Das Altpapier am 7. März 2022 Der Wald vor lauter Bäumen
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07. März 2022, 09:57 Uhr
Es wird zunehmend komplizierter, über den Krieg zu berichten. An starken Meinungen in Versalien fehlt es nicht – aber an Orientierung schon. Viele, die gestern noch aus Moskau berichteten, können es nun nicht mehr tun. Dafür schickt die ARD wohl in dieser Woche weitere Leute in die Ukraine. Ein Altpapier von Klaus Raab.
Die Berichterstattung aus Russland…
Wo beginnen, wenn man den Wald vor lauter Bäumen kaum noch sieht? Wie anfangen, nachdem man den Krieg auf vielen Kanälen verfolgt, zu viele Tweets mit zu vielen Hot Takes, Texte über zu viele Orientierung gebende Podcasts und Interviews über ausufernden Nachrichtenkonsum gelesen hat? Am besten wohl mit einer augenfälligen Entwicklung: Es wird zunehmend schwieriger, über den Krieg in der Ukraine zu berichten.
Nicht dass es je einfach gewesen wäre, aber seit dem Wochenende ist es noch weniger einfach. "Vor dem Hintergrund der offenen Zensur und der Kriminalisierung unabhängiger Berichterstattung bleibe den Kolleginnen und Kollegen westlicher Medien in Moskau keine andere Wahl", als die Berichterstattung auszusetzen, wurde Christian Mihr von Reporter ohne Grenzen am Wochenende zitiert.
Hintergrund ist die Gesetzesänderung, die am Freitag in Russland verabschiedet wurde. Damit kann die Verbreitung angeblicher Falschinformationen über die russischen Streitkräfte mit Geldstrafen und bis zu 15 Jahre Haft bestraft werden. Das hat Folgen auch für Journalistinnen und Journalisten, die für nicht-russische Medien aus Russland berichten: Berichterstattung wird zum Hochrisikospiel, wenn man nicht einmal den Krieg einen Krieg nennen darf, wenn man sich nur noch auf die staatliche Propaganda stützen darf. "Wenn das journalistische Grundprinzip, stets mehr als nur eine Quelle zu nutzen, kriminalisiert wird, ist Berichterstattung nicht mehr möglich", schreibt Julian Hans bei "Zeit Online".
Viele westliche Medienhäuser haben daher angekündigt, vorläufig nicht mehr aus Moskau zu berichten. Dazu gehören die ARD und das ZDF, der Deutschlandfunk, dessen Korrespondent nun, wie es heißt, von Warschau aus über den Krieg in der Ukraine berichten soll, die BBC, CNN, CBS oder Bloomberg. Einen besonderen Weg geht die Washington Post, die angekündigt hat, nicht mehr die Namen von Autorinnen und Autoren nennen, die ihre Artikel in Russland schreiben. Sie hat sogar "Autorenzeilen aus dem Onlinearchiv" gelöscht, "um ihre Kolleginnen in Russland zu schützen", so Julian Hans bei zeit.de. Angesichts der Tatsache, dass auch einheimische russische Medien Artikel löschen, Social-Media-Nutzer ihre Profile löschen und russische Reporterinnen und Reporter reihenweise ausgeflogen sind, hält er, angelehnt an eine Formulierung der Otto-Brenner-Stiftung, fest: "Ein ganzes Land verblasst."
…und aus der Ukraine
Geht Kriegs- und Krisenberichterstattung auch ohne Leute vor Ort, ohne Auslandskorrespondentinnen und -korrespondenten? Julian Hans schreibt:
"In den meisten Fällen sind sie nicht direkt vor Ort, sondern werten von der Hauptstadt aus einheimische Medien aus, schreiben E-Mails oder telefonieren mit Expertinnen und Quellen – alles Tätigkeiten, die man streng genommen auch von jedem beliebigen Punkt der Erde aus erledigen könnte. Dennoch geht das Gefühl für den Alltag verloren, das nötig ist, um Ereignisse einzuordnen."
Hans nennt noch weitere Gründe, aber dieser eine würde auch schon genügen. Natürlich braucht es Korrespondenten, weil Russlandberichterstattung aus, sagen wir, Hannover ziemlich viel Hannover und ziemlich wenig Russland zeigt. "Zeit"-Reporter Henning Sußebach wies am Samstag bei Twitter darauf hin, dass es "uns Journalisten" gelingen müsse, "Augen und Ohren nicht nur für das eine, aktuell dominierende Thema zu haben, weil sich dadurch zu viele tote Winkel in unserer Wahrnehmung ergeben". Es brauche "wieder mehr Korrespondentenstellen im Ausland".
Das ist eine mittel- und langfristige Perspektive. Kurzfristig geht es an anderer Stelle um die Frage, ob die ARD zu wenige Leute in der Ukraine vor Ort habe oder gehabt habe (Altpapier vom Dienstag), nachdem sie sie aus "nicht näher erläuterten Sicherheitsgründen" (so das Medienmagazin "Medieninsider") abgezogen hatte. Silke Mertins von der taz, zitiert bei Übermedien, sieht einerseits nichts Ehrenrühriges darin, Verantwortung für die Korrespondenten und deren Wohlergehen zu übernehmen, findet aber, man könne "zurecht fragen, ob die ARD übervorsichtig ist".
In dieser Woche nun jedenfalls wolle die ARD ihre "Präsenz im Land verstärken", berichtet Übermedien unter Berufung auf eine Mail: "Ab Anfang kommender Woche sollen mindestens zwei ARD-Korrespondent:innen mit ihren Teams aus der Ukraine berichten."
Das schrieb am Sonntagabend auch Joachim Huber bei tagesspiegel.de, der beim zuständigen Westdeutschen Rundfunk nachgefragt hatte. Huber beschäftigt sich aber auch mit Bild-TV, dessen Berichterstattung mit mehreren Reporterinnen und Reportern aus der Ukraine er einerseits löblich findet:
"Der Zuschauer bekommt mehr als nur eine Ahnung davon, was für ein tiefer Einschnitt Krieg, Putins Krieg für die betroffenen Menschen bedeutet. Ohne Lebensgefahr geht das nicht ab. Wieder und wieder unterbrechen [Reporter Paul] Ronzheimer und seine Kollegen ihre Berichterstattung, um Deckung zu suchen."
Deren emotionalisierende Aufbereitung für die Ausstrahlung er aber andererseits kritisiert: "Bilder werden zu 'unfassbaren Bildern', Zusammenfassungen mit dramatisch-düsterer Musik unterlegt." Hubers Kritik richtet sich aber weniger auf die Arbeit von Bild-TV als auf Springer-Chef Mathias Döpfner, "der in einem martialischen 'Bild'-Kommentar den Nato-Einsatz in der Ukraine fordert".
Starke Meinungen in großen Buchstaben
Dieser Döpfner-Kommentar ist nicht nur Joachim Huber schräg reingefahren. Die Nato-Mitglieder müssen "JETZT handeln", heißt es darin. "Sie müssen JETZT ihre Truppen und Waffen dahin bewegen, wo unsere Werte und unsere Zukunft NOCH verteidigt werden. Zur Not ohne Nato." In einem "Spiegel"-Newsletter heißt es dazu lapidar: "Das Brainstorming ist eröffnet, jeder darf mal sagen, was ihm so einfällt."
Das Ergebnis solcher Immer-raus-damit-Prozesse sind starke Meinungen ohne Ende, die gerne mal durch Versalien und Ausrufezeichen als besonders gültig verkauft werden. Harald Staun kritisiert das auf der Medienseite der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" (€): "Menschen, die eben noch kluge Texte schrieben" – womit nicht Döpfner gemeint sein muss – hätten "ihre Vernunft der Entschiedenheit geopfert". Er schreibt: "Die Zweifel, ohne die jede Welterklärung nur Prätention ist, kommen mir selbst manchmal wie ein Reflex aus einer vergangenen Zeit vor, die man kaum noch denken kann, ohne zu relativieren." Dabei gebe es so viele Zweifel, ob "an der militärischen und rhetorischen Aufrüstung" oder "an der Heldenverehrung im Allgemeinen". Staun konstatiert eine "neue Orientierungslosigkeit":
"Abends, wenn ich den Fernseher einschalte, ist die Präsentation des Nichtwissens besonders schlimm, neue Orientierungslosigkeit im Korsett altbewährter TV-Didaktik. (…) In den Nachrichten noch einmal die Zusammenfassung all der Bilder und Nachrichten, die ich von Twitter kenne, nur noch verkürzter und ohne Möglichkeit, draufzuklicken, weiterzulesen, mehr zu lernen. Und dann, in den Talkshows, schon wieder überall Experten, die einfach weiterreden, wo doch die ganze Idee der Expertise in sich zusammengebrochen ist."
Die wichtige Rolle der Kindernachrichten
Wie erklärt man Kindern, was geschieht? Aus der zunehmenden Mediatisierung der Lebenswelt von Kindern ziehen Fachleute schon seit Langem den Schluss, dass "Bewahrpädagogik" – also der Versuch, Kinder vor der Welt der Medien zu bewahren – nicht unbedingt der richtige Weg ist. "logo!", den Kindernachrichten des öffentlich-rechtlichen KiKa (der wie die Redaktion MEDIEN360G, bei der diese Kolumne erscheint, im Landesfunkhaus des MDR in Erfurt sitzt), kommt in Krisenzeiten daher eine große Verantwortung zu. Meine Altpapier-Kollegin Jenni Zylka hat für den Freitag dazu "logo"-Moderator Tim Schreder interviewt, der sagt:
"Seit Wladimir Putin das Thema Atomwaffen auf den Tisch gebracht hat, steht dieses Wort im Raum und löst ja bei Menschen aller Altersstufen Angst aus. Erwachsene können das relativieren, Kinder jedoch nicht unbedingt. Darum würden wir solche theoretischen Worst-Case-Szenarien im Zweifelsfall erst mal weglassen und lieber bei dem bleiben, was ist, was im Augenblick tatsächlich passiert. Diese Diskussionen darum, was wir erzählen dürfen und wollen, führen wir aber gerade jeden Tag, die Grenzen sind nicht scharf zu ziehen, und wir müssen jeden Tag neu abwägen."
Wie schwierig diese Abwägung ist, sah man in einer "logo!"-Sendung vom Samstagabend. Darin wurde erklärt, was Atomwaffen sind (ab Minute 5), bevor dann der an sich sehr kindgerecht formulierende SPD-Außenpolitiker Michael Roth befragt wurde. In einem Filmbeitrag hieß es erst:
"Atomwaffen gehören zu den gefährlichsten Waffen der Welt. (…) Weil sie so gefährlich sind, können Länder sie nicht einfach so einsetzen. Bisher wurden Atomwaffen nur zweimal eingesetzt, im Zweiten Weltkrieg. Das war vor mehr als 75 Jahren, und seitdem nie wieder." Nun allerdings drohe Putin indirekt damit, schwenkt die Moderatorin zum Gespräch mit Michael Roth über. Er leitete seine Antwort mit dem Satz ein: "Atomwaffen sind die schlimmsten Waffen, die man sich überhaupt vorstellen kann, und Russland hat 6255 solcher Atomwaffen." Er glaube, dass Russlands Präsident Wladimir Putin nur mit ihnen drohe, um uns Angst zu machen. Aber er sei sich "ziemlich sicher", dass er "nicht zu diesem schlimmsten Mittel greifen" werde.
Ich fürchte, dass nicht bei allen Kindern die gesamte Antwort Eindruck gemacht hat, sondern nur der erste Teil. Einige Achtjährige könnten aus der Sendung etwas anderes mitgenommen haben als manche Zwölfjährige – nämlich ein Worst-Case-Szenario, das sie tatsächlich nicht einordnen können.
"Wenn wir merken, dass das Thema Kinder bewegt, dann kommen wir nicht mehr drum herum", sagt "logo!"-Moderator Tim Schreder im Interview und erklärt damit, warum die Redaktion sich entschieden habe, nach Abwägung aller Argumente Atomwaffen zu erklären. An sich finde ich das richtig. Kinder haben ein Recht auf altersgemäße Zugänge zum Weltgeschehen. Allerdings sagt Schreder zuvor auch: "Die Zielgruppe ist (…) ziemlich heterogen – die Achtjährigen sind meist noch wenig auf dem Smartphone unterwegs, die Zwölfjährigen dagegen häufig, die wissen schon viel mehr."
Vielleicht wäre es eine Überlegung wert, in der Mediathek unterschiedliche Ausgaben für jüngere und ältere Kinder anzubieten. Ob das praktikabel wäre, ist sicher eine andere Frage.
Altpapierkorb (medienpolitische Kehrtwende in London, RT DE muss Strafe zahlen, Funke will BDZV verlassen, Münster-"Tatort")
+++ Auf einem Nebenschauplatz des Weltgeschehens könnte die BBC gerade die Kurve kriegen: Das Vorhaben der britischen Regierung, "die BBC zu verschlanken bis ertränken" (zuletzt etwa in diesem Altpapier vom Januar), liegt unter Umständen erstmal auf Eis. Die "Süddeutsche Zeitung" berichtet, in diesen Tagen sei die BBC von der konservativen Ministerin, die ihr eben noch ans Leder wollte, in einer Rede für ihre Kriegsberichterstattung geradezu umarmt worden. Vor allem, schreibt Alexander Menden, habe die Rede eine "medienpolitische Kehrwende" dargestellt: "Die Ministerin hatte die meisten britischen Sender, besonders aber die BBC, wegen ihrer kritischen Berichterstattung über das Verhalten des Premierministers Boris Johnson während der Corona-Pandemie als publizistischen Feind ausgemacht, den es zu bekämpfen galt."
+++ Um das Verbot des Putin-Senders RT durch die Europäische Union ging es an dieser Stelle ausführlich am Freitag. "Zusätzlich muss RT jetzt in Deutschland eine Strafe zahlen, weil der Sender in den vergangenen Monaten sein Programm ohne Sendelizenz verbreitet hat. Dies teilte die zuständige Medienanstalt Berlin-Brandenburg (MABB) am Samstag mit", schreibt etwa welt.de.
+++ Neues aus Verlegerland: Die Funke-Mediengruppe, die dem Vernehmen nach kürzlich Mathias Döpfner "unterschwellig" aufgefordert hat, als Präsident des Bundesverbands der Digitalpublisher:innen und Zeitungsverleger:innen (BDZV) zurückzutreten (Altpapier), hat nun angekündigt, den Verband selbst zum Jahresende zu verlassen. Das berichtet die FAZ.
+++ Dietrich Leder hat für die KNA die erste Woche der Kriegsberichterstattung im deutschen und internationalen Fernsehen verfolgt. BBC World News und CNN International "hatten ihre Reporter wohl rechtzeitig auf einen Kriegsausbruch vorbereitet, denn spätestens ab Freitag berichteten diese beispielsweise aus Kiew live und trugen bei den Schaltungen Schutzwesten mit der Aufschrift 'Press' und Helme", schreibt er. "Ihren Berichten konnte man in den nächsten Tagen noch die genauesten Informationen über den Frontverlauf und den ukrainischen Abwehrkampf entnehmen." Wer möchte, wird die subtile Kritik an ARD und ZDF gewiss bemerken.
+++ Und dann gab es noch allerhand Rezensionen des Münsteraner "Tatorts", der sich "den immer wirreren Verschwörungstheorien" widmete (Berliner Zeitung). 1 von 10 Punkten vergibt Christian Buß bei spiegel.de für diese "große Weltverschwörungsblödelei" mit Jan Josef Liefers. Der ehemalige Altpapier-Kollege Matthias Dell sieht bei zeit.de aber auch Gutes.
Neues Altpapier erscheint am Dienstag.
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