Das Altpapier am 11. März 2022 Unheimliche Heldenverehrung
Hauptinhalt
11. März 2022, 11:45 Uhr
Journalistinnen und Journalisten ziehen eine Zwischenbilanz nach zwei Jahren Corona. Fans der Neuen Deutschen Härte stehen auf Wolodymyr Selenskyj. Thomas Bellut hört auf. Spotify wird zehn. Ein Altpapier von René Martens.
Mehr als nur eine Ausnahmesituation
Am heutigen Freitag jährt sich zum zweiten Mal der Tag, an dem die WHO die Ausbreitung des Coronavirus als Pandemie einstufte. Insofern liegt es nahe, in diesen Tagen auch eine Bilanz des Journalismus in dieser Zeit zu ziehen. "Übermedien" (€) hat es getan. "Wer hat hier versagt? Wie Medienleute auf zwei Jahre Corona-Journalismus zurückblicken" lautet die Überschrift. Acht Fragen hat das "Übermedien"-Team gestellt, neun Journalistinnen und Journalisten haben sich beteiligt. Wer angefragt wurde, aber nicht antworten wollte, steht im Vorspann des Beitrags.
"An welchen Stellen finden Sie die Berichterstattung über die Pandemie und deren Bekämpfung kritikwürdig?",
lautet eine der acht Fragen. Momentan spricht ja leider viel dafür, diese Frage in die Vergangenheitsform zu setzen, weil sich die Bundesregierung am Mittwoch von der Pandemiebekämpfung verabschiedet zu haben scheint und ein am 18. März vom Bundestag zu verabschiedendes "Durchseuchungsbeschleunigungsgesetz" (um es mit der "Tagesspiegel"-Meinungsressortleiterin Karin Christmann zu sagen) auf den Weg gebracht hat. Über die Bekämpfung der Pandemie wird man künftig nur noch schlecht berichten können angesichts dessen, dass sie gar nicht mehr nennenswert bekämpft wird.
"Die Impfstoffe wirken, zumindest im Großen und Ganzen, und es sind noch Intensivbetten frei. Mit mehr möchten die meisten Menschen nach mehr als zwei Jahren nicht länger behelligt werden. Unschöne Feinheiten wie Long Covid interessieren fast nur die, die selbst betroffen sind."
So beschreibt Karin Christmann die Stimmung in ihrem aktuellen Kommentar. Da stellt sich natürlich die Frage, welchen Anteil die Medien daran haben, dass sich diese partielle Ignoranz durchgesetzt hat. Zumal Long Covid ja nicht die einzige "unschöne Feinheit" ist.
taz-Redakteur Malte Kreutzfeldt - der bei Twitter darauf hinweist, dass sich der neue Beschluss der Bundesregierung weder mit der aktuellen Empfehlung des Expertenrats noch den Verkündungen nach der letzten MPK in Einklang bringen lässt - sagt im Rahmen der "Übermedien"-Umfrage:
"Aus meiner Sicht hatten Journalist*innen bei der Berichterstattung über die Pandemie eine größere Verantwortung als bei anderen Themen – denn was man beispielsweise über Masken, Ansteckungswege oder Impfungen geschrieben hat, konnte unmittelbare Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen haben."
Das gilt ja immer ja noch, es stellt sich jetzt aber die Frage, ob jene, die sich der Verantwortung am stärksten bewusst sind, noch die Energie haben, auf eine Politik hinzuwirken, die zur Pandemiebekämpfung zurückkehrt. Falls Journalismus grundsätzlich überhaupt einen derartigen Einfluss nehmen kann.
Eine andere Frage wirft aus meiner Sicht auf, was bei der "Übermedien"-Umfrage rbb-Chefredakteur David Biesinger sagt:
"Ich habe 2020 auch nicht gedacht, dass uns diese Pandemie so lange in Atem halten würde. Redaktionen auf einen Marathon einzustimmen, sie von vielen anderen Aufgaben zu entlasten, das wäre damals wichtig gewesen, wenn wir auch nur geahnt hätten, dass mehr als zwei Jahre Ausnahmezustand auf uns zukommen. Denn die Arbeitsbelastung für alle ist seit Februar 2020 immens."
Die Frage wäre, wie man jetzt umgeht mit diesem Ausnahmezustand, dessen Ende immer noch nicht abzusehen ist - angesichts dessen, dass mit Russlands Krieg gegen die Ukraine ein ganz anderer, derzeit alles dominierender Ausnahmezustand hinzu gekommen ist. Um es möglicherweise unangebracht flapsig zu formulieren: Kann der Journalismus Krieg und Pandemie gleichzeitig?
Vermutlich nicht. Am Donnerstag kam in der 20-Uhr-Ausgabe der "Tagesschau" nicht nur Corona nicht vor (trotz des gestrigen Rekordhochs bei den gemeldeten Neuinfektionen). Es gab in dieser Sendung ausschließlich Beiträge mit Bezug zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. So wird die Welt auf problematische Weise verengt. Eine ähnliche Kritik kann man an die Politmagazine des Ersten und des ZDF richten. Sämtliche Beiträge in den seit der Invasion ausgestrahlten Sendungen ("Monitor" in der vergangenen Woche, "Report Mainz" und "Frontal" an diesem Dienstag und "Kontraste" gestern) hatten einen Kriegsbezug, waren in diesem Sinne monothematische Ausgaben. Womit überhaupt nichts gesagt sein soll gegen die Qualität einzelner Beiträge.
Revival der alten Geschlechterrollen?
Was völlig anderes hat im Kontext der Kriegsberichterstattung Sabine Rennefanz ("Spiegel") auszusetzen. Ihr ist die dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj entgegen gebrachte Heldenverehrung unheimlich. Ihre Kolumne ist auch eine Auseinandersetzung mit im "Spiegel" performten Sichtweisen:
"Tobias Rapp schwärmte (…) von der Sicherheit, mit der Selenskyj in den vergangenen Tagen die richtigen Worte getroffen habe. Von der 'Eleganz' und 'Angstfreiheit', mit der er sich durch das umkämpfte Kiew bewege. Er lobte 'die Modernität von Selenskyjs Männerbild'. Elegant? Angstfrei? Es klingt, als ginge es um den neuen James Bond, der gegen den Bösewicht kämpft."
Rennefanz fragt:
"Was ist an Selenskyjs Männerbild modern? Sein Auftreten ist ungewöhnlich, stark, selbstbewusst, vielleicht sogar bewundernswert. Aber modern? Die Werte, für die er steht, wirken auf mich eher archaisch: Ehre, Kampfbereitschaft, Stärke, Nationalismus. Als die Nato die Einrichtung einer Flugverbotszone Anfang der Woche erneut ablehnte, um russische Angriffe abzuwehren, machte Selenskyj seiner Wut Luft und warf dem Westen Schwäche vor: 'Menschen werden Ihretwegen sterben, wegen Ihrer Schwäche.' Ich würde mir nicht anmaßen, das zu verurteilen, ich sehe einen Mann, der verzweifelt um Hilfe ruft. Aber ich wäre eben auch vorsichtig, das aus der Ferne zum Heldentum zu stilisieren oder gar zur 'modernen Männlichkeit'. Dadurch wird die Not von Selenskyj romantisiert und verkitscht."
Nicht zuletzt:
"Und war Gewalt nicht noch eben etwas, was als toxische Männlichkeit verurteilt wurde? Der Krieg scheint auch in dem Teil, den man Westen nennt, eher die alten Geschlechterrollen zu reaktivieren."
Dass "Menschen in Kriegszeiten Helden brauchen", findet dagegen Imre Grimm/RND.
Revival der "Mainzer Tage der Fernsehkritik"?
Am Donnerstag verabschiedete das ZDF, unter anderem mit bundespräsidialer Begleitmusik, Thomas Bellut, den - wie Claudia Tieschky heute in der SZ (€) schreibt - "mächtigsten Intendanten, den das ZDF je hatte" und der "in seinem neuerdings so viel Verrücktheit umarmenden Sender immer ein wenig wie ein Erwachsener" wirkte, "der sich freut, wenn die Kinder ihren Spaß haben".
Was lässt sich Negatives über Bellut sagen? "Nicht ganz so gelungen waren Belluts Programmpolitik und Aussagen zur Klimawissenschaft", meint der "Tagesspiegel" (was sich vor allem hierauf bezieht). Michael Hanfeld zieht in der FAZ (€) aus aktuellem Anlass ein ambivalentes Fazit:
"Um die Pressefreiheit in Deutschland, um das ZDF hat sich Thomas Bellut ohne Zweifel verdient gemacht. In einer anderen Zeit hätte man das ungetrübt gewürdigt. An diesem Tag des Abschieds, an dem der Gefeierte selbstkritisch noch sagte, man habe die Sorgen der Kollegen aus Osteuropa nicht ernst genug genommen, nicht."
Unter den Äußerungen rund um Belluts Abschied für Medienjournalistinnen und Medienjournalisten vielleicht am interessantesten: Was er selbst im Interview mit dem KNA-Mediendienst (leider nicht verlinkbar) sagt, als das Stichwort "Mainzer Tage der Fernsehkritik" fällt. Das war eine jährliche Veranstaltung zu den großen jahresaktuellen Fragen des Fernsehenmachens - mit Titeln, die heute noch reizvoll ("Die entfernte Wirklichkeit – Journalistisch-dokumentarische Programme im Fernsehen") oder auch etwas antiquiert klingen ("WeibsBilder und TeleVisionen – Frauen und Fernsehen"). 2011 wurde nach mehr als 40 Jahren die Einstellung der Veranstaltungsreihe verkündet. Bellut sagt jetzt:
"Die Mainzer Tage der Fernsehkritik waren, als wir sie eingestellt haben, nicht mehr so gefragt. Aber ich gebe gerne zu, das ist uns nicht leichtgefallen. Und wenn ich jetzt auf die Medienlandschaft blicke, fände ich es gut, darüber nachzudenken, so etwas Ähnliches wieder auf die Beine zu stellen. Am besten in Berlin, und vielleicht mit der ARD zusammen."
Das verkündet sich natürlich leicht, wenn man gerade in den Ruhestand geht. Wie auch immer: Mögen die sich hier Mitlesenden in den Sendern, die so etwas auf die Beine zu stellen in der Lage sind, durch Belluts Worte animiert fühlen, zur Tat schreiten.
Das neue Hören
Spotify war hier zuletzt Thema wegen der Neil-Young-gegen-Joe-Rogan-Sache. Tobi Müller konzentriert sich in einem anlässlich den zehnten Geburtstages von Spotify bei Zeit Online erschienenen Artikel auf andere Aspekte. Müller meint:
"Wir hören heute anders Musik. Das ist der größere Einschnitt in unser Leben und historisch bemerkenswerter als jene Ungerechtigkeiten im Musikgeschäft, die es schon immer gab und die niemanden mehr überraschen dürften."
Was mich betrifft: Das Spektrum der Musik, die ich höre, ist dank Spotify noch größer als ohnehin, ich bin aber auch schneller übersättigt von bestimmten (Sub-)Genres - weshalb dann auch schnell etwas neu oder unbekannt Wirkendes her muss.
Generell stellt Müller fest:
"Drei große Folgen ergeben sich aus (der) Dominanz (von Spotify) in den letzten zehn Jahren, ein historischer Wandel, wie ihn Pop in so kurzer Zeit noch nie erlebt hat."
Einer davon ist "der Plattformknast":
"Man kann zwar Musik lokal auf Geräten speichern und im Offlinemodus hören, aber die Songs verbleiben dennoch im App-eigenen Player von Spotify. Außerhalb dieser Software ist keine Wiedergabe möglich. Das ist etwa so, als hätte man früher den Plattenladen nicht verlassen können, in dem man Musik gekauft hat. Oder als wäre eine Kassette von Philips einzig auf einem Philips-Kassettenrekorder abspielbar gewesen. Dieser strenge Kopierschutz sorgt dafür, dass die Nutzerinnen und Nutzer von Spotify unentwegt Datenspuren an das Unternehmen liefern. Das Verhältnis zum Laden, der gleichzeitig den Player zur Verfügung stellt, ist kontinuierlich. Nie zuvor in der Musikgeschichte hat es eine derart harte Kundenbindung gegeben."
Was das Angebot des Streamingdienstes "so teuflisch gut macht" (was natürlich eine ambivalente Charakterisierung ist), ist auch Thema des Textes.
"Warum sollte das Feature 'Dein Mix der Woche' besser 'Dein Fix der Woche' heißen?",
fragt Müller unter anderem. Einen, wenn man denn so will, Suchtfaktor erzeugt bei mir eher der freitags erscheinende "Release Radar", bei dem die Algorithmen auf Basis der persönlichen Vorlieben eine Playlist mit Veröffentlichungen der aktuellen Woche erstellen. Was die Algorithmen nicht können: zwischen neuen Songs und aktuell wiederveröffentlichten unterscheiden. Ich hätte ja gern zwei entsprechend differenzierte "Radare", aber das ist vermutlich ein eher nerdiger Wunsch.
Altpapierkorb (der erste TikTok-Krieg, Framing in der Wirtschaftsberichterstattung, Fretterode-Prozess)
+++ Warum der "Guardian" und der "New Yorker” "sicherlich nicht falsch liegen" wenn sie "vom ersten TikTok-Krieg" schreiben - unter anderem darum geht es in Samira El Ouassils "Übermedien"-Kolumne. Eine ihrer Beobachtungen: "Der Ton vieler Kriegsvideos insbesondere auf TikTok ist – so würde ich das verallgemeinernd zusammenfassen – ein internettypisch existenziell-komischer; es handelt sich um eine milde Selbstironie in Anbetracht des Horror eines Krieges. Man könnte es auch als einen sardonischen Humor bezeichnen. Zwischen all den Nachrichten und Postings, von den Reden des kampfesmutigen Präsidenten Selenskyj bis hin zur Familie, die im Bunker ausharrt, ist bei all dem Leid eine spezifische Farbe der Botschaften zu erkennen, diese antiautoritäre, tragikomische Aufgeräumtheit, mit welcher die autokratische Ideologie Putins zumindest auf symbolischer Ebene ausgehebelt wird."
+++ Unter dem Titel "Framing in der Wirtschaftsberichterstattung. Der EU-Italien-Streit 2018 und die Verhandlungen über Corona-Hilfen 2020 im Vergleich" ist am Donnerstag eine neue Studie der Otto-Brenner-Stiftung erschienen.
+++ Inwiefern die Verteidiger der beiden Neonazis, die wegen eines Angriffs auf zwei Journalisten in Fretterode vor Gericht stehen, während des Verfahrens gestern und kurz zuvor "Bauchlandungen" erlebten - darüber gibt ein ND-Beitrag Aufschluss. Der gestrige Donnerstag war der 21. Tag des Prozesses.
Neues Altpapier gibt es wieder am Montag. Schönes Wochenende!
Not Found
The requested URL /api/v1/talk/includes/html/4b9185e0-22ea-48d3-8f22-6b5cef395811 was not found on this server.