskyj, der "die große Klaviatur des Einsatzes von Sozialen Medien auf der globalen Ebene" beherrsche, wie es Christian Stöcker nannte. Gerade weil der Krieg aber ein medial geführter Krieg ist, braucht es mediale Räume, in denen aufgeräumt wird. Und Räume, in denen diese Räume aufgeräumt werden.
Nun ist das deutsche Fernsehen, das von Binnenkonkurrenz geprägt ist, die eine Sache. Das Fernsehen in der angegriffenen Ukraine eine andere. Dass dort die Fernsehsender per Dekret zusammengelegt werden sollen, wohl damit keine Informationen verbreitet werden, die nicht dem Interesse der Ukraine im Krieg dienen, wurde hier gestern schon kurz erwähnt.
Mittlerweile gibt es Einordnungen und Hintergründe dazu, etwa im "Tagesspiegel", der das Ganze eine "problematische Entscheidung" nennt. Ausführlich aber vor allem bei "@mediasres" und, als Text, bei deutschlandfunk.de, wo…
…zum einen Gwendolyn Sasse zitiert wird, wissenschaftliche Direktorin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien, die die Entscheidung, einen "geeinten Informationsraum durch die zentrale Kontrolle von Fernsehsendern zu schaffen", aus der Kriegslogik heraus erklärt: "Diese Entscheidungen lassen sich derzeit nicht an den allgemeinen Grundsätzen einer Demokratie messen.”
…und zum anderen die Kommunikationswissenschaftlerin Anna Litvinenko von der Freien Universität Berlin:
"Das Dekret sei zwar keine 'demokratische Geste' (…). Kritik von außen sei deswegen gerechtfertigt, weil die Demokratie dadurch bedroht werde. Allerdings herrsche vor Ort wegen des russischen Angriffskriegs 'auch keine normative Öffentlichkeit mehr, sondern ein Informationskrieg'."
Mit ihr lässt sich dann auch der Bogen zu den deutschen – oder westlichen – Medien schlagen:
"Gerade in dieser Situation haben westliche Medien eine enorm große Rolle, weil sie in diesem Informationskrieg diejenigen sind, die noch eine ausgewogene Berichterstattung gewährleisten können".
Ein mögliches Beispiel für russische Desinformation
Der Faktencheck bietet sich als eine Möglichkeit an, mit, sagen wir, Unausgewogenheit aufzuräumen. Oder mit Ausgedachtheit. Ein Beispiel ist eine Story, die am Wochenende viral ging und über die die "taz" und die "FAZ" heute aufklären:
"'(E)in Mob ukrainischer Flüchtlinge' habe in Euskirchen im Rheinland einen 16-jährigen Russlanddeutschen namens Daniel zu Tode geprügelt. Verbreitet wurde sie unter anderem auf dem Telegram-Kanal 'Neues aus Russland' der Aktivistin Alina Lipp mit inzwischen mehr als 100.000 Abonnent:innen",
schreibt in der "taz" Matthias Meisner und zitiert die Polizei in NRW mit der Einschätzung, es handle "sich um ein vorsätzlich angefertigtes 'Fake-Video'", weil ihr "keinerlei Informationen über einen solchen gewalttätigen Übergriff oder gar über einen Todesfall" vorlägen. Das Ganze "passt schon auf den ersten Blick in das Muster russischer Desinformation", so Reiner Burger in der "FAZ".
Einerseits ist es gut, zu sehen, dass Russlands seit vielen Jahren laufende Versuche, "westliche Demokratien mit gezielten Falschmeldungen zu destabilisieren, Ressentiments und Verunsicherung zu schüren" ("FAZ"), nicht gefruchtet haben und nun, im Krieg, in Deutschland – zumindest weitgehend – durchschaut sind. Christoph Koopmann in der oben schon verlinkten "SZ":
"Obwohl auch Russland um die Reichweite sozialer Netzwerke weiß, hat die russische Kriegspropaganda den Diskurs im Westen nie bestimmen können. Dem haben Politik und Medien vorgebaut, indem sie früh über die Märchen aufklärten, mit denen Putin den Angriff auf die Ukraine zu rechtfertigen versucht. Eine Impfung gegen Falschinformationen quasi."
Andererseits ist Russlands Kriegspropaganda Zielgruppenpropaganda: "In Russland selbst dagegen kommt die Moskauer Version der Geschehnisse gut an."
Man sollte sich keine Illusionen machen: "Außerhalb Russlands (…) liegt bei dem Versuch, die Sichtweise der Öffentlichkeit zu formen, klar die Ukraine vorn", schreibt Koopmann. "Nicht nur, weil ukrainische Darstellungen nach aktuellem Wissensstand der Wahrheit näherkommen. Sondern auch, weil Menschen zum 'kognitiven Schnellschuss' neigen, dem sogenannten Bestätigungsfehler, wie Neurowissenschaftlerin [Maren] Urner erklärt: 'Wir glauben eher, was unserem Weltbild entspricht.' Das dürfte auch den Erfolg der russischen Propaganda in Russland erklären."
Altpapierkorb (Russland verbietet Meta-Dienste, Tucker Carlon, "junge Welt", "Ab ins Beet")
+++ Dass in Russland nun Facebook und Instagram (wohl aber nicht WhatsApp, das ebenfalls zum Meta-Konzern gehört, der laut russischem Gericht "extremistisch" sei) verboten sind, melden etwa der Bayerische Rundfunk und der "Tagesspiegel".
+++ Die Putin-Nähe und Rolle von Fox-News-Moderator Tucker Carlson in den USA, "ein Geschenk für die Propaganda des Kreml", analysiert Nina Rehfeld auf der "FAZ"-Medienseite.
+++ Die linke Tageszeitung "junge Welt" darf im Verfassungsschutzbericht des Bundesinnenministeriums genannt werden, entschied das Verwaltungsgericht Berlin im Eilverfahren (u.a. spiegel.de).
+++ Mal was Erbauliches: Nils Minkmar bespricht in der "SZ" die Vox-Dokusoap "Ab ins Beet".
Neues Altpapier erscheint am Mittwoch.
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