Teasergrafik Altpapier vom 8. März 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
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Das Altpapier am 8. März 2022 Pandoras Büchse

08. März 2022, 10:28 Uhr

Machen Netzsperren das Internet besser oder wenigstens jugendfreier? Aus Russland verschwindet außer ausländischen Journalisten auch der unabhängige Journalismus. Und der Bertelsmann-Chef will lieber mit ProSiebenSat.1 fusionieren als den ARD-Nachrichtenkanal kritisieren. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Medienwächter gegen Porno-Portale

Zu den Kriegen, die manchmal genannt werden, wenn es darum geht, welche in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg vor dem jetzt laufenden Angriffskrieg bereits stattfanden, gehört der Zypernkonflikt. Seit den mittleren 1970ern ist die Mittelmeerinsel in zwei Staaten geteilt. Die türkisch geprägte "Republik Nordzypern" wird international kaum anerkannt. Die griechisch geprägte "Republik Zypern" dagegen ist Mitgliedsstaat der EU, genießt als solcher allerdings keinen uneingeschränkt glänzenden Ruf – weil sie ihre und damit eine EU-Staatsbürgerschaft an hinreichend reiche Oligarchen verkauft. Und weil sie als Sitz von Porno-Portalen fungiert, die nach der in der EU gültigen medien- und digitalrechtlichen Gemengelage, also nach Herkunftslandprinzip, in der ganzen Union tätig sein dürfen und sich dabei allein an zypriotische Gesetze halten müssen.

Das war den deutschen Landesmedienanstalten und ihrer Kommission für Jugendmedienschutz Anlass für ein konzertiertes "Vorgehen ... gegen ausländische Porno-Portale" im Sommer 2020, dessen vorläufigen Abschluss sie vor Kurzem (mit allerhand Medienecho) verkündeten:

"Daher müssen nun als erstes die fünf größten deutschen Internetanbieterinnen den Abruf der Seite 'de.xhamster.com' blockieren".

"Das bedeutet, die Medienaufsicht hat den Providern offiziell mitgeteilt: sperrt xHamster.com für eure Kund:innen",

paraphrasiert netzpolitik.org und zeigt sich nicht überzeugt vom nachhaltigen Erfolg der Aktion.

Der Blog hat von der Deutschen Telekom, Vodafone und weiteren "Internetanbieterinnen" gehört, dass diese sich vorbehalten, diese Entscheidung unter Bezug "auf die gesetzlichen Regelungen der Netzneutralität von einem unabhängigen Gericht juristisch prüfen zu lassen".  Ein generelles Problem liege in den "äußerst hohen", kaum praktikablen Anforderungen der deutschen Medienwächter an Alterskontrolle. Überdies seien die womöglich bald gesperrten Seiten unter ziemlich ähnlichen Adressen ja weiter erreichbar. Wohingegen die Medienwächter auf einer neu eingerichten FAQ-Seite betonen, dass genau das "gerade für jüngere Kinder ... sehr schwer" sei. Eine Übersicht über politische Meinungen zum jugendschutz- und medienrechtlich, föderal wie aus EU-Perspektive schwierigen Thema enthält der netzpolitik.org-Artikel auch noch:

"Bereits im Dezember haben sich die netzpolitischen Sprecher von SPD und Grünen ... kritisch zu Netzsperren für Pornoseiten geäußert. Maik Außendorf (Grüne) verglich sie mit der 'Büchse der Pandora', Jens Zimmermann (SPD) warnte vor 'erheblichen Kollateralschäden'. Dennoch unterstützten beide Bundestagsabgeordnete den Einsatz von Netzsperren für den Jugendschutz."

Falls sie jemals wirklich fest verschlossen war, inzwischen dürfte Pandoras Büchse ohnehin offen stehen ...

Journalismus- und Journalisten-Exodus in Russland

Zumindest dürfte das – ebenfalls gerade im Wettstreit zwischen komplex föderalistischem deutschem Medienrecht und übergestülptem EU-Recht vollzogene – Abschalten staatlich-russischer Propagandamedien (zuletzt am Freitag hier Thema) büchsenöffnend wirken. So wie es dem Porno-Portal der Hammy Media Ltd. künftig gehen soll, so lässt sich de.rt.com ohne Umwege nicht mehr aufrufen.

Daran gibt es weiter allerhand Kritik. Einen "gefährlichen Präzedenzfall für weitere Eingriffe in die Medienfreiheit" sieht Brüssel-Korrespondent Eric Bonse (lostineu.eu). Der Leipziger Medienwissenschaftler Christian Hoffmann kritisierte im kress.de-Interview den hiesigen Journalismus dafür, dass er zu "empfänglich für Geschichten, die irgendwie andeuten, dass Desinformation in den sozialen Medien höchst gefährlich sei", sei. Wobei er den "normativen" Aspekt, der der Gegenseite in die Hände spielt, noch problematischer findet:

"Das Regime in Russland kann Maßnahmen des Westens propagandistisch ausschlachten. Wir beobachten im Moment, wie die ohnehin eingeschränkte Medienfreiheit in Russland vollständig abgeschafft wird. Die russische Bevölkerung ist aber auf westliche Medien angewiesen, um die Wahrheit über die Ereignisse in der Ukraine zu erfahren. Es ist daher in unserem Interesse, dass russische Bürger Zugang zu westlichen Medien haben. Zur Zeit wird sogar ernsthaft darüber diskutiert, die Russen vom Zugang zu westlichen Social-Media-Plattformen auszuschließen. Das wäre völlig kontraproduktiv. Umgekehrt muss es nicht schädlich sein, wenn westliche Bürger einen Blick auf die russischen Propagandamedien werfen können. Sie sehen dann, wie der Krieg in Russland verkauft wird."

Tatsächlich vollzieht sich gerade ein Exodus so gut wie aller nicht regimetreuer Journalisten, ausländischer (AP gestern) wie einheimischer, aus Russland. Ein aus Sicherheitsgründen namentlich nicht genanntes Mitglied des oppositionellen Onlinemediums "Mediazona" berichtet dem "FAZ"-Feuilleton (€) aus dem armenischen Eriwan/Jerewan:

"Sowohl die Blockade unserer Website als auch die Sanktionen des Westens treffen uns empfindlich. Denn wir leben von Spenden, die uns unsere Unterstützer über unsere Internetseite zuwenden können mittels verschiedener Finanzdienstleister. Nun haben Visa und Mastercard ihre Dienste in Russland ausgesetzt, damit werden wir etwa zwei Drittel unserer Einkünfte verlieren. – vielleicht auch alles ... Hinzu kommt, dass viele Leser Angst haben, uns über eine von den russischen Behören blockierte Website zu unterstützen, nachdem das Gesetz in Kraft getreten ist, das die Verbreitung angeblicher 'Falschnachrichten' über die Situation in der Ukraine unter harte Strafen gestellt hat. Inzwischen haben uns schon zahlreiche Kündigungen von Abonnenten erreicht."

Die Reporter ohne Grenzen melden (mit zahlreichen weiteren Links), dass "rund 150 unabhängige" russische Journalisten bereits das Land verließen, und zwar "ins Ungewisse", wie der "Mediazona"-Anonymus sagt, da die Ausreisemöglichkeiten eng begrenzt sind. Andere reisen nicht aus, sondern verstummen, wie das halb noch vor der vorläufigen Selbst-Einstellung der "Nowaja Gaseta" geführte, dann abgebrochene Interview der "SZ"-Medienseite (€) mit Friedensnobelpreisträger Dmitrij Muratow spiegelt.

"Wir müssen davon ausgehen, dass die Tage für unabhängige Medien in Russland im Grunde gezählt sind. Es ist eine Frage der Zeit. Man muss eben dazu sagen: Diese Medien erreichen keine kritische Masse. Auch wenn sie jetzt mehr LeserInnen haben, ist das immer noch eine Minderheit ...",

sagt Tamina Kutscher, Chefredakteurin der deutschen Plattform für russische Medien, dekoder.org, im "taz"-Interview. Welche Medieninhalte in Russland Mehrheiten erreichen, benennt in einem weiteren der zahlreichen Interviews heute ("Russland wird wie Nazideutschland", versteckt im "FAZ"-Wirtschaftsressort/ €)  der inzwischen offenbar im Exil lebenden Ex-Nachrichtenchef von yandex.ru:

"Die Startseite von Yandex erreicht 30 Millionen Russen am Tag. Da stehen fünf Überschriften zu den wichtigsten Themen. Ich habe kürzlich festgestellt, dass dort nicht darüber informiert wird, was in der Ukraine passiert ...."

Nochmal zurück zu dekoder.org: Dieses gleich zweimal Grimme Online Award-ausgezeichnete Portal ist ohnehin immer lesenswert und in der gegenwärtigen Lage umso mehr. Nur zum Beispiel machte es Ende vergangener Woche noch zwei "Einschätzungen, die unterschiedlicher kaum sein könnten", obwohl beide zur russischen Opposition gehören, auf deutsch zugänglich. Es handelt sich um Übersetzungen von Facebook-Posts, wie sie inzwischen kaum mehr möglich sein dürften. Der Wirtschaftswissenschaftler Andrej Nekrassow schrieb:

"Ich sehe völlig unbegründete Euphorie und Siegesgewissheit. Angesichts der taktischen Fehler der russischen Armee, des gescheiterten Blitzkriegs und der westlichen Sanktionen ist die Öffentlichkeit, die sich mit der Ukraine solidarisiert (ob im Westen, in der russischen Opposition oder in der Ukraine selbst), in Illusionen versunken und hat sich fast noch mehr von der Realität abgekoppelt als Putin selbst."

Verfrühte Siegesgewissheit im Informationskrieg? Wobei, wie gesagt, eine ausgesprochen andere Einschätzung (des Historikers Andrej Subow: "... es wird sehr sehr bald eine Palastrevolution geben") unter demselben Link ebenfalls zu finden ist.

Übrigens: "Zur wichtigsten Social-Media-Plattform ist vor allem für junge Russen Telegram geworden, wo gesperrte Medien ihre Inhalte weiter verbreiten können", meldet der "Tagesspiegel" via dpa und dann auch, dass Telegram-Gründer Pawel Durow sich nun sehr deutlich gegen das Putin-Regime positioniert.

Womit das hierzulande beliebte Narrativ, Durows Haupt-Anliegen bestehe darin, in Dubai dem deutschen NetzDG zu entgehen, sich erledigt haben dürfte.

Springers TV, Funkes Partner, Bertelsmanns Fusionsidee

Interviews zum Krieg gibt es an allen Ecken und Enden z.B. von der "NZZ" mit Wolfgang Ischinger. Die letzte Frage gilt dem gestern hier erwähnten wunderlichen Mathias-Döpfner-Kommentar "Die Nato muss JETZT handeln". Viereinhalb Zeilen lang ist Interviewer Marc Felix Serraos Frage. "Da fehlen mir die Worte", lautet Ischingers Antwort.

Lesenswert jedenfalls, wie immer man zum Konzern steht, ist ein Interview mit einem weiter unten in der Springer-Hierarchie stehenden Haudegen. Bei dwdl.de wird "Bild"-TV-Chefredakteur Claus Strunz befragt. Sein demütiges "Wir haben schon im Januar knapp an der 0,2 gekratzt ..." dürfte alle Springer-Gegner erfreuen. Vermeintliches ("Wir sind im Grunde kein Fernsehsender, wir sind ein Nah-Seh-Sender") und aktuell tatsächliches Licht ("Paul Ronzheimer ist ein Reporter-Genie, der Peter Scholl-Latour des Digitalzeitalters") stellt Strunz aber auch nicht unter den Scheffel.

Die Funke-Verlagsgruppe, die Springer einst allerhand Regionalzeitungen und die "Hörzu" abkaufte, scheint auf dem Weg zu sein, sich gegen den Konzern zu positionieren und aus dem Zeitungsverlegerverband, den trotz allem Springer-Chef Döpfner leitet, auszutreten. Auch das war gestern hier Thema. Von den Funkes gibt es eine spektakuläre Neuigkeit: In Thüringen, wo die Verlagsgruppe im Zeitungsgeschäft stark vertreten ist (und es gedruckten Zeitungen besonders schlecht geht), hat sie einen neuen Partner, und zwar für die "Ostthüringer Zeitung" aus Gera die Signa Medien GmbH aus Innsbruck. Das entnahm der "Standard" einer Zusammenschlussanmeldung der (österreichischen) Wettbewerbsbehörde. Diese Signa gehört dem in Deutschland vor allem als "Kaufhauskönig" bekannten René Benko, als Geschäftsführer des Medienzweigs fungiert mit Christoph Keese eine einstige Springer-Spitzenkraft.

Wenn wir bei den Medienkonzernen sind: Zur Bekanntgabe der neuen Rekord-Geschäftszahlen gab Bertelsmann-Chef Thomas Rabe der "FAS" ein ganzseitiges Interview (€). Darin geht's, natürlich, auch um Nachrichtenjournalismus. Rabe freut sich, dass das aufgemotzte "RTL Direkt" inzwischen "häufig über den Quoten der öffentlich-rechtlichen Konkurrenz" liege, erwähnt auch den RTL-eigenen Nachrichtensender n-tv  und sagt eher wolkig:

"Es ist schon zu überlegen, wie weit der öffentlich-rechtliche Auftrag geht und wo die Grenzen sind. Die öffentlich-rechtlichen Sender bekommen über 8 Milliarden Euro Gebühren, während der gesamte TV-Werbemarkt, aus dem wir uns überwiegend finanzieren, nur etwas mehr als 4 Milliarden Euro groß ist."

Doch die Interviewer verpassen es irgendwie, Rabe zu fragen, wie er den ARD-Plan, Tagesschau 24 in einen Rund-um-die-Uhr-Nachrichtenkanal umzuwandeln, findet. Rabe selbst hat offenkundig kein Interesse, dieses Thema jetzt zu setzen, sondern appelliert lieber an die deutschen Kartellbehörden, eine künftige Fusion von RTL mit ProSieben Sat.1 gutzuheißen. So etwas, einen privatwirtschaftliche "Medienchampion aufzubauen, der im Wettbewerb mit den amerikanischen Plattformen besteht", steht mit Bertelsmann-Minderheitsbeteiligung in Frankreich und den Niederlanden bevor. Und wenn dort, müsse es in Deutschland auch erlaubt werden, argumentiert Rabe. Womit er sozusagen fordert, auch in Kartellfragen das häufig überholte, kaum noch geeignete deutsche Medienrecht durch EU-Recht zu ersetzen.


Altpapierkorb (Helme für die Pressefreiheit, Badawi eingekerkert, "Wer beherrscht die Medien?", Reichelt für "Cicero", "Live-Kriegskanal" Tiktok)

+++ Die Reporter ohne Grenzen haben in Lwiw/Lemberg ein "Zentrum für Pressefreiheit" eröffnet, das aus der Ukraine berichtenden Journalisten sowohl "finanzielle oder psychologische Unterstützung" als auch "schusssichere Westen und Helme" bietet. +++ Sie schauen aber auch in eine völlig andere Richtung und erinnern daran, dass Saudi-Arabien, dieser wichtige Partner des Westens, den Journalisten Raif Badawi weiter hinter Gittern hält, selbst nachdem er seine zehnjährige Haftstrafe (wegen "Beleidigung des Islams") verbüßt hat.

+++ Zwar gibt es die äußert nützliche Rangliste der größten Medienkonzerne ja auf mediadb.eu im Internet. Doch nun ist sie, im von Lutz Hachmeister u.a. herausgegebenen Halem-Buch "Wer beherrscht die Medien?" auch wieder komplett überarbeitet gedruckt erschienen. Weshalb das "Handelsblatt" die aktuelle Rangliste (vgl. AP-Jahresrückblick) kommentiert.

+++ Im oben verlinkten Interview fragt dwdl.de "Haben Sie denn die Sorge, dass jemand anderes einen auf Fox News getrimmten Sender starten könnte?". "Ich weiß nicht, an wen Sie da denken. (schmunzelt)", antwortet Claus Strunz. Einstweilen griff Julian Reichelt für "Cicero" in die Tasten: "Der Kreml und seine Geheimdienste haben die öffentliche Meinung hierzulande seit Jahren im Sinne russischer Interessen unterwandert", schreibt er, und: "In deutschen Talkshows zum Thema Russland, meist von Gebühren finanziert, durften bis vor kurzem routinemäßig die schlimmsten Kreml-Apologeten auftreten, um 'die russische Sicht' vor der legitimierenden Kulisse von Lanz, Will und Illner zu verbreiten".

+++ "Selbstdarsteller, die sich eben noch dabei filmten, wie sie Hanteln im Fitnessstudio stemmten oder sich Filler in die Lippen spritzen ließen, tragen jetzt Uniform, laden Gewehre, filmen Bombeneinschläge, Militärkonvois, brennende Häuser und verängstigte Menschen, die in Bunkern Zuflucht suchen": Auf der prallvollen "FAZ"-Medienseite untersucht Melanie Mühl, wie Tiktok sich zum "(Live)-Kriegskanal" entwickelt und durch RT-Chefredakteurin Margarita Simonyan auch russische Propaganda Fahrt aufgenommen hat. +++ Eher wenig Überzeugskraft entfaltet Michael Martens' Wutrede (Print-Überschrift: "Putin-Propaganda in Österreichs 'Standard'") über dieses "Standard"-Interview.

+++ "Die russische Propaganda redet praktisch nicht über die Zukunft - vielleicht, weil sie sich diese selbst nicht mehr vorstellt", schreibt Irina Chevtaeva im aktuellen "epd medien"-"Tagebuch".

+++ Und dass die einst von vielen gelobte ARD-Krimiserie "Mord mit Aussicht" mit neuer Besetzung nun aber wirklich ins "Genre der putzigen Schmunzelkrimis" gehört, schreibt die "Süddeutsche".

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

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