Teasergrafik Altpapier vom 4. März 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Ralf Heimann
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Das Altpapier am 4. März 2022 Desinformation frisst ihre Eltern

04. März 2022, 13:10 Uhr

Das Liveprogramm des Putin-Senders RT ist in Deutschland nicht mehr zu empfangen. Stellt die Europäische Union sich damit selbst ein Bein? Und: Wird Putin zum Verhängnis, dass er die eigenen Lügen glaubt? Ein Altpapier von Ralf Heimann.

Staatssender: Wie schädlich ist das Verbot?

Auf Twitter sind die Konten der russischen Staatssender RT und Sputnik seit gestern nicht mehr zu finden (Altpapier). Das gilt für Inhalte auf Englisch, Deutsch, Spanisch sowie Französisch. Und wie die Nachrichtenagentur AFP meldet, hier zu lesen bei n-tv, geht Twitter in Frankreich noch etwas weiter. Dort bekommen ehemalige Beschäftigte von RT France noch einen Vermerk ins Konto geschrieben. Der französische Journalistenverband SNJ nannte das laut AFP "Brandmarken" und sprach von einer "Hexenjagd". Mehreren Redaktionsmitgliedern sei bereits Gewalt angedroht worden.

In Deutschland ist nach dem Verbot durch die Europäischen Union auch der Livestream des Putin-Senders RT nicht mehr abrufbar. Wer die Seite aufruft, findet einen roten Balken mit dem Hinweis: "Es tut uns sehr leid. Unser Livestream ist in der EU nicht verfügbar." Darunter sieht man den schwarzen Videoplayer mit der Fehlermeldung: "Error loading media: File could not be played." Und damit sind wir wieder bei der Frage, ob eine freie Gesellschaft auch einen russischen Staatssender nicht aushalten sollte (Altpapier).

Deniz Yücel, Präsident des deutschen PEN-Zentrums, ist genau dieser Meinung. In einem Beitrag für die Welt schreibt er:

"Wer 'Russia Today' und 'Sputnik' verbietet, wird künftig ein Glaubwürdigkeitsproblem bekommen, die Unterdrückung der Presse- und Meinungsfreiheit in, zum Beispiel, Russland zu kritisieren. Dass die Strafmaßnahme die Verbreitungswege (Kabel, Satellit oder Internet) betreffen und die Mitarbeiter nicht an ihrer Tätigkeit gehindert werden sollen, ist zwar ein erheblicher Unterschied zum Alltag in Ländern wie Russland, wird in der öffentlichen Diskussion aber untergehen."

Auch im Inland führe das Verbot zu einem Problem. Yücel:

"Warum sollte man es mündigen Bürgerinnen und Bürgern in Gouvernantenmanier vorenthalten, die russische Sicht der Dinge in Originalquellen zu lesen und zu hören? Spricht daraus nicht ein verheerendes Misstrauen gegen Verstand und Herz der eigenen Bevölkerung? Und selbst wenn so manche auf die russische Propaganda hereinfallen, besteht die Stärke liberaler Gesellschaften nicht genau darin, auch – pardon my French – allerlei Scheißdreck aushalten zu können?"

Aber wie könnte eine bessere Lösung aussehen? Deniz Yücel hielte es für sinnvoller,

"Putins Propagandaorgane so zu behandeln wie extremistische inländische Medien auch: hinschauen, gerne genauer als sonst, einzelne Rechtsverstöße unter Ausschöpfung rechtsstaatlicher Mittel ahnden. Aber nicht verbieten".

Die Europäische Union hatte ihr Verbot damit begründet, dass die Sender zur Kriegspropaganda missbraucht würden. "Der Kreml hat Informationen zur Waffe gemacht", sagte Věra Jourová, Vizepräsidentin der EU-Kommission, wörtlich. Und nach dieser Lesart ist das Verbot einfach Teil eines Sanktionenkatalogs, der die Meinungsfreiheit ebensowenig in Frage stellt wie ein Handelsembargo gegen eine Kriegspartei die freie Wirtschaftsordnung berührt. In etwa so argumentiert Mark D. Cole, der wissenschaftliche Direktor des Instituts für Europäisches Medienrecht, wie Michael Borgers in einem Beitrag für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" erklärt. Nach Coles Auffassung geht es hier nicht um "Aktivitäten einzelner Sender, die man mit medienrechtlichen Mitteln unterbinden" wolle.

Allerdings begründen eben auch Autokraten und Diktatoren die Einschränkungen eher selten mit Medienrecht, sondern in der Regel mit einer wie auch immer gearteten Bedrohung. Der feine Unterschied dürfte ihnen relativ wumpe sein. Sie werden im Inland behaupten können, ihr Vorgehen entspreche absolut den Standards, die auch in der Europäischen Union gelten.

Der Journalistik-Professor Stephan Weichert hält den Schritt der Europäischen Union trotzdem für gerechtfertigt. Im Gespräch mit Sebastian Wellendorf für "@mediasres" sagt er, vor dem Krieg hätte er das wahrscheinlich "nicht so radikal" gesehen, aber inzwischen denke er, man könne schon so weit gehen, die Sender zu verbieten. Weichert:

"Das, was wir hier erleben, ist auch ein Informations- und Kommunikationskrieg. Da wird ausschließlich über Bilder, über Signale und Botschaften auch Krieg geführt. Eben nicht nur mit den Waffen, sondern auch mit sozialen Medien – und den klassischen Angeboten wie RT. Dass man hier auch diese Art der Berichterstattung unterbindet, ab nem bestimmten Punkt, halte ich tatsächlich für sinnvoll."

Dass Russland das Verbot nicht einfach so auf sich sitzen lassen würde, war zu erwarten. Als Deutschland Anfang Februar ankündigte RT aus dem Verkehr zu ziehen, entzog das russische Außenministerium den Journalistinnen und Journalisten der Deutschen Welle die Akkreditierung. Am Freitagmorgen meldet unter anderem die Tagesschau, dass Russland den Zugang zur Deutschen Welle und weiteren unabhängigen Medien einschränkt.

Desinformation: ein Bumerang?

Die Gefahr in einem Informationskrieg besteht darin, manipulierte oder gefälschte Informationen zu glauben, im Falle von Medien noch zusätzlich darin, sie weiterzuverbreiten. Stephan Weichert sagt in dem oben erwähnten Deutschlandfunk-Interview.

"Direkt über Kriegshandlungen zu berichten, ist immer hoch komplex. Man wird der Komplexität der jeweiligen Situation eigentlich nie gerecht werden können, weil man ja zwangsläufig immer auf einer Seite stehen kann und auch immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit beobachtet. Und da eine Einordnung zu liefern, ist einfach unglaublich schwierig, zumal aus der Ferne."

Das liegt also zum einen daran, dass Berichterstattende oft nur diesen schmalen Wirklichkeitsausschnitt sehen können, also schwer an unabhängige und verlässliche Informationen gelangen. Ein anderer Grund ist die Wahrnehmung der Berichterstattenden, denn auch sie sind Teil des Kriegsgefüges und anfällig für Parteilichkeit. Vor allem Boulevardmedien schrumpfen die komplexe Lage auf eine simple Heldengeschichte zusammen. Auf der einen Seite die aufrechten Guten, auf der anderen die lügenden Bösen. Und in diese Ordnung sortiert man schnell die Informationen ein. Auch hier liegt in der Berichterstattung eine Gefahr.

MDR-Programmchef Klaus Brinkbäumer sagt im Gespräch mit "MDR um 2", neben der Sorge um die Sicherheit der Journalistinnen und Journalisten sei die große Sorge die Frage: "Stimmt das, was wir berichten?" Brinkbäumer sagt:

"Es gibt in diesem Krieg eine Allgegenwärtigkeit von Videos von Fotos. Es ist ein wirklich auch über soziale Medien geführter Krieg. Aber woher stammen die Informationen? Von wann sind diese Bilder? Sind sie manipuliert worden? Ist etwas verändert worden? Also Verifikation ist ein (…) wirklich wesentliches Thema für uns."

Das Bemerkenswerte an dieser Situation scheint zu sein, dass Desinformation nur bis zu einem gewissen Grad kontrolliert wirkt, weil sie auf Dauer zu kognitiven Dissonanzen führen kann (sofern es nicht gelingt, dauerhaft den Kontakt zur Wirklichkeit zu vermeiden). Die Tatsache etwa, dass Russland die Begriffe "Angriff" oder "Krieg" vermeidet und in den Medien unterbindet, führt im ersten Schritt dazu, dass Menschen eine manipulierte Wirklichkeit erleben. Klaus Brinkbäumer sagt im Interview, das Wort "Krieg" sei tabuisiert. "Und wenn es keinen Krieg gibt, kann es keine Toten geben." In einem zweiten Schritt könnte es zu Zweifeln an dieser Version der vermeintlichen Wirklichkeit kommen, wenn sich herausstellt, dass viele Soldaten nicht zurückkehren werden. Dieser Effekt wird vermutlich nur dann zu einer Gefahr für das System, wenn die Inkongruenz zwischen Wirklichkeit und Informationslage zu groß gerät.

Der zweite Effekte entfaltet eine sehr viel größere Wirkung. Wenn der Absender von Desinformation beginnt, die eigenen Lügen zu glauben, bedeutet das: Entscheidungen fallen auf Grundlage einer Informationslage, die mit der Wirklichkeit nur noch geringe Schnittmengen hat.

In dem MDR-Gespräch sagt Klaus Brinkbäumer, Putin werde wahrgenommen als "wahnhaft", in dem Sinne, dass er "das eigene Narrativ zu glauben scheine". In Deutschland staune man über die Fehler, die Putin gemacht habe. Bei "MDR aktuell" sagt Brinkbäumer, in deutschen Sicherheitskreisen wundere man sich. Putin habe früher als "kalter Stratege" gegolten, jetzt habe er sich verrannt in den "eigenen Feindbildern und eigenen Narrativen, an die er inzwischen zu glauben scheine". Die deutsche Seite gehe davon aus, dass Putin weitermachen und er nicht sagen werde: "Ich habe einen Fehler gemacht."

Propaganda: Bringt sie Putin zu Fall?

Und das könnte ein Hinweis auf einen generellen Defekt dieses Systems sein. Sascha Lobo schreibt in seiner aktuellen Spiegel-Kolumne:

"Ein wichtiges Kennzeichen von autoritären Ideologien ist die Abwesenheit einer Fehlerkultur, was wiederum die Entstehung eines massiven Unterschieds zwischen eigener Wahrnehmung und Realität fördert."

Die Tatsache, dass die Desinformation eine unberechenbare Wirkung entfalten kann, setzt Lobo in Bezug zu dem Satz: Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder. Er schreibt:

"Propaganda neigt ebenso dazu, ihren Kindern zu schaden – aber Propaganda frisst ihre Kinder nicht, Propaganda vergiftet ihre Kinder. Auf viele verschiedene Arten."

Man könnte vielleicht sagen: Desinformation frisst ihre eigenen Eltern. Lobo beruft sich auf den bulgarischen Politologen Ivan Krastev, der davon überzeugt sei, dass der Kreml "Opfer seiner eigenen Propaganda" ist. Propaganda "funktioniert besser, wenn man selbst davon überzeugt scheint, aber dann löst man sich von der Realität ab und trifft folgenreiche Fehlentscheidungen".

Und Lobo zitiert Max Weber, der als "Basis für Rationalität legaler Herrschaft" vor allem drei Eigenschaften erkennt: "Sachlichkeit, Unpersönlichkeit und Berechenbarkeit".

Aktuelle Meldungen scheinen die Einschätzung von Brinkbäumer und Lobo zu stützen. Die Berliner Zeitung berichtete gestern über eine Telefongespräch zwischen Putin und Frankreichs Präsident Macron.

In dem Bericht heißt es, Putin habe die Kernaussagen von Macrons Ansprache an die Nation kritisiert. "So habe Macron gesagt, Russlands Begründung, in der Ukraine gegen Nationalsozialisten zu kämpfen, sei eine Lüge". Dies habe Putin "zurückgewiesen und dem französischen Präsidenten 'begründete Erklärungen zur bedeutenden Rolle der Neonazis in der Politik Kiews' geliefert", schreibt die Zeitung unter Berufung auf eine Mitteilung aus dem Kreml.

Der jüdische Ukraine-Präsident verurteilte unterdessen, dass bei einem Angriff auf einen Fernsehturm Bomben in der Nähe des Holocaustdenkmal Babyn Jar einschlugen.


Altpapierkorb (China und der Krieg, Big Tech und die Ukraine, Anonymous, xHamster, Drosten, Corint vs. Google)

+++ Stefan Rau bleibt wie erwartet Intendant des Deutschlandradios, berichtet unter anderem Alexander Krei für DWDL.

+++ Sebastian Wellendorf spricht im Interview für "@mediasres" mit dem China-Korrespondenten Benjamin Eyssel, der sagt, dass auch in der chinesischen Ukraine-Berichterstattung das Wort "Krieg" nicht vorkomme. Es werde inzwischen auch über Opfer berichtet, über Schäden, wirklich kritisch sei das aber nicht. Der Ton der Berichterstattung habe sich jedoch verändert. Er klinge nicht mehr so nationalistisch und hämisch wie zu Beginn des Krieges, möglicherweise auch aus Sorge um die Sicherheit der in der Ukraine lebenden Chinesen.

+++ Apple verkauft in Russland keine Handys und Computer mehr, die Propaganda-Kanäle gibt’s nur noch in Russland im Appstore. Facebook stuft das Angebot herunter, Netflix will die russischen Vorgaben nicht umsetzen. Marcus Schuler berichtet für "@mediasres" darüber – und darüber, wie Russland sich wehrt.

+++ Elon Musk hat die Ukraine mit seinem Starlink-Programm mit einer Internetverbindung versorgt (Altpapier). So eine Entscheidung trifft normalerweise eine Regierung. Simon Hurtz von Social-Media-Watchblog findet das "hochproblematisch", wie er im Gespräch mit Sebastian Wellendorf für @mediasres erklärt. Der Krieg verdeutliche, dass es über Jahre versäumt worden sei, eine Regulierung einzurichten, die solche Entscheidungen demokratisch legitimieren könne. Eine Verstaatlichung der Unternehmen hält er nicht für nötig, aber man müsse überlegen, ob man den Unternehmen bestimmte Entscheidungen aus der Hand nehmen könne.

+++ Der Hacker-Kollektiv Anonymous hat Russland den Krieg erklärt. Stefan Herwig erklärt auf der FAZ-Medienseite (€), warum das problematisch ist. Ein Grund ist: "Das Anonymous-Kollektiv ist ein weitverzweigtes dezentrales Netzwerk, ohne offizielle Führung, ohne Hierarchien und auch ohne Abgrenzungen. Jedermann kann unter dem Namen Anonymous teilnehmen. Das heißt aber auch, dass jeder sich als Bestandteil des Kollektivs ausgeben kann."

+++ Chris Licht wird neuer CNN-Chef. Er soll dem Sender einen neuen Kurs geben, berichtet die FAZ.

+++ Die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) der Landesmedienanstalten will die Pornoseite "xHamster" sperren, weil sie gegen den Jugendmedienschutz verstößt. Den langen Weg bis dahin beschreibt Michael Hanfeld Schritt für Schritt auf der FAZ-Medienseite (€). Möglicherweise kommt die Seite bald zurück. Hanfeld: "Einen Schönheitsfehler hat die nach zähem Ringen und Recherchieren erreichte Sperre allerdings. Sie richtet sich gegen die ‚Domain‘, also den Namen. Taufen die Hammy-Betreiber xHamster in xHase, xHirsch, xMeerschweinchen oder xIgel um, beginnt das Rennen von vorn."

+++ Ein Sportjournalist kritisiert die Erfurter Stadtverwaltung. Und die schlägt zurück, indem sie einen offenen Brief auf den Seiten der Stadt veröffentlicht. Darin wirft sie dem Journalisten vor, nicht sauber zu arbeiten. Michaela Reith berichtet für Übermedien.

+++ Der Virologe Christian Drosten wehrt sich juristisch gegen das Magazin Cicero und den Hamburger Professor Roland Wiesendanger (Altpapier), die ihm vorwerfen, er habe die Öffentlichkeit getäuscht, berichtet Georg Mascolo auf der SZ-Medienseite.

+++ Google hat der Verwertungsgesellschaft "Corint Media" ein Angebot gemacht, das dort allerdings nicht als Angebot ankam, sondern als "Schlag ins Gesicht", wie unter anderem das Branchenmagazin "Werben & Verkaufen" berichtet. Google bietet dem Zusammenschluss aus mehreren Verlagen 3,2 Millionen Euro für die Nutzung von Inhalten. Corint hatte etwas andere Vorstellungen. Sie hatten im Oktober von Google 420 Millionen gefordert. Und nein, da fehlt kein Komma.

Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!

Neues Altpapier gibt es am Montag.

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